Deutschland befindet sich im Krisenmodus. Wer würde das bestreiten? Seit 2020 mussten die Bürger Grundrechtseinschränkungen erleiden, höhere Energiepreise hinnehmen und zusehen, wie die horrende Inflation ihre Ersparnisse schmelzen ließ wie das Eis in der Sonne. Mitverantwortlich für diese Entwicklung ist die Politik. Sie hat nicht nur diese desolaten Verhältnisse geschaffen, sondern auch die Gesellschaft gespalten. So sieht es der Autor und frühere Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider. „Deutschland hat versagt“, schreibt er in seinem neuen Buch, dessen Titel den Zustand des Landes so lapidar wie treffend zum Ausdruck bringt. „Krise. Das Versagen einer Republik“ heißt das knapp 160-seitige Werk, in dem Schneider sowohl mit der Großen und als auch mit der Ampel-Koalition abrechnet. Von Eugen Zentner.
Das geschieht zunächst im Zeitraffer, in einer zusammenfassenden Schilderung der wichtigsten politischen Entscheidungen, Beschlüsse und Reformen. Schneider geht auf die finanziellen Hilfsprogramme und zwielichtigen Maskendeals ein, er kritisiert die Gaspreisbremse, bemängelt das Versagen bei der stärkeren Besteuerung hoher Einkommen und entlarvt das Handeln in Zeiten der multiplen Krisen als „Klientelpolitik“. Das Fazit ist so richtig wie allgemein bekannt: Auf der Strecke geblieben sind dabei „diejenigen mit der schlechtesten Lobby, die Armen“.
In seinem Buch inszeniert sich Schneider als deren Anwalt, beharrlich und mit stets erhobenem Zeigefinger. Wenn man darin einen roten Faden sucht, findet man ihn in dieser Selbstfigurierung. Ansonsten fasert der Inhalt nach und nach auseinander und mutet genauso heterogen an wie der Schreibstil. Dieser changiert zwischen Bürokratendeutsch und Slang, etwa dort, wo der Autor Aktionen oder Organisationen „abfeiert“. Mal schildert er die Entwicklungen aus der Außenperspektive, mal bringt er sich selbst ein, um als Ich-Erzähler zu berichten. Mal zeichnet er die politischen Ereignisse der letzten Jahre nach, mal stellt er die Arbeit von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden vor, um dann in die Vergangenheit zu blicken und sich abermals an der Agenda 2010 abzuarbeiten.
Hiebe gegen Sahra Wagenknecht
Schneider, das wird mit jeder Seite deutlicher, ist immer noch ein hartnäckiger Kritiker der Politik Gerhard Schröders. Wohl auch deswegen trat er 2016 der Linkspartei bei. Nur sechs Jahre später trat er aus ihr wieder aus. Den Grund dafür nennt er in seinem Buch: Der Schritt erfolgte „nach der aus meiner Sicht fürchterlichen Rede von Sahra Wagenknecht im Deutschen Bundestag zu Energiekrise und Ukrainekrieg“. Ein Dorn im Auge war ihm ihre angebliche „prorussische“ Haltung. „Einige Hundert Demonstrantinnen und Demonstranten, hauptsächlich aus der Aufstehen-Bewegung von Sahra Wagenknecht und diversen K-Gruppen“, schreibt Schneider an einer Stelle, „fanden sich vor der Berliner Parteizentrale der Grünen ein. Hier glaubten sie, die Hauptverantwortlichen für Energieknappheit und Preissteigerungen verorten zu können. Forderungen nach einer Preisdämpfungspolitik vermischten sich mit einer Fundmentalkritik an Baerbocks Unterstützung des Verteidigungskampfes der Ukraine und der Forderung nach Beendigung der Sanktionen gegen Russland.“
In dieser Passage zeigen sich die gravierenden Schwächen des Buches. Schneider scheint sich lediglich in den sogenannten Mainstreammedien zu informieren und wiederholt ständig deren Phrasen und Narrative. Allerdings war selbst dort bereits mehrfach zu lesen, dass die Sanktionen gegen Russland gerade Deutschland eher schaden als nützen. Dass der Abbruch der Beziehungen zu Moskau tatsächlich zu Energieknappheit und Preissteigerung führte, ist ebenfalls offensichtlich; so offensichtlich, dass es sehr viele Bürger im Land verstanden haben – auch die Armen, die Schneider in seinem Buch zu umgarnen versucht. Sie haben von den leeren Worthülsen und Parolen der Linkspartei genug. Nicht zufällig kehren sie ihr den Rücken und stellen sich auf die Seite Wagenknechts, deren Bündnis (BSW) immer höhere Zustimmungswerte verzeichnet.
Diesen Zusammenhang scheint Schneider nicht zu sehen. In seiner Verärgerung über „prorussische Positionen“ holt er wieder und wieder gegen Wagenknecht aus. Deren Ton sei ihm bereits vorher als „ätzend, diffamierend und diskreditierend“ bekannt gewesen, schreibt er etwa – „genauso wie ihre Täter-Opfer-Umkehr, wenn es um Putin ging“. An solchen Stellen offenbart sich das eindimensionale Denken des Autors, der gut daran täte, gelegentlich auch mal die alternativen Medien zu konsultieren, um zu erfahren, dass der Ukraine-Krieg ein bisschen komplexer ist, als ihn Tagesschau und Co. darstellen. Er würde vielleicht erfahren, dass der Konflikt eine längere Vorgeschichte hat, in der der Westen keine geringe Rolle spielt – mit Interventionen, gebrochenen Versprechen und einer aggressiven Geopolitik.
Mit Kampfbegriffen gegen Kritiker der Corona-Politik
Allein die personalisierende Reduktion des Konflikts auf „Putin“ spricht Bände. Zum anderen: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. In Sachen Diffamierung ist auch Schneider kein Unschuldslamm, wie so manche Passage seines Buches beweist. Unter anderem treten dort Kritiker der Corona-Politik auf. Der Autor bezeichnet sie jedoch als „Schwurbler“, „Allzeitwutbürger“, „Reichsbürger“ und „ultrarechte Sonderlinge“, die den bei der politischen Linken „beliebten Montag“ für Demonstrationen „besetzt“ hatten. Wäre Schneider an jenen Montagsspaziergängen vor Ort gewesen, anstatt bloß mit den Kampfbegriffen aus der Mainstreampresse zu hantieren, wäre ihm aufgefallen, dass sich dort der Querschnitt der Gesellschaft einfand – selbst politisch Linksorientierte und frühere Wähler der Linkspartei. Vielleicht hätte er dann verstanden, warum diese Menschen ihr den Rücken gekehrt haben, um in einer anderen Partei eine neue Heimat zu finden.
Trotz dieser eklatanten Schwächen enthält das Buch auch einige durchaus ergiebige Passagen – etwa solche, in denen Schneider berichtet, wie die politischen Mechanismen hinter dem Vorhang aussehen. „Aus SPD-Kreisen bekam man später hinter vorgehaltener Hand zu hören, man habe sich in den Verhandlungen im Mai und Juni ja durchaus nach Kräften eingesetzt“, schreibt er im Hinblick auf die staatliche Unterstützung während der Corona-Krise. „Wenigstens eine Einmalzahlung von 100 Euro habe man der Union abringen wollen, doch sei sie nicht verhandlungsbereit gewesen. Nach außen kommunizieren wollte man das in der SPD allerdings auch nicht. Man müsse vermeiden, als Verlierer dazustehen, hieß es.“
Personelle Verflechtung zwischen Politik und Verbänden
Nicht weniger interessant lesen sich Abschnitte zur personellen Verflechtung zwischen Politik, Organisationen und Verbänden: „Rund jeder zwanzigste Abgeordnete des Deutschen Bundestags kommt aktuell von den Kirchen, Gewerkschaften oder NGOs. Umgekehrt sitzen in den Vorständen von Gewerkschaften und Verbänden zahlreiche ehemalige und sogar aktive Parteifunktionäre und Mandatsträger.“ Solche Informationen lassen durchblicken, warum so viele NGOs, Gewerkschaften und Verbände stets auf Linie sind – unabhängig davon, um welche „Krise“ es sich gerade handelt.
Ähnliche Erkenntnisse ergeben sich im Hinblick auf die Politikgestaltung, wenn man die Zusammensetzung des Bundestags betrachtet. Dieser werde dominiert von „Angehörigen des öffentlichen Dienstes und von einem Heer von freiberuflichen Rechtsanwälten, Steuer- und Wirtschaftsberatern“, schreibt Schneider. Der Bundestag rekrutiere praktisch aus seinem eigenen Apparat.
Welche Folgen das für Politik und Gesellschaft hat, wird so erklärt: „Ein Wirtschaftsprüfer oder Staatsrechtler hat aufgrund seiner Ausbildung und seiner beruflichen Sozialisation erst einmal einen völlig anderen Blick auf soziale Nöte als etwa ein Sozialarbeiter, eine Pflegekraft oder eine Erzieherin, Berufe, die im Bundestag so gut wie keine Rolle spielen.“ Das ist gut auf den Punkt gebracht. Mehr von solchen Passagen wäre wünschenswert gewesen. So aber bleibt das Buch über weite Strecken leider recht fade.