Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat regelmäßig in Bezugnahme auf die Corona-Zeit behauptet, das Robert Koch-Institut (RKI) habe „unabhängig von politischer Weisung“ gearbeitet. Aus den ungeschwärzten RKI-Protokollen geht jedoch zum Beispiel hervor, dass das RKI im Frühjahr 2022 aufgrund der Datenlage eine Herabstufung der Risikobewertung für die Bevölkerung vornehmen wollte, das BMG diese Reduzierung aber ablehnte und zu verstehen gab, dass dies politisch nicht gewollt sei, da dies als zu starkes „Deeskalationssignal“ von der Bevölkerung wahrgenommen werden könnte. Die NachDenkSeiten und das ZDF-Hauptstadtstudio fragten vor diesem Hintergrund auf der Bundespressekonferenz nach. Der Ministeriumssprecher verstrickte sich bei seinem Erklärungsversuch in zahlreiche Widersprüche. Von Florian Warweg.
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 21. August 2024
Frage Spiekermann (ZDF-Hauptstadtstudio)
Ich habe eine Frage zu den Protokollen vom Robert Koch-Institut. Ich gehe in den Februar 2022 zurück. Es gibt offenbar einen Widerspruch zwischen der Einschätzung des Robert Koch-Instituts und dem Bundesgesundheitsminister, was die Risikoeinschätzung betrifft. Das RKI drängte darauf, die Risikoeinschätzung herunterzufahren, zu reduzieren. Meine Frage ist: Hatte der damalige Bundesgesundheitsminister Lauterbach andere Kriterien, die er mit einbezogen hat, um das Reduzieren abzulehnen?
Haberlandt (BMG)
Ich glaube, Sie nehmen damit auf die Berichterstattung der „BILD“-Zeitung Bezug, die gerade darüber berichtet hat. Ich kann sagen: Der Minister hat sich bereits in der vergangenen Woche in zwei Interviews dazu geäußert. Ich kann gerne vortragen, was er gesagt hat. Er hat gesagt:
„Die Wissenschaft liefert Fakten, die Bewertung findet dann im Austausch zwischen den Fachebenen von RKI und des Ministeriums statt. Die politische Verantwortung trägt am Ende immer das Bundesgesundheitsministerium. Die Einstufung basiert immer auf den vorhandenen Daten und den Einschätzungen der Experten des RKI und des Gesundheitsministeriums. Dann wird eine gemeinsame Entscheidung getroffen.“
Diesen Ausführungen habe ich an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.
Zusatzfrage Spiekermann
Es gibt auch den Vorwurf, dass die Risikoeinschätzung deshalb höher geblieben ist, um die Impfdebatte noch etwas am Laufen zu halten. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
Haberlandt (BMG)
Ich kann das gern zusammenfassen. Das sehen Sie auch in der Kleinen Anfrage eines Unionspolitikers, die wir beantwortet hatten. Dazu kann man sagen: Die Lage war im Februar 2022 noch immer kritisch. Damals sind noch immer Hunderte Menschen am Tag in Verbindung mit einer COVID-Erkrankung gestorben. Genau bei diesem Thema gab es eine enge Abstimmung zwischen dem RKI und dem BMG. Auf dieser Basis gab es dann eine gemeinsame Risikobewertung. Ich kann Ihnen gerne vortragen, was in der Kleinen Anfrage von uns stand. Darin haben wir geschrieben:
„Die Empfehlungen zur Einstufung der Risikobewertungen wurden zwischen dem Robert Koch-Institut (RKI) und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) auf Grundlage verschiedener Daten und Kriterien zur internationalen und nationalen epidemiologischen Situation sowie der Verfügbarkeit von Schutz- und Behandlungsmaßnahmen eng abgestimmt. Ende Februar 2022 konnten die Auswirkungen des hohen Infektionsdrucks durch die schneller übertragbare Omikron-Sublinie BA.2 auf das Gesundheitssystem sowie mögliche Langzeitfolgen wie Long Covid noch nicht abschließend beurteilt werden. Das Gesundheitssystem war zu diesem Zeitpunkt sehr stark ausgelastet, und es war von weiteren Einschränkungen auszugehen. Die Sieben-Tage-Inzidenz der COVID-19-Fälle und Hospitalisierungsrate stiegen bis Ende März 2022 an. Aufgrund der sehr dynamischen Entwicklung und der Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems entschied das BMG deshalb gemeinsam mit dem RKI, die Risikobewertung für die Gesundheit der Bevölkerung Ende Februar 2022 beizubehalten.“
Zusatzfrage Spiekermann
Das RKI und das BMG kamen dann gemeinsam zu der Entscheidung, das Risiko nicht herunterzufahren?
Haberlandt (BMG)
Das habe ich schon vorgetragen. Das hat der Minister auch gesagt. Wie gesagt: Die Einstufung basiert immer auf den vorhandenen Daten und den Einschätzungen der Experten des RKI und des Gesundheitsministeriums. Dann wird eine gemeinsame Entscheidung getroffen.
Frage Warweg
Auch noch zu der Thematik: politische Einflussnahme, ja oder nein? Aus den ungeschwärzten RKI-Protokollen geht ja schon hervor, dass in diesem fraglichen Zeitpunkt – Wenn ich ganz kurz zitieren darf: Die Reduzierung des Risikos von „sehr hoch“ auf „hoch“ wurde vom BMG abgelehnt. Im Hinblick auf das BMG sollte die Herabstufung aus strategischem Grund zunächst auf „hoch“ und nicht „moderat“ erfolgen. Eine Herabstufung wurde vorher möglicherweise als Deeskalationssignal interpretiert, daher politisch nicht gewünscht.
Das alles spricht schon dafür, dass es eine entsprechende politische Einflussnahme gab. Der Gesundheitsminister hat erst kürzlich wiederum betont, dass es die nicht gegeben hat. Ich glaube, am 25. März meinte er, das RKI hat unabhängig von politischer Weisung gearbeitet. Können Sie mir noch herausarbeiten, wieso die gerade zitierte Aussage von Lauterbach im März und die zuvor zitierten Vermerke im RKI-Protokoll für Sie kein Widerspruch sind?
Haberlandt (BMG)
Zunächst nehmen Sie in Ihrer Frage die Überschrift der „BILD“-Zeitung auf. Die entspricht nicht unserer Antwort in der Kleinen Anfrage. Sie reden von politischer Einflussnahme. Ich habe gerade bei der Frage von Frau Spiekermann dargestellt, wie es zu dieser Entscheidungsfindung kam. Ich habe die Antwort in der Kleinen Anfrage vorgetragen. Dem habe ich an dieser Stelle jetzt nichts hinzuzufügen.
Zusatzfrage Warweg
Was mich dann noch interessieren würde, ist: Sie argumentieren in der Kleinen Anfrage des CSU-Politikers, dass man sich gegen die Tendenz im RKI gewandt hat, das Risiko herunterzustufen, mit Verweis auf die Überlastung des Gesundheitssystems. Aber es liegt – das werden auch Sie wissen – eine Antwort, datiert auf Februar 2022, Ihres Ministeriums an Herrn Kubicki vor, in der steht: Eine deutschlandweite, regional gleichzeitige Überlastung trat nicht ein. – Mich würde interessieren: Wieso traf das Ministerium im Februar 2022 eine ganz andere Einschätzung zur Lage als jetzt, im Juli, August 2024?
Haberlandt (BMG)
Ich habe Ihnen alles vorgetragen. Ich kann gerne noch einmal sagen, was ich gerade schon vorgelesen habe: „Das Gesundheitssystem war zu diesem Zeitpunkt sehr stark ausgelastet …“. Das ist die Antwort aus der Kleinen Anfrage. Den Äußerungen, die ich jetzt getätigt habe, habe ich nichts hinzuzufügen.
Zusatzfrage Warweg
Aber meine Frage nahm Bezug auf die Antwort Ihres Ministeriums im Februar 2022 an Herrn Kubicki, die im eklatanten Widerspruch zu der Antwort steht, die Sie zweieinhalb Jahre später gegeben haben.
Haberlandt (BMG)
Wie gesagt: Ich habe alles zu diesem Thema gesagt.
Zusatz Warweg
Nein, haben Sie nicht.
Haberlandt (BMG)
Mehr ist dem nicht hinzuzufügen.
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