Die ukrainische Invasion russischen Staatsgebietes bei Kursk geht nun in die dritte Woche, und noch immer erschließt sich Beobachtern der strategische Sinn dieses Manövers nicht. Die ukrainische Erklärung, man wolle ein Faustpfand für künftige Verhandlungen erobern, ist realitätsfern. Eins hat Selenskyj mit seinem Hasardspiel jedoch geschafft – Hoffnungen auf einen baldigen Waffenstillstand sind nun endgültig passé. Der Ukraine droht ein harter Winter und eine humanitäre Katastrophe. Es ist wahrscheinlich, dass die Kursk-Offensive nicht aus militärischem, sondern aus diplomatischem Kalkül gestartet wurde. Die Ukraine will offenbar den mehr und mehr hadernden Westen immer tiefer in den Krieg hineinziehen. Von Jens Berger.
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Zu sagen, eine Verhandlungslösung sei derzeit in weiter Ferne, ist eine Untertreibung. Die Invasion russischen Staatsgebiets hat die ohnehin starren Positionen der Konfliktparteien nur noch weiter verhärtet. Die Ukraine beharrt immer noch auf ihrer Maximalforderung: Russland müsse sich militärisch aus dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine vor 2014 – also inklusive der Krim – zurückziehen, bevor man überhaupt bereit ist, an den Verhandlungstisch zu kommen. Das ist eine Bedingung, die nicht nur angesichts der momentanen militärischen Lage vollkommen absurd ist und de facto nichts anderes bedeutet, als dass die Ukraine nicht verhandeln will. Ob die USA, Großbritannien und Deutschland diese Maximalforderung hinter den Kulissen so mittragen, ist unbekannt. Das könnte sich aber spätestens nach den Präsidentschaftswahlen in den USA ohnehin mit einem Schlag ändern.
Doch auch Russland stellt Vorbedingungen für einen Waffenstillstand auf, die zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit der militärischen Lage in Einklang stehen. Die Ukraine solle sich zunächst aus den vier von Russland beanspruchten Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja zurückziehen und auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichten, bevor Russland nicht nur einem Waffenstillstand, sondern auch einem dauerhaften Friedensvertrag zustimme.
Bild: Irina Gutyryak/shutterstock.com
Vollständig erobert wurde von den russischen Truppen jedoch bislang nur der Oblast Luhansk, während sich das Kriegsgeschehen allen voran im Oblast Donezk konzentriert, in dem Russland nur mühsam und unter hohen Verlusten auf beiden Seiten vorankommt und wo es um jedes Dorf langwierige, blutige Schlachten gibt. Sicher, es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Russland die beanspruchten Gebiete militärisch kontrolliert – bis es so weit ist, könnten aber auf beiden Seiten noch zehn- oder gar hunderttausende Menschen sterben. Das sollte es eigentlich zu verhindern gelten.
Fest steht – Russland ist den als Bedingungen für einen Frieden definierten territorialen Forderungen wesentlich näher als die Ukraine und es gibt auch keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass sich daran etwas ändern könnte. So grausam es klingt – wenn es keinen Waffenstillstand gibt, wird einzig und allein der Blutzoll, den die Ukraine zu zahlen bereit ist, darüber entscheiden, wann die Vorbedingungen Russlands nicht am grünen Tisch, sondern auf dem Schlachtfeld erfüllt werden. Die schrille Rhetorik des Westens kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch eine fortgesetzte oder gar verstärkte militärische, logistische und finanzielle Unterstützung der Ukraine durch den Westen daran nichts ändern wird – es geht am Ende „nur“ darum, den Krieg noch weiter in die Länge zu ziehen und Russland möglichst nachhaltig zu schwächen. Die Ukraine ist dabei nur ein Bauer in einem Schachspiel – sie wird geopfert, um sich einen vermeintlich strategischen Vorteil in einem größeren Kontext zu verschaffen. Es ist bedauerlich, dass so wenige Ukrainer dies auch verstehen.
Selenskyj behauptet ja nun, dass die Invasion und Besatzung russischen Gebietes die russische Regierung dazu zwingen wird, an den Verhandlungstisch zu kommen. Warum sollte Russland das tun? Aus militärischer Perspektive kann den Russen eigentlich nichts Besseres passieren, als dass die Ukraine ihre ohnehin schon überdehnte Front noch weiter ausdehnt und zwanzigtausend – teils sehr gut ausgebildete – Soldaten von den umkämpften, strategisch wichtigen Gebieten im Donbass in die strategisch vollkommen irrelevante Grenzregion südlich von Kursk abzieht. Russlands Credo war stets, man spiele auf Zeit, und die Zeit spielt für Russland. Das gilt „nach Kursk“ mehr denn je.
Ist Selenskyj also ein Stümper? Nein, er ist vielmehr ein Hasardeur. Er weiß, dass die Zeit gegen ihn spielt. Die internationale Unterstützung bröckelt. In Deutschland packt man bereits die Universalwaffe „Schuldenbremse“ aus und in den USA ist der Krieg im fernen Südosteuropa unbeliebter denn je. Sollte Donald Trump die Wahl gewinnen, werden die USA ihre Unterstützung sicherlich massiv zurückfahren – das hatte er ja bereits mehrfach angekündigt, er will die Europäer für den Ukrainekrieg zahlen lassen. Auch in Deutschland wird 2025 gewählt und die ohnehin schwächelnde Ampel dürfte nicht gerade großes Interesse daran haben, zusätzlich zu den ohnehin schon horrenden eigenen Kriegskosten auch noch den Großteil der womöglich wegfallenden Unterstützungsleistungen aus den USA zu übernehmen.
Strategisch ist es also für Selenskyj wichtig, den Westen jetzt immer tiefer in den Krieg hineinzuziehen, sodass es immer schwerer wird, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf herauszuziehen. Die Invasion russischen Staatsgebietes ist eine weitere Rote Linie, die überschritten wurde. Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten Monaten weitere Ausweitungen des Krieges folgen werden – so wird in russischen Medien bereits darüber spekuliert, dass die Ukraine den Konflikt in Transnistrien eskalieren lässt. Für den Westen und allen voran für Deutschland kehrt sich damit jedoch der strategische Effekt um: Man wollte eigentlich Russland durch einen Stellvertreterkrieg in der Ukraine schwächen. Nun sieht es aber so aus, als schwäche sich der Westen durch diesen Stellvertreterkrieg selbst in einem höheren Maße, als er Russland schwächt. Man kennt diesen Effekt ja von den Sanktionen, mit denen vor allem Deutschland sich selbst ins Knie schoss.
Der Westen und insbesondere Deutschland steht also vor der „Selenskyj-Falle“ und nun rächt sich, dass man kommunikativ derart schrill die Ukraine zum Schlachtfeld für unsere westlichen Werte stilisiert hat und keinen Raum für eine Exit-Strategie gelassen hat. Eigentlich müsste man ja nun die Ukraine mit Drohungen an den Verhandlungstisch zwingen – doch damit würde man ja zugeben, dass das ganze Gerede der letzten zwei Jahre Unsinn war und „wir“ diesen Krieg von Anfang an verloren haben. Ehrlichkeit war noch nie sehr beliebt in der politischen Kommunikation. Das weiß auch Wolodymyr Selenskyj und sein Hasardspiel könnte Erfolg haben; wobei es schwerfällt, eine Verlängerung dieses sinnlosen Krieges, die mit Leid und Tod einhergeht, als „Erfolg“ zu bezeichnen.
Titelbild: Dmytro Larin/shutterstock.com