Mitte August traf ich in einem Moskauer Hotel am Ismailow-Park eine neunköpfige Reisegruppe, die in der russischen Hauptstadt Zwischenstation auf einer mehrwöchigen Reise per PKW durch das nördliche Russland machte. Von Ulrich Heyden.
Die Reisegruppe war eine bunte Mischung von Ost- und Westdeutschen. Auch eine Österreicherin war dabei. Alle trugen weiße T-Shirts, auf denen die russische und die deutsche Flagge in einem Herz vereint waren. Dieses Herz ist das Zeichen der „Druschba“-Reisen, einer Aktion, welche der Völkerverständigung und der Volksdiplomatie dienen soll. Die Initiative für diese selbstorganisierten Reisen kam 2016 von Dr. Rainer Rothfuß und Owe Schattauer.
Der Reiseleiter: „Zwei Reisewillige sind abgesprungen“
Im Gespräch mit der Reisegruppe hörte ich heraus, dass ein sehr positives Grundgefühl gegenüber Russland der Ansporn war, die Reise zu machen. Einige hatten mal in Russland gearbeitet oder waren einfach neugierig, was hinter dem Schwall negativer Berichterstattung in dem großen Land wirklich vor sich geht.
Der Großteil der Reisenden war über 50. Mit 83 Jahren war Peter der Älteste. Das Marschtempo der Gruppe schien ihm nichts auszumachen. Er scherzte: „Ich kann mich nicht mehr bewegen, weil ich alt bin, ist falsch. Richtig ist: Ich bin alt, weil ich mich nicht mehr bewege.“
Wie ich später vom Reiseleiter Dietmar G. höre, waren nicht alle Reise-Interessierten in der Lage, die Reise anzutreten. „Eigentlich waren wir elf, aber zwei Mitfahrer sind aus gesundheitlichen Gründen abgesprungen“, berichtete der hochgewachsene Mann, der in Deutschland einer Kosaken-Vereinigung angehört.
Marco Buschmann warnt vor Russland-Reisen
Mir gefiel die Entschlossenheit, mit der die Reisegruppe ihr Programm durchzog. Und mir wurde klar, dass es für ältere Deutsche leichter zu sein scheint, den Sprung nach Russland zu wagen, als für jüngere. Wer noch einen Job und Kinder zu ernähren hat, überlegt es sich vermutlich zehnmal.
Wer nach Russland fährt, muss heute ein dickes Fell haben, denn die ungeheuerlichsten Behauptungen werden aufgestellt. Am 6. August hatte der deutsche Justizminister Marco Buschmann vor Russland-Reisen gewarnt. Es sei nicht ausgeschlossen, dass Putin unter deutschen Reisenden „weitere politische Gefangene macht“, um sie dann auszutauschen.
Einer der Reisenden: „Mein Großvater hat gelernt, dass Krieg sich nicht lohnt“
Daniel, ein Mitreisender, geboren Mitte der 1970er-Jahre, hatte einen ganz persönlichen Grund, um nach Russland zu fahren. Er erzählte mir Folgendes:
„Mein Großvater war am Zweiten Weltkrieg beteiligt. Als ich alt genug war, sprach er mit mir darüber. Er kam in sowjetische Gefangenschaft. Das Gute war, dass er als Kriegsgefangener wie viele, viele andere auch, sehr, sehr ordentlich behandelt wurde. Das hätte auch anders ausgehen können. Er war nach der sowjetischen Zeit noch in einem anderen Lager eines anderen Landes – ich werde den Namen des Landes jetzt nicht nennen – wo er auch interniert wurde und wo es viele Hungertote gab. Ich bin sehr froh, dass er den Krieg überlebt hat, auch dank der guten Behandlung durch die Russen und die Sowjetunion damals. Er hat in dieser Zeit gelernt, dass Krieg sich nicht lohnt, sondern dass sich Familiensinn, Freundschaft und die Diplomatie lohnen.“
Unser Treffen in dem Moskauer Hotel hatte fast etwas Konspiratives. Aus Angst vor Repressalien in Deutschland wollte keiner meiner Gesprächspartner mit dem Familiennamen zitiert werden.
24 Stunden an der Grenze
Nach Russland zu reisen, ist heute kein einfaches Unterfangen, aber es gibt eben Menschen, die sich einfach durch nichts aufhalten lassen. „Der Übertritt der Grenze zwischen Estland und Russland bei der estnischen Stadt Koidula hat 24 Stunden gedauert“, erzählte der Reiseleiter Dietmar. Estland habe nur ein Auto pro Stunde durchgelassen und auf der russischen Seite wurde die Einreise streng kontrolliert. Beim russischen Zoll habe es nur eine einspurige Fahrbahn gegeben. Alles Gepäck musste aus den Autos ausgeladen werden. Die Fahrzeuge wurden dann geröntgt. Der Autor dieser Zeilen vermutet, dass so streng kontrolliert wird, weil von russischer Seite das Einsickern von ukrainischen Untergrundkämpfern – nebst Waffen – befürchtet wird.
Buntes Reiseprogramm
Die von Dietmar G. geführte Reisegruppe besuchte Städte im nördlichen, europäischen Teil von Russland. In Nischni Nowgorod wurde die Gruppe von der Ministerin für Einwanderung und internationale Beziehungen, Olga Gusewa, empfangen. Gemeinsam pflanzte man zehn Zedern für die Völkerverständigung. Bei der Ministerin kann man – so Diemtar G. – Anträge auf Einbürgerung in Russland stellen. In Nischni Nowgorod besuchte man auch ein Museum der örtlichen Autofabrik GAZ sowie das Dorf „Rude“, in dem der Deutsche Remo Kirsch mit Hilfe von privaten Firmen eine Siedlung für deutsche Einwanderer baut. Mehrere schmucke Häuser stehen schon.
Persönliche Kontakte in Russland
Viele Anlaufpunkte in Russland wurden über persönliche Kontakte organisiert. Ein besonderes Erlebnis war Ende Juli die Teilnahme an den Feierlichkeiten der russischen Marine in St. Petersburg.
In der Stadt Jaroslawl besichtigte man mit Hilfe eines örtlichen deutsch-französisch-russischen Vereins die Altstadt und eine Kathedrale, die gerade instandgesetzt wurde.
In der Stadt Susdal – sie war einmal Hauptstadt des russischen Reiches – nahm man an den 1000-Jahr-Feierlichkeiten der Stadt teil.
In vielen Städten, welche die Reisegruppe besuchte, legten die Teilnehmer Blumen an den Grabmälern des unbekannten Soldaten nieder.
In Moskau legten die Teilnehmer der Reisegruppe Blumen auch vor dem ausgebrannten Konzertgebäude Crocus City Hall nieder, wo im März dieses Jahres 145 Menschen durch einen Terroranschlag getötet wurden.
Die Lüge vom deutschen „Präventivangriff“
In der Stadt Krasnogorsk, nordwestlich von Moskau, besuchte die Reisegruppe gemeinsam mit dem Autor dieser Zeilen das „Museum der deutschen Antifaschisten“.
Das Museum befindet sich in einer ehemaligen „Antifa-Schule“, in der von 1941 bis 1949 sowjetische Kriegsgefangene vor allem aus Deutschland, aber auch aus Ungarn, Japan und anderen Ländern an antifaschistischen Bildungsmaßnahmen teilnahmen.
Unter den 50.000 Kriegsgefangenen im Lager Nr. 27 in Krasnogorsk waren 625 Generäle und andere hohe Dienstgrade. Nach russischen Angaben haben 174 deutsche Generäle die „Antifa-Schule” besucht.
Der berühmteste Absolvent der „Antifa-Schule“ war der deutsche Feldmarschall Friedrich Paulus, der entgegen dem Willen von Hitler die Kapitulation der 6. Deutschen Armee in Stalingrad unterschrieb.
Paulus trat am 8. August 1944 – zwei Wochen nach dem Attentat auf Hitler, wie die Museumsführerin betonte – als sowjetischer Kriegsgefangener dem von deutschen Offizieren gegründeten „Nationalkomitee Freies Deutschland“ bei, welches für die Schaffung eines demokratischen deutschen Staates eintrat.
Deutscher Angriffsplan Deutschlands bereits 1939
Auf dem Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg spielte Paulus als Zeuge des sowjetischen Chefanklägers, Staatsanwalt Roman Rudenko, eine Schlüsselrolle. Paulus sagte vor dem Tribunal aus, dass Hitler bereits 1939 den Plan für den Überfall auf die Sowjetunion entworfen habe. Damit entkräftete der Feldmarschall die Behauptung der Nazis-Größen, die vor Gericht standen, der Angriff auf die Sowjetunion sei ein „Präventivangriff“ gegen einen angeblich geplanten sowjetischen Angriff auf Deutschland gewesen.
Die Szene, in der der sowjetische Staatsanwalt Rudenko im Gerichtsaal von Nürnberg den Zeugen Paulus befragt, hat man im Museum von Krasnogorsk mit zwei Wachsfiguren nachgestellt.
Die Mitarbeiter des Museums luden die Teilnehmer aus Deutschland nach dem Rundgang durch die Ausstellung in ein Klassenzimmer mit Original-Schulbänken aus der Kriegszeit zu Tee und Gebäck ein. Die Mitarbeiter des Museums freuten sich über die sehr interessierten Besucher aus Deutschland und die deutschen Reisenden freuten sich über die Begegnung mit Menschen, mit denen man die Sehnsucht nach Frieden teilen kann.
Wie mir Dietmar G., der Reiseleiter, erzählte, befinden sich zurzeit drei „Druschba“-Reisegruppen in Russland. Die Teilnehmer seiner Reisegruppe seien durch Reiseberichte aufmerksam geworden, welche Teilnehmer früherer „Druschba“-Reisen auf öffentlichen Veranstaltungen in deutschen Städten vorgetragen hatten. Russland bleibt interessant und anziehend, egal was in den Zeitungen geschrieben wird.
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