Der Populismus- und Parteienforscher Pierre Ostiguy über die Gründe für die anhaltende Unterstützung von Milei, die Versäumnisse des Peronismus und Perspektiven für die weitere Entwicklung der politischen Landschaft in Argentinien. Das Interview führte Stephan Hollensteiner.
Stephan Hollensteiner: Was ist Ihre Erklärung für den Wahlerfolg Javier Mileis?
Pierre Ostiguy: Es ist ein vor allem in Europa sehr verbreitetes Missverständnis, den Sieg Mileis als einen Shift nach Rechtsaußen, als eine ideologische Wende der argentinischen Wähler zur radikalen Rechten zu interpretieren. Ich glaube, das ist eine falsche Deutung der Dinge. Nach meiner Meinung und der vieler Experten handelt es sich vielmehr um die tiefgreifende Erschöpfung eines sozio-ökonomischen Entwicklungsmodells, das vom Peronismus und vor allem vom Kirchnerismus[1] seit 2003 betrieben wurde. Die Erschöpfung, Begrenztheit dieses Modells wurde immer klarer, denn es war an große Exporterlöse, an den „Boom der commodities” gebunden, der schon länger vorbei ist.
Während des vergangenen Wahlkampfes wurde zudem klar, dass auch das „Massa-Modell” nicht mehr funktionierte. Denn es war der Wirtschaftsminister und peronistische Präsidentschaftskandidat [Sergio] Massa, der das Land im vergangenen Jahr in Wirklichkeit regierte, nicht der nominale Präsident [Alberto Fernández] und auch nicht [die langjährige Präsidentin und Vize-Präsidentin] Cristina Kirchner. Massa hat viel herumgeflickt, viele Pflaster und Salben aufgetragen, aber er konnte die Inflation nicht signifikant reduzieren. So ist der allgemeine Eindruck entstanden, dass Massa und die Peronisten den Wählern nichts wirklich Neues oder Interessantes anzubieten hatten. In dieser Situation kam Milei von außerhalb des Establishments mit einem scheinbar wirklich radikalen Vorschlag, der allein damit eine gewisse Leuchtkraft hatte.
Ein anderer Punkt ist, dass es zum Auseinanderfallen der konservativen „Juntos por el Cambio”-Allianz[2] kam, die meines Erachtens die wirklichen Verlierer der letzten Wahl war. Sie war immer eng mit den wohlhabenden, konservativen Mittel- und Oberschichten verbunden und wurde von diesen getragen. Der Sieg Mileis zeigt, dass diese mit ihrer Tradition gebrochen haben.
Wir wissen aus der Wahlsoziologie auch, dass Milei zugleich sehr gut in den prekären Vierteln, bei den Unterschichten abgeschnitten hat, die traditionell peronistisch wählen. Im Sinne der für die Wahlentscheidung meines Erachtens wichtigen Oben-Unten-Dichotomie hat sich Milei vor allem in seinem politischen Stil klar „unten” verortet – er redet laut, schreit, packt seine Kettensäge aus. „Viva la libertad, carajo!” (Es lebe die Freiheit, verdammt!). Er hat alles dafür getan, kein „respektvoller” oder traditioneller Kandidat sein, womit er aber nicht nur bei den Unterschichten gut ankam.
Das Votum für ihn war also ein explizites Protestvotum gegen die Institutionen und das System, gegen das politische und ökonomische Establishment?
Ja, in diesem Sinne war es ein geradezu exemplarisches Protestvotum – auf beinahe umfassende Weise. Denn „Juntos por el cambio” ist mit den Wirtschaftseliten verflochten, der Peronismus eng mit der Staatsbürokratie und dem gewerkschaftlichen Establishment. Beide Optionen waren für die Wähler auf einmal schwächer, weniger zugkräftig als Mileis Alternativangebot.
Ein dritter Punkt ist folgender: Viele Jahre lang pflegte ich zu sagen, dass Cristina Kirchner es geschafft hat, den Peronismus zu verjüngen. La Cámpora, La Juventud Peronista waren erfolgreiche Modernisierungsbewegungen des Peronismus, was besonders deutlich wird, wenn man sie mit der sklerotischen Concertación in Chile vergleicht.
Aber die Jahre sind vergangen, und diese Aktivisten sind 15, 20 Jahre älter geworden. Die einst junge Generation der Cámpora ist nun 35 oder 40 Jahre alt, und diese Generation hat es mit ihrer Gewerkschafts- und Staatsorientierung nicht geschafft, zu verstehen oder wahrzunehmen, was man in Argentinien die „Uberisierung” der Wirtschaft nennt.
Das bezeichnet viele verschiedene Menschen und Aktivitäten jenseits des Staats: Leute, die einen kleinen Job haben, Essen oder Einkäufe ausfahren oder andere kleine Dienstleistungen erbringen. Diese Leute sehen sich selbst als unterbeschäftigt, aber sie verspüren nicht mehr die traditionelle Affinität zu Gewerkschaften, Sozialplänen oder staatlicher Unterstützung. Sie wollen nicht von der Sozialhilfe leben, sie begreifen sich als Unternehmer, die auf ihren eigenen Füßen stehen, wenn auch auf eher niedrigem Niveau, und für diese Gruppen war der radikale libertäre Diskurs von Milei auf einmal das passendere Angebot.
Ein anderes Paradoxon ist übrigens, dass Milei in seinem Leben nie richtig Buenos Aires verlassen hat, dennoch war sein stärkster Rückhalt im Landesinnern. Die meisten Stimmen bekam er im sogenannten und oft armen Hinterland, immer mit Einsatz der sozialen Medien wie TikTok und Facebook, die neuen Technologien haben auch in der argentinischen Politik viel verändert.
Milei ist jetzt gut acht Monate im Amt, wie ist seine Bilanz? Und wie hat er es geschafft, trotz nominal fehlender Mehrheit im Kongress seine Gesetzesprojekte durchzubringen?
Was klar ist: Milei hat seine Regierung bisher quasi obsessiv auf ein Thema konzentriert, und zwar auf die Inflationsbekämpfung bzw. -reduzierung, und damit hat er es geschafft, die Unterstützung von wirklich breiten Schichten zu bekommen und aufrechtzuerhalten, trotz der Rezession oder der Lähmung der wirtschaftlichen Aktivitäten, die das alles hervorrufen. Milei hat es auch geschafft, von den meisten Leuten nicht als ein Politiker angesehen zu werden, der am Ende schmutzige Geschäfte macht. Die Leute sehen ihn eher als Bulldozer, der alles niedermacht, was der Inflationsbekämpfung im Weg steht, aber er hat Wort gehalten, er hat das Wahlvolk nicht verraten.
Durch seinen Erfolg bei der Inflationsbekämpfung seit März oder April, die er durch Ausgabenkürzungen und den Rückgang der Wirtschaftsaktivitäten erreicht hat, hat er es geschafft, trotz der vielen Zumutungen ein hohes Level an Unterstützung bei den Leuten zu halten, denn diese anhaltend 50 Prozent Unterstützung sind wirklich viel, gerade auch im lateinamerikanischen Vergleich.
Der andere Teil der Frage ist etwas komplexer. Zwar ist der größte Teil des Kirchnerismus in Frontalopposition, zugleich hat Milei es aber geschafft, weite Teile des Parteiensystems durcheinanderzubringen bzw. zu zerstören. Vor allem die Konservativen hat er in ein großes Dilemma gestürzt. Das ist etwa an Patricia Bullrich[3] zu sehen, die auf Mileis Zug aufgesprungen ist und nun quasi die Nummer Zwei von Mileis Partei „La Libertad Avanza” zu sein scheint – oder an den Radicales, die Milei nicht mögen, ihn am Ende aber meist unterstützen. Denn die Mehrheit der Radicales, die sogenannte „vernünftige” oder „freundschaftliche” Opposition, war am Ende bereit, für Mileis Vorschläge zu stimmen – im Tausch gegen nur sehr moderate Veränderungen an seinen ursprünglichen Regierungsplänen oder gegen einige Vergünstigungen auf Provinzebene, im Landesinnern.
Eine Art Wunder war es, dass Milei seine Vorhaben im Senat durchgebracht hat, der traditionellerweise von den Peronisten beherrscht wird und von denen einige dann sehr kurzfristig die Seite wechselten, was wohl nur durch gewisse persönliche Zugeständnisse und Provinzinteressen erklärt werden kann.
Mileis „La Libertad Avanza” hat die Zerstörung des bisherigen Parteiensystems zum Ziel, und diese betrifft meiner Meinung nach vor allem die ehemalige „Juntos por el cambio”: Sie zahlt einen hohen Preis dafür, dass sie Milei unterstützt, ohne eine inhaltliche Entschädigung dafür zu bekommen.
Das Problem des Kirchnerismus, des „linken” Peronismus besteht darin, dass er seinen Diskurs und seine Art, Politik zu machen, in den vergangenen Jahren kaum erneuert hat. Er scheint sich, quasi aus Tradition, eine Rückkehr zu den Verhältnissen von vor 20 Jahren auf die Fahnen geschrieben zu haben. Obwohl Peronismus und Kirchnerismus immer wieder zu Veränderungen bereit waren, scheint es diesmal nicht der Fall zu sein, was ich auch persönlich ziemlich enttäuschend finde. Aktuell besteht meines Erachtens die reale Gefahr, dass der Peronismus trotz seiner großen Ideale eine Partei der Ewiggestrigen wird.
Gib es nicht auch Strömungen und Figuren, die den Peronismus erneuern wollen, wie zum Beispiel der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kiciloff?
Ich antworte darauf etwas anders als vielleicht erwartet. Ich vertrete seit vielen Jahren die These, dass der politische Raum in Argentinien mehrdimensional zu betrachten ist. Kiciloff war vielleicht nie ein wirklicher Peronist, auch wenn er jetzt wohl die Nummer Zwei ist. Er war ein linksgerichteter aktiver Student, und Cristina Kirchner hatte immer eine große Sympathie für solche Figuren, mehr als für die traditionellen, gewerkschaftsnahen Peronisten.
Ja, vielleicht muss sich der Peronismus mehrheitlich zum Kirchnerismus wandeln, und der Kirchnerismus muss selbst allmählich die große linke Partei des argentinischen Parteiensystems und ansatzweise eine zeitgemäße Partei werden – für eine solche Richtung und Wandlung steht Kiciloff am meisten. Seit 40 Jahren wollen das alle aufstrebenden Mitte-links-Politiker in Argentinien, und quasi alle scheitern daran und werden von der Oben-Unten-Dichotomie der argentinischen Politik eingeholt.
Deswegen besteht auch die Möglichkeit, dass eine Art moderner Hinterland-Caudillo abseits der Linken irgendwann große Anhängerschaften mobilisieren und den Peronismus damit renovieren kann, auch das ist nicht auszuschließen.
Der Kirchnerismus hat meines Erachtens zwei Optionen: Entweder wandelt er sich zu einer modernen linken Partei mit Distanz zu den Gewerkschaften, oder es kommt zu einem anderen historischen Moment, in dem der Kirchnerismus von einer anderen, radikaleren Strömung innerhalb des Peronismus verdrängt wird. Dann wird der Kirchnerismus Ende der 2020er-Jahre eventuell verschwinden.
Welche Perspektive hat Milei, welche Prognose wagen Sie?
Es klingt vielleicht nicht sehr originell, aber ich halte mich an das, was [die konservative Tageszeitung] La Nación seit Monaten sagt: Der Erfolg oder Misserfolg von Milei wird primär davon abhängen, wie er und seine Regierung innerhalb des ersten Jahres in ökonomischer Hinsicht performen, also innerhalb dieses Jahres 2024, nicht erst in zwei oder drei Jahren. Wenn Milei bis Jahresende Erfolg hat, könnte er durchaus länger bleiben – wenn er dagegen Misserfolg hat, könnte er innerhalb kurzer Zeil weggefegt werden.
Natürlich ist es interessant, darüber nachzudenken, was Misserfolg eigentlich genau bedeutet, aber im argentinischen Kontext bedeutete es bis vor Kurzem sicher die Unfähigkeit, die Inflation unter Kontrolle zu halten. Mittlerweile wird aber immer klarer, was der Preis dafür ist: Anhaltende Rezession, die inzwischen bei mehr als fünf Prozent liegt, Konsumrückgang von sieben Prozent usw.
Eventuell könnte es also auch zu der breiteren Wahrnehmung kommen, dass der Preis für die Inflationskontrolle zu hoch sein wird, dass zu viele ihre Ersparnisse und Geduld aufbrauchen und dass ein wirtschaftlicher Kollaps zu befürchten ist. Wenn diese Meinung die Oberhand gewinnt und Milei keine wirtschaftliche Erholung initiieren kann, wird er als Staatspräsident keine Zukunft haben.
Pierre Ostiguy ist ein aus Quebec stammender Politologe und Sozialwissenschaftler. Nach Stationen an Universitäten in USA, Kanada und Argentinien arbeitet er seit 2021 an der Universität Valparaíso, Chile
Dieses Interview erschien zuerst auf Amerika21.
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[«1] Als Kirchnerismus wird in Argentinien die Mitte-links-Politik der peronistischen Bewegung bezeichnet, die durch die Amtszeiten von Präsident Néstor Kirchner und Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner zwischen 2002 und 2015 geprägt wurde.
[«2] „Juntos por el Cambio” war das Regierungsbündnis von Ex-Präsident Mauricio Macri.
[«3] Patricia Bullrich war in der ersten Wahlrunde Mileis konservative Gegenkandidatin und ist jetzt seine Sicherheitsministerin.