Verfassungsrechtler Boehme-Neßler zu Corona und Justiz: „Wir haben es ja damals nicht besser gewusst, ist eine faule Ausrede“

Verfassungsrechtler Boehme-Neßler zu Corona und Justiz: „Wir haben es ja damals nicht besser gewusst, ist eine faule Ausrede“

Verfassungsrechtler Boehme-Neßler zu Corona und Justiz: „Wir haben es ja damals nicht besser gewusst, ist eine faule Ausrede“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Die Justiz hat ihre rechtsstaatliche Rolle als unabhängige Kontrollinstanz gegenüber den Behörden, der Regierung und dem Parlament nicht erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat unzählige Grundrechtsverletzungen einfach hingenommen“ – das sagt der Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler im Interview mit den NachDenkSeiten. Scharf kritisiert der Professor für Verfassungsrecht die Richter in Karlsruhe, aber auch die untergeordneten Gerichte. Laut Boehme-Neßler haben Richter „das gemacht, was viele in Politik und Gesellschaft gemacht haben. Sie haben die Kritiker stigmatisiert, in eine Ecke gestellt, nicht ernstgenommen und ihre Argumente ignoriert. Das war ein schwerer Fehler.“ Ein Interview über Justizabgründe in Sachen Corona, die RKI-Protokolle und die Corona-Impfpflicht der Bundeswehr, die „nie hätte eingeführt werden dürfen“. Und: Boehme-Neßler fordert eine Amnestie für Verstöße im Zusammenhang mit den Coronamaßnahmen. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Boehme-Neßler, wir haben auf den NachDenkSeiten im Mai dieses Jahres ein Interview zur Rechtsprechung und dem Verhalten der Justiz im Hinblick auf die Coronamaßnahmen mit Ihnen geführt. Sie sagten, dass Sie die Corona-Impfpflicht bei der Bundeswehr für „verfassungswidrig“ halten und diese „sofort abgeschafft werden“ müsste. Mittlerweile besteht die Impfpflicht nicht mehr. Mittlerweile wurden auch die Protokolle des Robert Koch-Instituts (RKI) ungeschwärzt veröffentlicht. Sehen Sie sich in Ihrer Betrachtung bestärkt?

Ja, absolut. Eine Impfpflicht ist eine gravierende Einschränkung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit. Der Staat darf Grundrechte einschränken, aber nur ausnahmsweise und nur dann, wenn die Einschränkung verhältnismäßig ist. Der Bundeswehr ging es mit der Impfpflicht darum, Ansteckungswellen innerhalb der Soldaten zu verhindern. Die Impfung verhindert keine Ansteckungen. Sie verhindert auch nicht, dass Geimpfte andere Menschen anstecken. Sie bietet nur einen eingeschränkten Eigenschutz und keinen Fremdschutz. Die Impfung war deshalb weder geeignet noch erforderlich, um die Kampfkraft der Armee im Pandemiefall zu erhalten. Juristisch gesprochen: Sie war unverhältnismäßig und deshalb verfassungswidrig. Sie hätte niemals eingeführt werden dürfen.

Die RKI-Protokolle zeigen jetzt deutlich: Das war sowohl dem RKI als auch dem Gesundheitsminister sehr früh bekannt. Auf Druck des Gesundheitsministers wurden diese Informationen aber der Öffentlichkeit vorenthalten. Verfassungsrechtlich bedeutet das: Der Staat hat unzählige Grundrechte verletzt, obwohl er wusste, dass seine Maßnahmen nicht verhältnismäßig sind. Das ist ungeheuerlich. Und aus verfassungsrechtlicher Perspektive frustrierend, um nicht zu sagen traurig. Verfassung und Justiz waren in der Krise nicht stark genug, um dem übergriffigen Staat Einhalt zu gebieten. Wenn wir das nicht intensiv und umfassend aufarbeiten, habe ich die Befürchtung, dass unser Justizsystem auf Dauer beschädigt ist.

Nun rückt verstärkt die Forderung nach Aufarbeitung der Maßnahmenpolitik in den Vordergrund.

Wir müssen alle Bereiche der Politik und der Gesellschaft systematisch untersuchen. Was ist schiefgelaufen? Warum? Wer hat bewusst eine bestimmte Politik betrieben und womöglich gelogen und manipuliert? Wer hat „nur“ versagt? Das sind einige der wichtigen Fragen, die geklärt werden müssen.

Diese Zeit hat viele Wunden geschlagen und viele Menschen traumatisiert. Hier liegen wichtige Gründe für eine Spaltung der Gesellschaft, für eine erhöhte Aggressivität im täglichen Umgang und eine Verrohung der Kommunikation. Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Das mag im individuellen Leben so sein. Für ganze Gesellschaften stimmt das so pauschal aber nicht. Aus der psychologischen Forschung zu den Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs wissen wir, dass Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Gesellschaft muss sich deshalb mit dem Corona-Geschehen ehrlich und kritisch auseinandersetzen. Sonst nimmt sie auf Dauer Schaden. Und natürlich gibt es einen zweiten Grund, warum Aufarbeitung dringend nötig ist. Wir müssen aus den Fehlern lernen. Dazu müssen wir die Fehler aber erst erkennen und analysieren.

Ihr Bezug zur Vererbung von Traumata erscheint mir an dieser Stelle sehr wichtig. Denn in der Politik ist es entweder nicht angekommen oder aber es wird ignoriert, wie weitreichend die Maßnahmenpolitik war. Sie war für nicht wenige Bürger tatsächlich traumatisierend. Und zwar, wenn man Schilderungen von Bürgern zu dieser Zeit zuhört, sogar schwer traumatisierend. Hier gilt es sich vor Augen zu halten: Mitbürger konnten sich nicht von sterbenden Angehörigen verabschieden. Was heißt das, wenn ein Sohn weiß, dass seine Mutter gerade stirbt, er aber nicht in das Krankenhaus gelassen wird? Was heißt es, wenn ein Sohn stirbt und die Mutter keinen Abschied nehmen darf? Das sind jetzt nur zwei mögliche Kombinationen, es ist „nur“ eine konkrete Auswirkung der Maßnahmenpolitik – neben vielen weiteren. Im Hinblick auf das erlebte Leid, auf die offensichtlich in der Gesellschaft vorhandenen Traumata: Was bedeutet hier die Weigerungshaltung der Politik, an die Aufarbeitung der Coronapolitik ranzugehen?

Dass die Politik bisher eine Aufarbeitung verweigert, ist feige und verantwortungslos. Nicht verarbeitete Traumata haben negative Spätfolgen und belasten das weitere Leben. Das gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Gesellschaften. Immer wieder wird eine Verrohung der Gesellschaft diagnostiziert. Dafür finden sich viele Beispiele. Nicht aufgearbeitete gesellschaftliche Traumata sind sicher eine – nicht die einzige – Ursache dafür.

Das ist eine Entwicklung, die für die freiheitliche Demokratie gefährlich ist. Denn Freiheit und Demokratie leben auch von einem Mindestmaß an Vernunft, Liberalität und Kultiviertheit. Sie setzen ein Minimum an Vertrauen voraus, in staatliche Institutionen und in die Mitbürger. In einer traumatisierten Gesellschaft fehlt das. Die Folge: Der starke und autoritäre Staat kommt wieder, um die Folgen der Verrohung in Grenzen zu halten. Das ist nicht die Idee der freiheitlichen demokratischen Verfassung.

Zu den Protokollen. Welche Bedeutung hat der Inhalt der Protokolle aus rechtlicher Sicht? Was lesen Sie raus? Oder anders gefragt: Was bedeuten die nun an die Öffentlichkeit gelangten Informationen im Hinblick auf die Coronarechtsprechung und das Verhalten der Gerichte?

Wie sehr die Gerichte ihre Rolle verfehlt haben, zeigen die RKI-Protokolle. Natürlich wusste jeder Richter, dass das RKI keine unabhängige Forschungsinstitution ist. Es ist eine Bundesbehörde, die in die Behördenhierarchie eingebunden und gegenüber dem Gesundheitsminister weisungsgebunden ist. Das RKI darf nichts tun, was ihm der Minister verbietet.

Trotzdem haben die Gerichte das RKI als entscheidende und oft einzige Informationsquelle genutzt. Obwohl es qualifizierte und renommierte Kritiker gab, haben sie ihre Urteile im Zweifel, nicht selten sogar ausschließlich, auf die Informationen des RKI gestützt. Man hätte schon damals wissen müssen, dass dies ein Fehler ist. Für Verwaltungsgerichte gilt der sogenannte Amtsermittlungsgrundsatz. Sie müssen selbstständig den Sachverhalt ermitteln, also die relevanten Informationen und Fakten recherchieren. Dazu hätte gehört, nicht nur auf das RKI zu hören, sondern auch Kritiker ernst zu nehmen und sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Was haben die Gerichte stattdessen gemacht? Sie haben das gemacht, was viele in Politik und Gesellschaft gemacht haben. Sie haben die Kritiker stigmatisiert, in eine Ecke gestellt, nicht ernstgenommen und ihre Argumente ignoriert. Das war ein schwerer Fehler, wie spätestens jetzt die RKI-Protokolle zeigen. Aber auch damals war klar, wie unverantwortlich dieses Verhalten war.

Wir haben es ja damals nicht besser gewusst, wird heute oft als Rechtfertigung vorgebracht. Das ist – man muss es so offen sagen – eine faule Ausrede. Richter kennen den Amtsermittlungsgrundsatz. Sie wussten, dass sie umfassend recherchieren und eine breite Informationsgrundlage für ihre Urteile haben müssen. Man wusste, dass das RKI weisungsgebunden und gerade nicht unabhängig und objektiv ist. Wie die RKI-Files jetzt zeigen, hat der Minister dauernd und intensiv Einfluss auf das genommen, was das RKI veröffentlicht hat – und was es verschwiegen hat. Für die Gerichte heißt das: Sie haben viele Urteile auf der Grundlage unvollständiger oder sogar falscher Informationen gefällt. Die Urteile, die sich ausschließlich auf Informationen des RKI stützen, sind – man muss es so hart sagen – Fehlurteile.

Was bedeutet all das?

Der Verfassungsstaat gibt seinen Bürgern ein Versprechen. Er verspricht, dass er die Grundrechte immer, auch im Krisenfall, garantiert. Das gibt den Bürgern eine große Freiheit und eine enorme Sicherheit. Dieses Versprechen hat der Verfassungsstaat während der Coronakrise gebrochen. Die Justiz hat ihre rechtsstaatliche Rolle als unabhängige Kontrollinstanz gegenüber den Behörden, der Regierung und dem Parlament nicht wahrgenommen. Das Versagen beginnt ganz oben, beim Bundesverfassungsgericht. Karlsruhe hat unzählige Grundrechtsverletzungen einfach hingenommen. Es hat der exzessiven und autoritären Corona-Politik der Bundes-und Landesregierungen keine Grenzen gesetzt. Als Hüter der Verfassung hätte es der Regierung und dem Parlament rote Linien ziehen müssen. 

Gerade auch das Verhalten der Karlsruher Richter wirft im Hinblick auf die veröffentlichten Protokolle viele – unangenehme – Fragen auf.

Aus den ungeschwärzten Protokollen wird klar, wie direkt und intensiv die Einwirkungen des Ministers auf die ihm untergeordnete Behörde waren. Das RKI hat Wissen, das für die öffentliche Einschätzung der Pandemie und der Impfstoffe wichtig gewesen wäre, einfach zurückgehalten. Es war ein Instrument, um die Öffentlichkeit zu manipulieren. Das zeigt, wie angreifbar, sogar fatal die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse und zu den Schulschließungen sind. Die Richter in Karlsruhe haben sich bei ihnen fast ausschließlich auf die Informationen durch das RKI gestützt. Das war ein entscheidender Fehler.

Man muss sich das einmal vorstellen. Die Richter ignorieren die kritische Expertise, die es damals gab. Sie stützen sich auf eine Behörde, die gegenüber dem Gesundheitsminister weisungsgebunden ist. Jetzt wird klar, wie irreführend, teilweise falsch deren Informationen waren. Was für eine Blamage für das Gericht! Und wie erschreckend, dass auf dieser Grundlage extreme Grundrechtsverletzungen legitimiert wurden. Da gibt es tatsächlich viel, was aufgearbeitet werden muss.

Und es ist ja noch schlimmer. Auch die aktuelle Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Maßnahmenpolitik tut in weiten Teilen so, als sei sie blind und taub. Oder?

Das aktuelle Verhalten von Gerichten und Behörden macht fassungslos. Sie verhängen weiter Strafen und Bußgelder für Verstöße gegen Corona-Maßnahmen. Gleichzeitig wissen wir aber, dass viele Maßnahmen sinnlos und rechtswidrig waren. Beispiel: Immer noch werden Bußgelder eingetrieben, weil Bürger damals gegen die Maskenpflicht verstoßen haben. Inzwischen ist aber längst bekannt, dass die Maskenpflicht wenig wirksam war – und deshalb ein rechtswidriger Eingriff in Grundrechte. Trotzdem wird immer noch sanktioniert, wer sich damals dagegen gewehrt hat. Unfassbar. Es wäre ein schöner Beginn einer Aufarbeitung, wenn Behörden und Justiz die Verfolgung derartiger Verstöße einstellen würden.

Gerichte verhängen weiter drakonische Strafen gegen Ärzte, die – mutmaßlich – falsche Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht ausgestellt haben. Vor dem Hintergrund, dass die Maskenpflicht ein verfassungswidriger Eingriff in Grundrechte war, ist das ein Skandal. Auch der Prozess gegen den „Richter von Weimar“ ist ein Skandal, der kaum wahrgenommen wird. Der Familienrichter hatte 2021 die Corona-Schutzmaßnahmen an zwei Schulen für rechtswidrig erklärt und aufgehoben. Ende 2023 wurde er dafür in erster Instanz wegen Rechtsbeugung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Das wird man in der zweiten Instanz dringend überdenken müssen.

In manchen Staaten gibt es eine generelle Amnestie für alle Verstöße gegen Corona-Maßnahmen. Das wäre sicher auch in Deutschland bitter nötig, um das Klima für eine Aufarbeitung zu verbessern.

Vergangene Woche sorgte eine Veröffentlichung des Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki für Wirbel. Kubicki hatte die RKI-Protokolle studiert und dabei auf folgende Passagen aufmerksam gemacht:

„Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist abhängig von der Zustimmung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) […]. Eine Herabstufung vorher würde möglicherweise als Deeskalations-Signal interpretiert, daher politisch nicht gewünscht.“ Außerdem: „Reduzierung des Risikos von sehr hoch auf hoch wurde vom BMG abgelehnt.“ Und weiter: „In Hinblick auf das BMG sollte die Herabstufung aus strategischen Gründen zunächst auf hoch und nicht moderat erfolgen.“

Diese Stellen sind Protokollen vom 9. und vom 22. Februar sowie vom 20. April 2022 entnommen. Ersichtlich wird daraus, dass die Bürger Deutschlands länger unter der sehr hohen Risikoeinstufung leben mussten, als es eigentlich vonseiten der RKI-Wissenschaftler für nötig befunden wurde. Das heißt: Sehr hohe Risikoeinstufung aufgrund einer politischen Entscheidung.

Was heißt das im Hinblick auf die schweren Grundrechtseingriffe, denen Bürger ausgesetzt waren? Wie sieht Ihre rechtliche Einordnung aus?

Die Risikoeinstufung hat direkte Auswirkungen auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen. Wenn die Risikoeinstufung falsch war, war auch die verfassungsrechtliche Einordnung falsch. Eingriffe in Grundrechte, die nicht verhältnismäßig sind, sind schwere Verletzungen der Grundrechte und verfassungswidrig. Und verhältnismäßig ist nur, was auch erforderlich ist. Bei einer sehr hohen Risikoeinstufung können Einschränkungen der Grundrechte erforderlich und damit erlaubt sein, die bei einer niedrigeren Risikoeinstufung verboten wären. Kurz: Je höher das Risiko, desto eher sind Grundrechtseingriffe erlaubt. Und umgekehrt. Vor dem Hintergrund dieser neuen Informationen müssen auch die Grundrechtseingriffe neu bewertet werden.

Gerade wurde in einem Artikel hervorgehoben, dass wohl RKI-Protokolle nachträglich vor Veröffentlichung verändert wurden. Ist das aus rechtlicher Sicht überhaupt erlaubt?

Selbstverständlich ist das rechtlich nicht erlaubt. Protokolle haben ja eine wichtige Funktion: Sie sollen vertrauenswürdige Aufzeichnungen sein, die zeigen, was konkret gesagt und getan wurde. Wer sie manipuliert, kann sich strafbar machen, etwa wegen Urkundenfälschung.

Wie könnte nun eine systematische Aufarbeitung innerhalb der Justiz aussehen? Wäre eine eigene Untersuchungskommission auf Ebene der Justiz ein Mittel?

Denkbar wäre, dass das Bundesjustizministerium eine Kommission einsetzt, um das Justizversagen in der Coronazeit zu analysieren. Natürlich ist dabei wichtig, dass diese Kommission mit unabhängigen Persönlichkeiten besetzt ist. Es kann nicht sein, dass die Akteure selbst mit der Aufarbeitung befasst werden. Auch die Rechtswissenschaft wäre gefordert, sich aus unterschiedlichsten Perspektiven wissenschaftlich mit diesem Thema zu befassen. Eine weitere Möglichkeit: Musterprozesse zu speziellen Aspekten der Coronamaßnahmen könnten ebenfalls helfen, die Justiz-Dimension der Pandemie aufzuarbeiten. Damit könnte ein Aufarbeitungsprozess innerhalb der Justiz in Gang gesetzt werden. Aber natürlich kann – besser: muss – auch die Gesellschaft selbst die Rolle der Justiz während der Corona-Pandemie aufarbeiten. In Ansätzen passiert das bereits. Unabhängige Journalisten und kritische Bürgergruppen sammeln Material und diskutieren das öffentlich. Natürlich ist das erst ein ganz früher Anfang.

Lassen Sie mich etwas näher diese Ausführungen beleuchten. Das Verhalten der Justiz, das heißt: die Corona-Rechtsprechung, ist ein großer Komplex, der meines Erachtens aus mehreren Ebenen besteht. Es geht einmal um die Rechtsprechung ganz oben. Das heißt, um das Verhalten und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Aber auch um die generelle Positionierung der Karlsruher Richter. Die Richter hätten zum Beispiel frühzeitig öffentlich der Politik signalisieren können, dass sie Maßnahmen nicht mittragen werden. Sie hätten auf Schwächen in der Rechtsprechung der unteren Gerichte verweisen und damit der Justiz im Allgemeinen signalisieren können: Vorsicht! Stattdessen meinte der Verfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth, dass sich in der Corona-Krise gezeigt habe, dass der Rechtsstaat funktioniere. Diese Aussage stammt, um das hervorzuheben, von dem „obersten Richter“ der Republik. Wie denken Sie über diese Aussage?

Sie haben recht. Es ist eine wichtige Aufgabe der Karlsruher Richter, der Politik durch ihre Rechtsprechung „rote Linien“ zu ziehen. Deshalb gilt – vielleicht muss man sagen: galt – das Gericht auch als Hüter der Verfassung. Es ist unverantwortlich, dass die Richter das in der Coronakrise nicht getan haben.

Was die Aussage von Herrn Harbarth angeht: Das sehe ich völlig anders. Der Rechtsstaat hat in der Krise weitgehend versagt. Vielleicht meint Herr Harbarth seine Aussage wirklich ernst? Dann wäre das eine schockierende und erschreckende Naivität und Realitätsblindheit, die mich fassungslos macht. Aber ich glaube eher, dass Herr Harbarth das macht, was alle machen, die in der Krise Verantwortung getragen und gravierende Fehler gemacht haben. Er vertuscht seine Fehler und redet sich sein Verhalten im Nachhinein schön. In diesem Verhalten der Verantwortlichen liegt ein wichtiger Grund dafür, warum die Aufarbeitung so mühselig und schwierig ist – und weiter sein wird. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Eine Aufarbeitung nimmt meistens erst dann Fahrt auf, wenn die Verantwortlichen nicht mehr in ihren Positionen sind. Vielleicht ist das dieses Mal ja anders? Die historische Empirie spricht dagegen, aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Um an die vorangegangene Frage anzuknüpfen: Wenn wir über eine Aufarbeitung im Bereich der Justiz sprechen, also wenn wir über das Verhalten des Bundesverfassungsgerichts sprechen, dann tun sich doch Abgründe auf, oder? Was ich meine: Die Richter sind alle formal hochqualifiziert. Die Fragilität der Maßnahmenpolitik hätten sie doch an irgendeiner Stelle erkennen müssen. Warum war das aber – offensichtlich – nicht der Fall? Oder anders gesagt: Wenn die Richter hätten erkennen müssen (oder zumindest kritisch hätten hinterfragen müssen), dass die fachliche Basis, auf die die Maßnahmenpolitik gestützt wurde, die Tragfähigkeit eines Wackelpuddings hatte, oder zumindest die begründete Möglichkeit bestand, dass dem so ist, warum haben sie sich so verhalten, wie zu beobachten war?

Worauf die Fragen zielen: Über die tatsächliche Unabhängigkeit des hohen Gerichts von der Politik wird ja nicht erst seit dem Bekanntwerden der gemeinsamen Abendessen zwischen Richtern und der Bundesregierung diskutiert. Wie sehen Sie das mit den Augen eines Juristen? Wie sieht es mit der politischen Unabhängigkeit des Karlsruher Gerichts aus?

Die Institution Bundesverfassungsgericht ergibt nur Sinn, wenn das Gericht völlig von der Politik unabhängig ist. Es soll ja die Politik rechtlich kontrollieren und ihr Grenzen setzen. Deshalb hat die Verfassung dem Bundesverfassungsgericht auch völlige Unabhängigkeit garantiert. Rechtlich gesehen sind die Richter nur so lange von der Politik abhängig, wie sie noch nicht zum Richter ernannt sind. Das liegt daran, dass die Richter nach der bisherigen Konzeption vom Parlament ernannt werden. Wer zum Richter ernannt ist, ist aber völlig unabhängig.

In der Theorie …

Genau, das ist der rechtliche, der theoretische Aspekt des Problems. Die rechtliche Unabhängigkeit und Freiheit allein reicht natürlich nicht. Richter müssen auch Persönlichkeiten sein, die diese Freiheit nutzen. Aus meiner Sicht liegt hier das entscheidende Problem. Wenn wir keine innerlich unabhängigen Persönlichkeiten mit Rückgrat und Zivilcourage im Gericht haben, nützt die rechtlich garantierte Unabhängigkeit des Gerichtes nichts. Dann treffen die Richter keine mutigen Entscheidungen, die dem übergriffigen Staat in den Arm fallen. Dann sind ihre Entscheidungen vorsichtig, ängstlich und vom Bemühen gekennzeichnet, nicht anzuecken. Das ist es, was wir in der Pandemie gesehen haben.

Die Kernfrage ist also: Wie schaffen wir es, kluge, unabhängige, mutige Persönlichkeiten zu Richterinnen und Richtern am Bundesverfassungsgericht zu machen? Wahrscheinlich ist das bisherige Ernennungsverfahren dazu wenig geeignet. Aus meiner Sicht sollte man darüber nachdenken, ob man nicht öffentliche, mehrtägige Anhörungsverfahren vor dem Parlament macht. Dann könnten sich alle – die Parlamentarier und die Bürger – ein besseres Bild von den Kandidatinnen und Kandidaten machen.

Jetzt sind wir etwas vom Konkreten zum Thema Aufarbeitung in der Justiz abgewichen. Aber das hat eben auch mit der angesprochenen Komplexität zu tun. Die Ausgangsfrage wollte darauf hinaus zu erfahren, wie eine Aufarbeitung im Hinblick auf das Verhalten des Bundesverfassungsgerichts aussehen könnte. Haben Sie da Vorstellungen?

Eine Aufarbeitung innerhalb der Justiz ist langwierig und schwierig. Andere Richter und andere Instanzen distanzieren sich durch neue Urteile von den problematischen Entscheidungen in der Coronazeit. So würde eine Aufarbeitung durch die Justiz selbst aussehen. Natürlich gibt es Änderungen der Rechtsprechung und Korrekturen zum Besseren. Aber das dauert lange. Deshalb denke ich, dass die Aufarbeitung der Rolle, die Karlsruhe in der Pandemie gespielt hat, eher von außen kommt: von Gesellschaft und Medien, von Politik und (Rechts-)Wissenschaft.

Und wie sieht es auf Ebene der Politik mit der Aufarbeitung aus? Welche Möglichkeiten gibt es?

Rechtlich gibt es zwei Instrumente, die zur Aufarbeitung geeignet sind: Parlamentarische Untersuchungsausschüsse und Enquete-Kommissionen. Beide haben unterschiedliche Funktionen und Befugnisse. Ich plädiere dafür, beide Instrumente nebeneinander zu nutzen.

Parlamentarische Untersuchungsausschüsse können vom Bundestag und den Landtagen eingesetzt werden, um konkrete Vorgänge zu untersuchen und spezifische Fragen zu beantworten. Sie haben dafür weitgehende rechtliche Befugnisse, die denen der Staatsanwaltschaft ähneln. Sie können Beweise erheben, Zeugen vernehmen und die Zwangsmittel der Strafprozessordnung anwenden. Ein denkbarer Auftrag wäre etwa: Wie haben die Gesundheitsminister Spahn und Lauterbach das RKI missbraucht und die Bevölkerung manipuliert? Allerdings sind Untersuchungsausschüsse nur für einzelne konkrete Fragen vorgesehen. Aber es spricht nichts dagegen, mehrere Untersuchungsausschüsse nebeneinander zu verschiedenen Einzelfragen einzusetzen.

Enquete-Kommissionen können viel breiter arbeiten. Sie können ausführlich komplexe Vorgänge und historische Geschehnisse analysieren, kritisch auswerten und aufarbeiten. Sie bestehen aus Abgeordneten und unabhängigen Experten, die gemeinsam ein Thema bearbeiten und am Ende dem Parlament einen umfassenden Bericht vorlegen. Es wäre – finde ich – wichtig, dass der Bundestag eine solche Enquete-Kommission zur Corona-Politik in Deutschland einsetzt.

Ganz entscheidend wird die Aufarbeitung durch die Gesellschaft selbst und durch die Politik sein. Dabei wäre es ganz wesentlich, dass die Medien und die Wissenschaft sich selbstkritisch auf ihre Verantwortung besinnen und zur Aufarbeitung beitragen. Erste Ansätze gibt es dazu, wie ich finde. Aber das ist erst der Schneeball. Ob aus dem Schneeball eine Lawine wird, muss sich noch zeigen. Der Kipppunkt, an dem aus Vertuschung und simulierter Aufarbeitung eine echte Aufarbeitung wird, ist noch nicht erreicht.

Titelbild: r.classen/shutterstock.com