Der Atomkrieg aus Versehen und die Demokratie

Der Atomkrieg aus Versehen und die Demokratie

Der Atomkrieg aus Versehen und die Demokratie

Ein Artikel von Bernhard Trautvetter

Die Stationierung von Hochgeschwindigkeits-, Lenk- und Marschflugkörpern in Deutschland, die für Enthauptungsschläge geeignet sind, wird der Bevölkerung und dem Parlament ohne vorherigen Diskurs in der Öffentlichkeit vorgesetzt. Das ist nicht nur undemokratisch, sondern zugleich auch eine Gefährdung der Sicherheit. Das Demokratieverständnis der Bundesregierung verhält sich umgekehrt proportional zu ihrer Rücksichtslosigkeit. Von Bernhard Trautvetter.

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Die von der Bundesregierung und den USA geplante Stationierung von weitreichenden und hochpräzisen Hochgeschwindigkeitsraketen, die für den gegnerischen Radar nur – wenn überhaupt – schwer erfassbar sind und die auch atomwaffenfähige Systeme umfassen, betrifft die Überlebensinteressen der Menschen nicht nur in Deutschland. Aufgrund ihrer Fähigkeit, praktisch ohne Vorwarnzeit Kommandozentralen, Regierungsstellen und Raketensilos Russlands auszuschalten, haben sie Enthauptungsschlag-Eigenschaften.

Dies bedeutet, in Krisenzeiten befinden sich gegnerische Militärs auch bei Fehlalarm unter einem sie überfordernden Entscheidungsdruck, da ihnen bei Alarm keine Zeit für Abklärungen, Rücksprache oder Reflexion verbleibt. Die entsprechende Zeitnot im Moment möglicher existenzieller Bedrohungen stellt eine Überforderung dar, die leicht zu Fehlreaktionen bis hin zum Auslösen eines ungewollten Atomkriegs aus Missverständnissen heraus führen kann.

Das ist den Verantwortlichen in der politischen und militärischen Führung unseres Landes bekannt. Die Kritik des SPD-Fraktonsvorsitzenden Rolf Mützenich ist ein Beleg dafür: „Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation sei beträchtlich …“ Passend dazu erklärte Ralf Stegner (SPD), Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und dem für Rüstungskontrolle, man dürfe „die Welt nicht gefährlicher machen, nicht in einen neuen Rüstungswettlauf eintreten”.

Das Demokratieverständnis der Bundesregierung verhält sich umgekehrt proportional zu ihrer Rücksichtslosigkeit gegenüber der Gefahr, die sie den Menschen aufbürdet, die sie gewählt haben. Die FAZ berichtet:

Die Regierung … ist der Meinung, das Parlament längst eingebunden zu haben. Sie teilte … mit, dass durch das Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretäre von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und des Staatsministers im Auswärtigen Amt alle zuständigen Parlamentarier mit dem Vorgang befasst worden seien.

Die Information, die die Regierung den Volksvertretern zukommen lässt, ersetzt in ihrem Demokratieverständnis die Debatte und Entscheidungsfindung durch die Abgeordneten in einer der wichtigsten Angelegenheiten, die zu entscheiden anstehen können. Im Mittelpunkt der Demokratie hat das Wohlergehen der Menschen zu stehen; das umfasst ihre gemeinsame Gestaltung der für das Zusammenleben in der Gesellschaft grundlegenden Prozesse. Das müsste hier heißen, dass Beschlüsse, die die Sicherheit der Gesellschaft betreffen, nach einer breiten Debatte in der Öffentlichkeit transparent und von der Gesellschaft mehrheitlich getragen zustande kommen.

„Verteidigungs“-Minister Pistorius behauptet, dass der mit der US-Regierung vereinbarte Rüstungsschritt nicht die Brisanz aufweist wie die Raketenrüstung der 1980er Jahre . Damals hatte die Friedensbewegung breite Unterstützung für ihre Warnung vor dem Atomkrieg aus Versehen erhalten, als sie sich gegen die Stationierung der Enthauptungsschlagraketen vom Typ Pershing II stellte. Von Hawaii aus erklärte er, „es spreche nichts dagegen, über dieses Thema im Bundestag offen zu sprechen. „Aber es ist originär kein Thema, was zuvor im Parlament diskutiert werden müsste. Es ist auch nicht vergleichbar mit dem NATO-Doppelbeschluss aus den 80er Jahren. Von daher sollten wir hier die Dinge sorgfältig auseinanderhalten.“

Passend dazu unterstützt der ‘Wissenschaftliche Dienst des Bundestags’ mit einem Gutachten die im inhaltlichen Sinn undemokratische Position der Bundesregierung:

Das BVerfG verneinte die Frage, ob die Zustimmungserklärung der Bundesregierung eines (erneuten) Zustimmungsgesetzes … bedürfe. Gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung von Bundestag und ggf. Bundesrat.

Im vorliegenden Fall liege jedoch nur ein einseitiger völkerrechtlich erheblicher Akt … vor. Auch eine Verletzung der Rechte des Bundestages erkannte das BVerfG nicht: Gem. Art. 24 Abs. 1 GG kann der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Dem BVerfG zufolge lag eine solche Übertragung von Hoheitsrechten an eine zwischenstaatliche Einrichtung, nämlich die NATO, vor und die Anforderungen des Art. 24 Abs. 1 GG seien eingehalten worden:

Die … Ermächtigung hierzu muß ‚durch Gesetz‘ erfolgen. Dieser verfassungsrechtlichen Anforderung ist im vorliegenden Fall durch das Gesetz betreffend den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Vertrag und zum Nordatlantikvertrag vom 24. März 1955 (BGBl. II S. 256) sowie durch das Gesetz betreffend den Vertrag vom 23. Oktober 1954 über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 24. März 1955 (BGBl. II S. 253) genügt.…“ Hier erklären Juristen, die USA entsprechen der Nato.“

In der gemeinsamen Erklärung der Regierungen der USA und der Bundesregierung Deutschland vom 10. Juli 2024 fehlen Stückzahlen der Stationierungsplanung, und die Abschreckung dient als Legitimationsnarrativ:

Die Vereinigten Staaten werden 2026 mit der periodischen Stationierung von weitreichenden Feuerkapazitäten … in Deutschland beginnen, als Teil der Planung für eine dauerhafte Stationierung dieser Kapazitäten in Zukunft. Im Endausbau werden diese konventionellen Langstreckenfeuereinheiten SM-6, Tomahawk und in der Entwicklung befindliche Hyperschallwaffen, die eine deutlich größere Reichweite haben als die derzeitigen landgestützten Feuerwaffen in Europa, umfassen. Die Ausübung dieser fortgeschrittenen Kapazitäten wird das Engagement der Vereinigten Staaten für die NATO und ihren Beitrag zur integrierten Abschreckung in Europa demonstrieren.“ (Übersetzung: B.T.)

Die Stationierung dreier Typen von Hochgeschwindigkeits-, Lenk- und Marschflugkörpern, die auch ohne Nuklearisierung mit Sprengköpfen von mehreren Hundert Kilogramm Explosivmaterial und radartäuschendem Flugverhalten für Überraschungsangriffe sowie für Enthauptungsschläge geeignet sind, wird der Bevölkerung und dem Parlament ohne vorherigen Diskurs in der Öffentlichkeit unvorbereitet vorgesetzt. Das ist nicht nur undemokratisch, sondern zugleich auch eine Gefährdung der Sicherheit der Menschen.

Der Appell „Gegen die atomare Bedrohung“, der sich dagegen wendet, ist bisher von weit über 10.000 Menschen unterschrieben worden. Es geht darum, 1. die Debatte über diese brandgefährlichen Pläne zur Stationierung von Offensivsystemen zu erzwingen und 2. als nächsten Schritt Abrüstung statt Aufrüstung durchzusetzen; das umfasst die Verhinderung der Stationierung dieser Systeme im Vorfeld eines dritten und damit letzten großen Krieges in Europa.

Titelbild: Alones / shutterstock.com