Stimmen aus Ungarn: Die „Ukraine-Unterstützung“ der westlichen Länder ist heuchlerisch – ein ungarischer Militärexperte

Stimmen aus Ungarn: Die „Ukraine-Unterstützung“ der westlichen Länder ist heuchlerisch – ein ungarischer Militärexperte

Stimmen aus Ungarn: Die „Ukraine-Unterstützung“ der westlichen Länder ist heuchlerisch – ein ungarischer Militärexperte

Ein Artikel von Éva Péli

Seit dem Gespräch der NachDenkSeiten mit dem ungarischen Militärexperten István Resperger im Dezember hat es einige wichtige Ereignisse gegeben wie Orbáns Friedensmission und den NATO-Gipfel. Der Krieg in der Ukraine geht immer noch weiter, und die Gefahr seiner Eskalation scheint zu wachsen. Wir haben mit Oberst Resperger über die aktuelle Lage aus ungarischer Sicht gesprochen. Er beschreibt sie aus der Perspektive eines Militärexperten eines östlichen NATO-Landes und Nachbarlandes der Ukraine. Resperger ist Professor und Leiter des Szent-István-Sicherheitsforschungszentrums an der Ungarischen Universität für Agrar- und Biowissenschaften in Gödöllő. Das Interview mit István Resperger führte Éva Péli.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Éva Péli: Herr Resperger, wie sehen Sie die aktuelle Situation an der Front?

István Resperger: An der russisch-ukrainischen Front hat sich die derzeitige Situation im Hinblick auf das Kräfteverhältnis entwickelt:

Nach Angaben von General Oleksandr Syrskyj verstärken die Russen die Entsendung von Personal in die Ukraine weiter. Die russische Seite hat derzeit eine dreifache Überlegenheit bei Panzern, eine zweifache bei der gepanzerten Ausrüstung, ebenfalls eine zweifache bei der Artillerie und eine dreifache bei den Raketenwerfern. Wir sehen russische Kampfvorstöße an allen Fronten, und die Ukrainer setzen bereits viele Male ihre operativen Reserven ein. Nur auf der Krim beschießen die Ukrainer russische Marine- und Luftwaffenstützpunkte mit Langstreckenwaffen.

Zu Beginn des Jahres sahen einige Experten das Ende des Krieges in Sicht. Durch neue westliche Waffenlieferungen und den Einsatz westlicher Waffen gegen russische Ziele scheint er sich jedoch zu verlängern.

Meines Erachtens zeigt der Krieg eine schwankende Entwicklung, wobei die aktuellen russischen Kampferfolge durch den Versuch des Westens, sie durch zusätzliche Waffenlieferungen wie die 14 dänischen Leopard-2A/4-Panzer auszugleichen, konterkariert werden. Man hört immer mehr über die F-16-Kampfflugzeuge, von denen sechs der Ukraine zur Verfügung stehen und von denen vielleicht 24 bis 30 bis Ende des Jahres verfügbar sein werden. Ich denke jedoch, dass diese den Krieg nur verlängern werden, da es sehr schwierig ist, der russischen Luftüberlegenheit mit diesen Mitteln an einer 1.500 Kilometer langen Frontlinie zu begegnen. Bei den gegebenen Möglichkeiten wird die Ukraine bis August dieses Jahres höchstwahrscheinlich 30 bis 40 Prozent ihrer operativen Reserven verlieren, sodass sie nicht in der Lage sein wird, Territorium zurückzugewinnen und es eher eine Frage dessen ist, was sie zurückgewinnen kann und was sie am Verhandlungstisch bekommen kann.

„Die Chancen für einen Frieden sind im Moment ziemlich gering“, sagten Sie in einem Interview mit den NachDenkSeiten im Dezember 2023. Mittelfristig haben Sie einen Waffenstillstand zwischen März und April 2024 ins Auge gefasst. Warum ist das aus Ihrer Sicht nicht eingetreten? Gab es keine Chance dafür?

Ich glaube, dass die Großmächte nicht gewillt waren, den Krieg auf diplomatischem Wege beizulegen. Die Tatsache, dass die Ukraine von Oktober 2023 bis Juni 2024 keine nennenswerten Waffen- und Munitionslieferungen erhielt, ermöglichte es Russland, an allen Frontabschnitten 300 bis 1.200 Meter pro Tag vorzurücken.

In der gegenwärtigen Situation zeigt das Gespräch von Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Donald Trump die Notwendigkeit, einen gerechten und dauerhaften Frieden in der Region zu schaffen. Präsident Selenskyj sagte kürzlich in einem Interview mit der BBC, dass in der Weltgeschichte die meisten Gebiete durch Diplomatie und nicht durch militärische Gewalt zurückgewonnen wurden. Wir können also davon ausgehen, dass die Parteien letztendlich an den Verhandlungstisch kommen werden – vorausgesetzt, es kommt zu einer Pattsituation im Krieg, der Wille der Großmächte ist vorhanden und sie können sich auf eine Waffenstillstandsperiode einigen. Dann kommt die Zeit für die Diplomatie und die Verhandlungen, und spätestens in den Monaten nach den US-Präsidentschaftswahlen kann die Friedensschaffung losgehen.

Wie bewerten Sie die aktuellen Ereignisse wie die neuen Friedensvorschläge von Wladimir Putin, die Friedensmission des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und den jüngsten NATO-Gipfel in Washington? Werden diese Ereignisse Entwicklungen in Richtung Beendigung des Krieges in der Ukraine bringen?

Es war kein Zufall, dass der ungarische Ministerpräsident mit seiner „Friedensmission“ Kiew, Moskau, Washington und Peking besuchte. Ich denke, dass Präsident Selenskyj derzeit ohne US-amerikanische Aufsicht kaum kommunizieren kann, sodass es ihm gelungen ist, eine Botschaft an Präsident Putin zu senden. Wann die Chancen für die Aufnahme von Friedensgesprächen reif werden, lässt sich an den brutalen Verlusten ablesen. Nach Angaben des britischen Geheimdienstes gibt es Tage, an denen die russischen Offensivkräfte zwischen 1.000 und 1.300 Soldaten verlieren. Auf ukrainischer Seite fallen etwa 1.000 Mann pro Tag – aufgrund von Luftangriffen, Serienangriffen, deutlicher Artillerieüberlegenheit (vier zu eins) der russischen Streitkräfte.

Der Gipfel in Washington war zurückhaltend, enttäuschend vor allem für die Ukrainer. Ihnen wurde die NATO-Mitgliedschaft versprochen, aber es wurde ihnen kein Datum genannt und sonst auch keine andere Möglichkeit. Es wurde ihnen militärische Unterstützung zugesagt, und die von den Tschechen ins Leben gerufene Koalition aus 18 Ländern kann die Ukraine bis Dezember mit Hunderttausenden Schuss Munition pro Monat versorgen. Die russische Seite produziert monatlich 250.000 Stück ihrer 152-Millimeter-Munition. Diese Überlegenheit bei der Artillerie wird den Verlauf des Krieges bestimmen, ganz gleich, über welche Langstreckenwaffen die Ukrainer verfügen (HIMARS-Raketen mit einer Reichweite von 80 Kilometern, 160 Kilometern und 300 Kilometern, Storm-Shadow-Raketen mit 500 Kilometern).

Reichweite der deutschen Waffensysteme

Ein weiteres wichtiges Ereignis ist die Ankündigung Deutschlands, dass es in diesem Jahr nur noch vier Milliarden Euro für den Krieg in der Ukraine zur Verfügung stellen wird, während es im letzten Jahr noch acht Milliarden Euro waren. Es ist zu sehen, dass mehr Länder helfen wollen, siehe die F-16-Koalition, die Munitionskoalition. Aber in der Ukraine herrscht ein deutlicher Personalmangel. Die Menschen müssen auf den Straßen und Plätzen gefangen werden, doch auch so ist das System der militärischen Verstärkung auf ukrainischer Seite immer noch unzureichend. Das andere ist die Luftverteidigungsausrüstung – ich glaube nicht, dass es möglich ist, der Ukraine 25 Patriot-Luftabwehrraketen-Systeme zu übergeben, die derzeit über 3,5 Sätze verfügt und drei weitere erhalten werden, um größere Angriffe abzuwehren.

Jens Stoltenberg war Ende Juni in Budapest und hat ein Abkommen mit Viktor Orbán unterzeichnet. Wie wurde dies in Ungarn aufgenommen? Was ist Ihrer Meinung nach das Wesentliche und die Bedeutung des Abkommens?

Das Treffen zwischen dem NATO-Generalsekretär und dem ungarischen Ministerpräsidenten war Teil des Besuchs von Stoltenberg in jedem Mitgliedsland. Wegen der harten ungarischen Position hatte der Generalsekretär eine Sondersitzung mit Orbán, um sich zu vergewissern, dass Ungarn die Veröffentlichung des Dokuments, das auf dem Gipfeltreffen herausgegeben werden sollte, unterstützt. Auch die ungarische Seite machte klar, dass sie sich an keiner NATO-Mission auf ukrainischem Gebiet beteiligen möchte.

Dies wird dadurch eindeutig ermöglicht, dass der Nordatlantikrat (NAC) eine politische Entscheidung über jede Mission trifft, aber der NATO-Militärausschuss (MC) bei der Planung der Mission jedem Land die Entscheidung überlässt, ob es an der gegebenen Mission teilnehmen möchte. Mit anderen Worten: Es muss eine politische Entscheidung mit hundertprozentiger Zustimmung getroffen werden, ohne dass es ein Veto gibt, aber die Teilnahme an der militärischen Aktion ist nicht zwingend. Siehe das Beispiel Kosovo: Griechenland und die Tschechische Republik haben sich nicht an den Operationen gegen das ehemalige Jugoslawien beteiligt.

In Ungarn unterstützt die Bevölkerung heute die Position von Viktor Orbán: Wir wollen uns nicht an einem Militäreinsatz in der Ukraine beteiligen, weil wir [dort] eine bedeutende ungarische Minderheit haben, und wir wollen nicht, dass an ihnen die ungarische Beteiligung gerächt wird. Allein in Uschhorod (Hauptstadt der Oblast Transkarpatien in der Westukraine) haben wir bereits 145 gefallene ungarische Helden.

Sie sagten im Dezember auch: „Es gibt eine Chance auf Frieden, wenn die Ukraine bankrottgeht und niemand mehr die ukrainischen Militär- und Staatsausgaben finanziert.“ Sehen Sie das auch so, wenn man bedenkt, dass die NATO und die EU kürzlich eine neue Unterstützung für die Ukraine zugesagt haben?

Mittelfristig besteht meines Erachtens immer noch die Möglichkeit, dass das Land kurz vor dem Bankrott steht, denn mehrere Banken haben angedeutet, dass sie ihr Geld von der Ukraine zurückhaben wollen. In vielen Fällen ist kein Geld da, um die Soldaten zu bezahlen, dadurch befinden sich auch ihre Familien in einer schwierigen Situation. Die Staatsausgaben können finanziert werden, aber langfristig kann der IWF nicht zulassen, dass der Ukraine unendlich viel Geld zur Verfügung gestellt wird – schätzungsweise 20 bis 30 Prozent dieser Gelder fallen in die Hände der Oligarchen, die Korruption betreiben.

Die NATO und die Europäische Union haben die Hilfe beschlossen, aber natürlich könnte diese Entscheidung aufgrund von sehr bedeutenden politischen Veränderungen und Wahlen leicht umgestoßen werden, und die Ukraine könnte wirklich in eine Situation des Beinahe-Bankrotts geraten.

Eines der Ergebnisse des NATO-Gipfels in Washington war, neben der Bestätigung der Fortsetzung des Krieges gegen Russland in der Ukraine, die Vereinbarung zwischen der US-Regierung und der deutschen Regierung über die erneute Stationierung von „Tomahawk“-Marschflugkörpern und anderen US-Langstreckenwaffen in Deutschland. Bringt uns ein solches Abkommen noch näher an einen großen Krieg in Europa? Warum lässt sich Berlin darauf ein?

Die auf dem NATO-Gipfel angekündigte Stationierung von Atomwaffen in Deutschland ist nicht neu. Während des Kalten Krieges waren wir daran gewöhnt, dass die USA an mindestens sechs Standorten in Europa Atomwaffen lagerten. Dieser Schritt kann als Antwort auf Moskaus Stationierung von zehn bis 20 taktischen Atomwaffen in Belarus gesehen werden, die sich vollständig unter russischer Kontrolle und Verwaltung befinden. Der derzeitige Bestand an Atomwaffen, 5.904 auf russischer und 5.632 auf US-amerikanischer Seite, deckt die beiden Großmächte vollständig ab und ermöglicht eine gegenseitige Vernichtung.

Diese Aktionen dienen eher dazu, dass eine Seite auf die bewaffnete Bedrohung und den Vorstoß der anderen Seite reagiert. Aus militärischer Sicht sind sie nicht notwendig, da die NATO-Kräfte auf europäischem Gebiet vom russischen Territorium aus bis nach Irland und Spanien erreichbar sind. Auch von US-amerikanischer Seite können die verschiedenen Flugzeugträger und Militärflugzeuge ihre Ziele auf dem gesamten russischen Territorium erreichen.

Reichweite von Iskander- und Kalibr-Raketen

Der Krieg in der Ukraine wird von den westlichen Ländern genutzt, um ihre Rüstung zu erhöhen. Begründet wird dies mit der neuen „russischen Bedrohung“ einschließlich der wiederholten Behauptung, Russland werde in einigen Jahren ein NATO-Land angreifen. In Deutschland wird bereits über die Wiedereinführung der „Wehrpflicht“ gesprochen. Ungarn ist ein Nachbarland der Ukraine. Wie beurteilen Sie die neue „russische Bedrohung“?

Für Ungarn ist die russische Bedrohung nicht neu, wir haben Russland immer als Großmacht, als Atommacht betrachtet, aber da Ungarn von Energieimporten abhängig ist – 70 bis 80 Prozent unserer Energie kommen von außerhalb unserer Grenzen –, ist es außerordentlich wichtig, wie wir zu Russland stehen. Ich halte die Möglichkeit, dass Russland die NATO im Jahr 2026 angreifen könnte, nicht für realistisch, und auch das Datum 2029 ist bloß eine Art Vorhersage, dass Russland bis dahin auf eine Operation gegen die NATO vorbereitet sein wird.

Wir sehen, dass Russland mit konventionellen Waffen an einer 1.500 Kilometer langen Frontlinie in der Ukraine kämpft und nur sehr langsam seinen Zielen näherkommt. Gegen die NATO müsste es an einer Land- und Seegrenze von bis zu 7.000 Kilometern antreten. Kommt es zu einem Konflikt mit der NATO, so ist diese in Bezug auf Personal und Kampfflugzeuge fünfmal und in Bezug auf Flugzeugträger 17-mal überlegen. Russland ist eindeutig nur in der Lage, die NATO mit Atomwaffen anzugreifen, aber das halte ich nicht für ein realistisches Szenario, da sich die Parteien gegenseitig vernichten würden.

Der russische Krieg in der Ukraine hat in Europa, das seit Langem an Frieden gewöhnt ist, eine Art Konfrontation mit regulären und irregulären Streitkräften ausgelöst. Doch nur sehr wenige Menschen melden sich als Reservisten. Ich glaube, dass nur Norwegen bei der Ausbildung von Reservisten erfolgreich war. Die Frage der Wiedereinführung der Wehrpflicht für Männer und Frauen in Deutschland hat ein sehr starkes politisches Echo hervorgerufen, und alle Länder haben darüber nachgedacht, wie sie eine größere Armee aufrechterhalten können, während sie zwei Prozent des BIP für die Armee ausgeben müssen. Einigen Wirtschaftsanalysten zufolge könnte die Einführung der Wehrpflicht in Deutschland 60 Milliarden Euro kosten.

Meiner Meinung nach sollten die Regierungen um die Jahre 2030/2032 darüber nachdenken, dass viel mehr Menschen aus der Armee ausscheiden, als in die europäischen Streitkräfte eintreten werden. Dafür brauchen wir eine Lösung. Die könnte ein Milizsystem nach Schweizer oder israelischem Vorbild sein. Das Schweizer Milizsystem sieht eine kleine Berufstruppe von etwa 20.000 Soldaten vor, aber 170.000 Reservesoldaten, die einen Fünf-Wochen-Dienst pro Jahr leisten. Frauen können nur als Freiwillige dienen. Das israelische System basiert auf 170.000 Soldaten und 460.000 Reservisten. Alle Mitglieder der Gesellschaft, einschließlich der Frauen, sind wehrpflichtig, alle können einberufen werden.

Unter Berücksichtigung der Erfahrungen und Traditionen der Nationen können wir beispielsweise das Reservesystem für unser Land entwickeln.

Zumindest für die ungarische Regierung ist Russland kein feindliches Land, aber das Zwei-Prozent-Ziel der NATO gilt auch für Ungarn. Gegen wen wappnet sich Ungarn, und was rechtfertigt es, so viel Geld für das Militär auszugeben, während die Lebenshaltungskosten der Bevölkerung massiv steigen?

Bei der derzeitigen Wirtschaftslage und trotz der sehr hohen ungarischen Inflation hat Ungarn das NATO-Ziel erreicht, derzeit gibt es 2,34 Prozent des BIP für die Verteidigung aus. Ungarn beschloss 2016, sich neu zu bewaffnen, und tätigte die größten Käufe von technischem Gerät, hauptsächlich in Deutschland (Leopard 2 A7Hu, LYNX, Panzerhaubitze 2000, Hubschrauber H-145 und H-225).

Ungarn antwortete auf die Herausforderungen in Bezug auf die Migration als auch die Bewältigung einer humanitären Massenkrankheit (Covid-19) aufgrund seiner besonderen geopolitischen Lage. Da sich Ungarn im östlichen Teil der NATO befindet, muss es auf Herausforderungen aus dem Osten und Südosten reagieren. Die Lage auf dem Balkan ist noch nicht stabil, und deshalb ist es wichtig, über Streitkräfte zu verfügen, die auf mögliche militärische Bedrohungen reagieren können. Die andere Richtung ist die Ukraine, denn in der Ukraine herrscht Krieg, und Ungarn muss auch den Grenzabschnitt dort verstärken.

Darüber hinaus unterstützt das Militär ständig Flüchtlinge aus der Ukraine bei ihrem Transport und ihrer möglichen Weiterreise nach Europa.

Es gibt eine Debatte, und die Experten sind sich uneins darüber, ob der dritte Weltkrieg kurz vor dem Ausbruch steht oder bereits begonnen hat. Eines ist sicher: Der Wirtschaftskrieg hat bereits begonnen. Welche Rolle spielt Ungarn in diesem Krieg? Wo verliert es und wo gewinnt es im Wirtschaftskrieg? Was hat sich für Ungarn in dieser Hinsicht seit dem 24. Februar 2022 geändert?

Ich denke, dass der Weltkrieg noch nicht begonnen hat, aber es gibt Anzeichen dafür. Aber da die großen globalen Akteure wie China nicht an einem bewaffneten Konflikt in der Welt interessiert sind, sondern den „One Belt, One Road“-Plan (das Projekt der Neuen Seidenstraße) umsetzen wollen, wollen sie die Spannungen nicht eskalieren lassen. Für Ungarn ist das größte Problem die extrem hohe Inflation, die Verarmung, die Abwanderung aus Ungarn in die reicheren westeuropäischen Länder. Es stehen viel weniger Arbeitskräfte zur Verfügung, die Beschäftigungsquote in Ungarn hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Deshalb ist es äußerst schwierig, qualifizierte Arbeitskräfte für verschiedene Tätigkeiten zu finden, so auch in der Rüstungsindustrie, in unseren Rüstungsbetrieben.

Aus der Sicht der Weltwirtschaft haben die Rüstungsunternehmen bis 2040 die größte Chance, ihre Gewinne zu steigern, und deshalb halten sie an dem Narrativ „Russland zieht in den Krieg“ fest. Ich denke, dass die russische Seite bereits erkannt hat, dass sie nicht alle ihre Ziele auf dem Territorium der Ukraine erreichen kann. Auch Moskau wird einen gerechten und dauerhaften Frieden anstreben, vor allem, wenn die Zivilbevölkerung in der Ukraine und in Russland die Bedingungen akzeptiert, auf die sich die beiden Seiten einigen. Es reicht nämlich nicht aus, dass die Großmächte ein bestimmtes Ziel und einen bestimmten Ansatz verfolgen, um Frieden zu erreichen. In diesem Zusammenhang muss ich den Balkan erwähnen, wo es in Kosovo und in Bosnien und Herzegowina in dem von einer externen Macht auferlegten Frieden anhaltende Spannungen gibt.

In dem Interview im Dezember sagten Sie, dass „Ungarn grundsätzlich keine Waffen in Krisengebiete liefert, weil dies nicht zur Lösung des Problems beiträgt“. Die NATO-Länder tun dies jedoch und versichern der Ukraine, dass sie dies so lange wie nötig tun werden. Was halten Sie von dieser Haltung? Warum tut der globale Westen dies?

Ich bleibe bei meiner Aussage, dass Ungarn grundsätzlich keine Waffen in Krisengebiete liefert, da dies nicht zur Lösung des Problems beiträgt. Ich halte die „Unterstützung“ der westlichen Länder für heuchlerisch, da sie der Ukraine lediglich zehn Prozent ihrer Waffen zur Verfügung gestellt haben, und zwar nicht einmal die modernsten (T-72, BMP, MIG-29). Ich bleibe dabei, dass der Krieg ein guter Schauplatz ist, um Waffen zu testen und die Ukraine mit genügend Waffen zu versorgen, damit sie diesen Krieg nicht schnell und beschämend verliert. Aber sie haben nie genug geliefert, um einen bedeutenden Erfolg zu erzielen. Die Gründe dafür sind Personalmangel, die riesige Fläche des Landes, die geringe Anzahl der verfügbaren Luftabwehrkräfte. Mittlerweile ist es offensichtlich, dass 30 Prozent der ukrainischen Gesellschaft Territorium für den Frieden hergeben würden.

Die Ukraine droht Ungarn mit einer Ölblockade, die eine Energiekrise auslösen könnte. Ungarn kauft weiterhin russisches Öl und Gas, während Europa versucht, sich von russischer Energie unabhängig zu machen. Wie groß ist diese Abhängigkeit wirklich? Sind Sie mehr über die Abhängigkeit von Russland oder von der Ukraine besorgt?

Die besondere geopolitische Lage Ungarns und die Tatsache, dass das Land keine Küste hat, bedeuten, dass es Öl und Gas nur auf dem Landweg beziehen kann. Einer der größten Lieferanten ist Russland, allerdings über die Ukraine. Nun erpresst die Ukraine, die von Ungarn keine tödlichen Waffen erhalten hat, die ungarische Regierung, indem sie ihr den Ölhahn zudreht. Ich finde das unhaltbar, denn Ungarn hilft der Ukraine auch auf andere Weise, nur um ein Beispiel zu nennen: 42 Prozent des ukrainischen Energiebedarfs kommen in Form von Strom aus Ungarn.

Aber die Slowakei befindet sich in der gleichen Situation, sie ist ebenfalls ein Binnenland und importiert ebenfalls Öl und Erdgas aus Russland. Sowohl für die Europäische Union als auch für die NATO ist es unverzeihlich, dass die Ukraine ihre eigenen Lieferanten und Verbündeten in diese Situation bringt, da die Slowakei ebenfalls zwölf Prozent des Stroms liefert, den die Ukraine zum Überleben braucht.

Abgesehen von den aktuellen Ereignissen sucht Ungarn nach alternativen Richtungen und Routen, und wir können auch eine solche Möglichkeit bieten, Gas und Öl über die Adria-Pipeline über das Meer durch Kroatien zu transportieren. Diese Pipeline hat nicht die Kapazität, um Ungarn vollständig zu versorgen, daher werden wir weiter daran arbeiten, wie wir das Problem der drohenden Energieknappheit lösen können.

Einige Leute machen sich Sorgen um Ungarn, und es gibt Gerüchte über eine „farbige Revolution“. Sie sind ein Experte für Militär und Sicherheit. Wie schätzen Sie die Bedrohungslage ein? Ist das Land darauf vorbereitet?

Als Militärexperte sehe ich diese „farbige Revolution“ nicht. Was für eine Situation sich bei den politischen Wahlen entwickeln wird, wird sich noch zeigen – die nächsten Wahlen werden 2026 sein. Wir sind darauf vorbereitet, dass hybride Kriegsführung, wirtschaftliche, politische, diplomatische, militärische und Cyber-Aktionen die Sicherheit Ungarns insbesondere aus dem Osten bedrohen können. Die Tatsache, dass Ungarn einen Streit mit der Europäischen Union oder mit bestimmten Ambitionen der Vereinigten Staaten von Amerika hat, ist etwas, was wir als verbündetes Land politisch regeln können. Aber die größere Bedrohung für Ungarn ist meiner Meinung nach auf längere Sicht die hybride Kriegsführung aus dem Osten.

Was die ungarische Armee angeht: Wie sieht es mit den Verteidigungsfähigkeiten des Landes aus? Ungarn ist in vielerlei Hinsicht ein einsamer Wolf in der EU. Vor allem aber ist es bei der Verteidigung in hohem Maße von seinen NATO-Partnern abhängig. Was tut sich in dieser Hinsicht?

Seit 2016 baut Ungarn seine Streitkräfte kontinuierlich auf, rüstet sie mit modernen Waffen aus, hat inzwischen fast 16.000 Soldaten in der Reserve und will diese weiter ausbauen. Wir bereiten uns auf jeden Fall darauf vor, das Territorium, die politische Einheit und den Status quo des Landes zu verteidigen – nicht nur durch die NATO, sondern auch mit unseren eigenen Kräften. Im Moment haben wir den politischen Willen zur Verteidigung, wir haben die wirtschaftliche Basis, das heißt wir geben mehr als zwei Prozent für die Verteidigung aus, wir haben das Personal und wir haben das Verteidigungskonzept des Landes. Dies beruht darauf, dass wir das Territorium des Landes mit unseren eigenen Streitkräften und dann zusammen mit anderen NATO-Ländern aufgrund des Artikels 5, wenn nötig, verteidigen werden.

Was erwarten Sie von den US-Wahlen für Ungarn, die Ukraine und Russland?

Ich persönlich und auch Ungarn erwarten von den Präsidentschaftswahlen, dass es einen US-Präsidenten geben wird, der die Ukraine und Russland kurzfristig an den Verhandlungstisch bringen, eine Friedensphase herbeiführen und den Wiederaufbau der Ukraine beginnen kann. Die Weltbank schätzt, dass der Wiederaufbau der Ukraine 411 Milliarden US-Dollar kosten wird, wovon allein etwa 40 Milliarden US-Dollar auf die Minenräumung und die Munitionssammlung entfallen. Ich glaube, dass ein dauerhafter Frieden nur dann möglich ist, wenn die Parteien die Garantie der Großmächte zur Erhaltung des Friedens akzeptieren und wenn sie die Bevölkerung davon überzeugen können, dass Frieden die beste Lösung ist.

Der britische Militärhistoriker, Stratege und Autor zahlreicher Bücher B. H. Liddell Hart schrieb in seinem Buch „Strategy“, dass die oberste Strategie (Politik) nicht darauf ausgerichtet sein sollte, den Krieg zu gewinnen, sondern darauf, einen besseren Frieden zu schaffen. Das erwarten wir von allen unseren politischen und diplomatischen Partnern.

Die Grafiken sind von Prof. Dr. István Resperger.

Titelbild: sunlight7/shutterstock.com