100 Jahre Berliner S-Bahn: Aufstieg und Fall einer Nahverkehrsikone

100 Jahre Berliner S-Bahn: Aufstieg und Fall einer Nahverkehrsikone

100 Jahre Berliner S-Bahn: Aufstieg und Fall einer Nahverkehrsikone

Ein Artikel von Rainer Balcerowiak

Bei einem 100. Geburtstag kann man es schon mal ordentlich krachen lassen – vor allem, wenn es sich um einen äußerst prominenten Jubilar handelt. Denn vor 100 Jahren, am 8. August 1924, startete die Berliner S-Bahn auf zunächst einer Linie – zwischen Stettiner Bahnhof (heute Nordbahnhof) und Bernau – den Regelbetrieb mit elektrisch betriebenen Fahrzeugen. Zwar dauerte es noch einige Jahre, bis der Gesamtbetrieb elektrifiziert war, doch die Entwicklung der S-Bahn zu einem der modernsten und leistungsfähigsten Nahverkehrsbetriebe der Welt war unaufhaltsam. Von Rainer Balcerowiak.

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Die Stadt feiert jedenfalls ab heute eine mehrtägige, große Sause mit zahlreichen Festveranstaltungen, Sonderfahrten mit historischen Zügen, Ausstellungen, Stadtführungen, Zukunftsworkshops und allerlei Klimbim. Denn schließlich sei die Berliner S-Bahn „mehr als ein Verkehrsmittel, sie ist eine Ikone der Hauptstadt. Seit 100 Jahren ist sie ein Rückgrat der öffentlichen Mobilität und Pulsgeberin der Region. Sie hat die Geschichte der Stadt erlebt und geprägt. Die Berliner S-Bahn verbindet die Menschen in Ost und West, in Berlin und Brandenburg“, so S-Bahn-Geschäftsführer Peter Buchner in der Berliner Zeitung.

Wobei der Beginn der Elektrifizierung vor 100 Jahren zwar ein wichtiger Meilenstein, aber keinesfalls der Beginn der Entwicklung dieses bahnbrechenden, einstmals überall bewunderten Mobilitätskonzeptes war. Schon zuvor spielte die S-Bahn eine zentrale Rolle für die Infrastruktur der im Zuge der Industrialisierung boomenden Stadt. Es begann Mitte der 19. Jahrhunderts mit dem Ausbau des Fernverkehrsnetzes mit zusätzlichen Gleisen und neuen Haltepunkten. 1872 wurde schließlich die Ringbahn eröffnet, die den gesamten inneren Bereich des damals noch in zahlreiche selbstständige Gemeinden unterteilten Gebietes umschloss und viele Umsteigemöglichkeiten in die Vororte bot. 1877 folgte dann die Stadtbahntrasse als zentrale Verkehrsachse in west-östlicher Richtung. Schon 1906 fuhren 170 Millionen Passagiere pro Jahr mit den Stadt-, Ring- und Vorortbahnen.

1920 entstand dann durch Eingemeindungen Groß-Berlin als neue Stadt, deren Grenzen sich bis heute nur unwesentlich geändert haben, mit zunächst 3,8 Millionen Einwohnern. Zwar beförderte die S-Bahn 1923 bereits über 500 Millionen Fahrgäste pro Jahr, doch der veraltete, für Ballungsräume ungeeignete Betrieb mit Dampfloks setzte ihrer Weiterentwicklung enge Grenzen. Längst gab es nicht nur in Berlin bereits die elektrisch betriebenen Nahverkehrsmittel U-Bahn und Straßenbahn, die aber aufgrund begrenzter Reichweiten und Beförderungskapazitäten die S-Bahn nicht ersetzen konnten. Die nach langen Versuchen und immer wieder verworfenen Planungen schließlich 1924 gestartete und 1930 weitgehend abgeschlossene Elektrifizierung der S-Bahn war schlicht eine Notwendigkeit, um die Mobilität in der boomenden Metropole zu gewährleisten. Berlin verfügte nun über eines der modernsten Nahverkehrssysteme der Welt – und das nicht nur technisch, sondern auch infrastrukturell, denn die Verbindung aus einer Ringbahn mit einer zentralen Stadtbahn, einer Nord-Südachse und zahlreichen Außenästen war wirklich ein ganz großer Wurf.

Es folgte der verheerende Zweite Weltkrieg, der besonders in den letzten Kriegsmonaten auch die Berliner S-Bahn beträchtlich in Mitleidenschaft zog. Die konnte allerdings relativ schnell ihren Betrieb Stück für Stück wieder aufnehmen, denn den Siegermächten war klar, dass ihr Funktionieren für den Wiederaufbau Berlins unerlässlich war. Daran änderte auch eine ganz besondere politische Skurrilität nichts, die durch den Viermächte-Status der Stadt entstand. Denn während sich die Verkehrsplanungen und die Infrastruktur im sowjetisch besetzten Ostsektor und in den Westsektoren zunehmend eigenständig entwickelten, verblieben sowohl das Eigentum als auch die Betriebsrechte der Berliner S-Bahn bei der Reichsbahn der DDR, also auch den Verkehr in Westberlin betreffend. Daran änderte auch die Währungsreform samt Einbeziehung Westberlins in die D-Mark und die Gründung der beiden deutschen Staaten nichts Wesentliches. Die S-Bahn fuhr weiter durch die ganze Stadt und in die angrenzenden Vororte, von Wannsee nach Oranienburg, von Bernau bis Lichtenrade oder vom Bahnhof Zoo zum Alexanderplatz. Auch der Ring umschloss weiterhin lückenlos die innerstädtischen Bezirke von Ost- und Westberlin.

Große Zäsur nach dem Mauerbau

Die große Zäsur kam erst im August 1961, als die DDR die Grenzen zu Westberlin abriegelte. Die S-Bahn-Linien wurden an den Grenzen gekappt, einige durchquerten seitdem ohne Halt in den aufwändig gesicherten „Geisterbahnhöfen“ die Ostbezirke, um von nördlichen zu südlichen Teilen Westberlins zu gelangen. Nur in einem Ostberliner Bahnhof, der Friedrichstraße, gab es einen Halt für Westberliner Fahrgäste. Dort gab es einen Transitbereich, einen Grenzübergang und nicht zuletzt die bei preisbewussten Westberlinern sehr beliebten Intershops, in denen man sich billig mit Schnaps und Zigaretten eindecken konnte.

Am auch für Westberlin geltenden Status der S-Bahn als DDR-Betrieb änderte aber auch das nichts. Dort tätige Westberliner waren Angestellte der Deutschen Reichsbahn, unterlagen dem DDR-Arbeitsrecht und waren in der DDR kranken- und rentenversichert. Ihr Gehalt erhielten sie natürlich in D-Mark, denn die DDR-Mark war in Westberlin nichts wert. Und die Transportpolizei der DDR hatte weiterhin hoheitliche Rechte auf den Westberliner S-Bahnhöfen und den Gleisanlagen.

Dennoch war der Mauerbau natürlich eine Zäsur. Die Westberliner Politik, die zuvor eine Art friedlicher Koexistenz mit der S-Bahn praktiziert hatte, startete einen mehrstufigen ökonomischen Vernichtungsfeldzug gegen das nunmehr verhasste DDR-Staatsunternehmen. Zunächst wurde unter der Losung „Wer S-Bahn fährt, finanziert den Stacheldraht“ zum Boykott aufgerufen, allen voran die meinungsmächtige Springer-Presse, aber auch der Deutsche Gewerkschaftsbund. Vor vielen S-Bahnhöfen erlebten Fahrgäste ein regelrechtes Spießrutenlaufen, wurden als „Komplizen der Mauermörder“ beschimpft und mitunter auch bespuckt oder anderweitig tätlich angegriffen. Schon in den ersten Tagen ging die Zahl der S-Bahn-Benutzer von täglich einer halben Million auf weniger als 100.000 zurück, was natürlich auch auf den Ausfall der Ost-West-Berufspendler zurückzuführen war.

Doch den Verantwortlichen war klar, dass diese Mobilisierung des Pöbels nicht ausreichen würde, um die S-Bahn kleinzukriegen. Und so setzte man in der Verkehrsplanung auf „Alternativen“ zur S-Bahn – zum einen auf neue Trassen der Stadtautobahn, die unmittelbar parallel entlang der S-Bahn-Trassen liefen, zum anderen auch auf die Erweiterung des U-Bahn-Netzes und neue Buslinien.

Die Strategie hatte Erfolg. Während die S-Bahn in Ostberlin ein zentraler Mobilitätsanker blieb und auch weiter ausgebaut wurde, sanken in Westberlin die Fahrgastzahlen drastisch. Für die DDR-Reichsbahn wurde der Betrieb im Westen immer defizitärer. Es wurde kaum noch etwas investiert, und peu à peu wurden Bahnhöfe stillgelegt und später auch ganze Linien eingestellt. Es gab auch Reallohnsenkungen sowie Entlassungen und in Verbindung damit im September 1980 Streiks – auf die die Reichsbahn mit über 200 fristlosen Kündigungen reagierte.


Das Reichsbahnlied wurde 1982 anlässlich einer Ausstellung zur Geschichte der Berliner S-Bahn auf einer Schallplatte veröffentlicht. Text und Musik: Rainer Balcerowiak

Der Berliner Senat verhielt sich zunächst bedeckt, doch allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass eine komplett marode S-Bahn mit nur noch ein paar Stummelstrecken nicht im städtischen Interesse sein konnte. Aber es ging eben auch um komplizierte politische Statusfragen, und ohne die Zustimmung der alliierten Besatzungsmächte war eine tragfähige Lösung des Problems nicht möglich. Es gab dann entsprechende Sondierungen und auch Vorschläge. Nach langwierigen Verhandlungen war es dann im Januar 1984 so weit. Die städtische BVG übernahm die Betriebsrechte für das Westberliner S-Bahn-Netz, und es wurde sehr viel Geld investiert, um den Betrieb zu reaktivieren und zu modernisieren. Alle Westberliner Reichsbahner wurden übernommen, und auch die Erneuerung des in die Jahre gekommen Fuhrparks wurde durch die Beauftragung neuer Baureihen in Angriff genommen.

1990 kam dann die nächste große Zäsur. Nach der Wiedervereinigung stand natürlich auch die Wiedervereinigung des Berliner S-Bahn-Netzes und ihres Betriebs auf der Agenda. Die gekappten Verbindungen wurden im Verlauf mehrerer Jahre wieder hergestellt. Die Betriebsrechte gingen 1990 formal zwar wieder an die Deutsche Reichsbahn, was aber aufgrund deren fortschreitender Integration in das bundesdeutsche System zunächst keine negativen Auswirkungen hatte.

Während die Zeit nach der Übernahme der Betriebsrechte durch die BVG allgemein – auch von den Beschäftigten – als Aufbruchphase und Erfolgsstory wahrgenommen wurde, werkelte die Nachwende-Bundesregierung bereits an einer „Jahrhundertreform“ für die Bahn, an deren Folgen der Schienenverkehr bis heute gewaltig zu knabbern hat. 1994 wurde Vollzug gemeldet. Der Bundestag beschloss die Überführung der Deutschen Reichsbahn und der Bundesbahn in eine bundeseigene Aktiengesellschaft, die Deutsche Bahn AG – also eine rechtliche Privatisierung mit dem Ziel, das Unternehmen profitabel zu machen, und der Perspektive, Teile auszugliedern und an die Börse zu bringen. Die Berliner S-Bahn wurde ein Tochterunternehmen der Bahn AG.

Wie die S-Bahn zur Schrott-Bahn wurde

Was nun (nicht nur) für die S-Bahn folgte, war ein beispielloser Kahlschlag, der das einst weltweit bewunderte Schienennahverkehrsunternehmen nicht ruckartig, dafür aber kontinuierlich in den Abgrund bis an den Rand der Betriebsfähigkeit brachte. Es wurde gespart, bis es quietscht – am Personal, an Werkstattkapazitäten für die Wartung, an der Instandhaltung des Netzes und sogar an der Betriebssicherheit neuer Fahrzeugreihen. Und als Anfang des neuen Jahrtausends allmählich die Börsenpläne der Bahn AG in den Fokus gelangten, wurden die Schrauben weiter angezogen. 2005 wurde der Berliner S-Bahn vom Konzern unter anderem die Verkleinerung des Fuhrparks und die Schließung ganzer Werkstätten verordnet, um die abzuführenden „Gewinne“ auf 125 Millionen zu steigern.

So richtig in den Fokus der Öffentlichkeit gelangte diese Entwicklung, als sich ab 2008 Berichte über schwere Pannen und Unfälle häuften. So versagten bei einer Baureihe (BR 481) im Winter regelmäßig die Sandstreuanlagen zur Bremskraftverstärkung, weil die Behälter eingefroren oder nicht korrekt befüllt waren. Bei einem dadurch bedingten Unfall am Bahnhof Südkreuz gab es 33 Verletzte. Die Züge durften daraufhin nur noch 60 Kilometer pro Stunde fahren, was den Fahrplan erheblich durcheinanderbrachte. Ebenfalls bei dieser „modernsten“ Baureihe gab es mehrere Radbrüche, weil die Intervalle für die Prüfung und den laufleistungsbedingten Austausch der entsprechenden Teile entgegen entsprechender Vorschriften „gestreckt“ worden waren. Bei anderen Baureihen versagten immer häufiger die Türschließanlagen oder die Bremszylinder, und es gab auch Fälle, wo sich bei laufender Fahrt die Kupplungen zwischen Zugteilen lösten – von stetigen Pannen durch marode Signal- und Weichentechnik ganz zu schweigen.

Im Sommer 2009 platzte dann dem Eisenbahnbundesamt (EBA) der Kragen. Das Unternehmen musste fast die Hälfte seines Fuhrparks aus dem Verkehr ziehen und einer nachweislich gründlichen Überprüfung unterziehen. Mehrere Linien wurden komplett oder teilweise stillgelegt, außer der Ringbahn fahren alle anderen nur im 20-Minuten-Takt. Zeitweilig drohte sogar eine komplette temporäre Stilllegung. Und im EBA gab es seinerzeit offenbar Überlegungen, der S-Bahn GmbH aufgrund mangelnder Zuverlässigkeit die Betriebsgenehmigung zu entziehen, wie Insider berichteten.

Jetzt zog man bei der Bahn AG die Notbremse und wechselte die gesamte Führungsriege der Berliner Tochter aus. In überraschendem Tempo wurden die Werkstattkapazitäten wieder hochgefahren, auch personell. Die besonders störanfälligen Baureihen wurden nunmehr mit erheblichem finanziellen Aufwand durch Sonderzuwendungen des Konzerns umfassend modernisiert und die Wartungsintervalle deutlich verkürzt. Ferner begannen die ersten Planungen für eine neue Baureihe, die auf der Ringbahn und einigen Außenästen ältere Züge ersetzen sollte. Das hat auch einigermaßen geklappt, ist aber wohl weniger der Einsicht des Konzerns, sondern eher der nackten Angst geschuldet, ausgerechnet in der deutschen Hauptstadt den prestigeträchtigen Betrieb des einstmals führenden Schienennahverkehrssystems zu verlieren.

Wird jetzt alles gut? Eher nicht.

Was natürlich nicht heißt, dass bei der Berliner S-Bahn jetzt alles im Lot ist. Im Gegenteil: Ein „operativ kaum noch zu beherrschendes Niveau“ attestierte die S-Bahn sich selbst in einem Bericht an das Berliner Abgeordnetenhaus im Juli 2024. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Störungen noch einmal gestiegen, auf mehr als 44.000 – ein Plus von 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dem Bericht zufolge waren 21 Prozent mehr Züge verspätet als noch 2022, die Zahl der ausgefallenen Züge stieg von 2022 auf 2023 um mehr als 52 Prozent.

Anders als 2009 hat das jetzt weniger mit kaputten und unfallträchtigen Zügen zu tun, sondern eher mit der notwendigen Sanierung des systematisch zu Schrott gefahrenen Schienennetzes und der Signal- und Stellwerkstechnik. Und auch der immer wieder neu verkündete Eröffnungstermin für eine enorm wichtige Neubaustrecke, die S21, die den Hauptbahnhof mit der Ringbahn und der Nord-Süd-Bahn verbinden soll, ist längst zum Running Gag geworden. Ursprünglich ging die Bahn davon aus, dass die S21 bereits 2006 zusammen mit dem neuen Hauptbahnhof in Betrieb gehen könnte, doch zunächst gab es keine Finanzierungszusage des Bundes. Dann wurde zwar fleißig geplant und ab 2011 auch gebuddelt, um wenigstens den ersten Teilabschnitt bis 2017 fertigzustellen.

Doch immer wieder gab es Pannen und „unerwartete Hindernisse“, die zu Bauverzögerungen führten. Bis 2020 sollte es dann wenigstens eine Zwischenlösung geben, mit einem provisorischen Bahnsteig unter dem Hauptbahnhof – na gut, 2021, weil es weitere Bauverzögerungen u.a. wegen Wassereinbrüchen gab. Dann stellte man fest, dass einige Bauvorleistungen, wie etwa Betoneinfassungen einer Brückenkonstruktion, so mangelhaft waren, dass sie komplett erneuert werden müssten. Na dann eben 2023. Es folgte eine Transformatorenstation, die wegen Material- und Personalknappheit nicht pünktlich geliefert werden konnte. Macht nix, 2024 ist ja nur wenig später, im Dezember soll es so weit sein – oder auch nicht. Und wie erwähnt: Es handelt sich nur um den ersten von drei Teilabschnitten der neuen Linie, die nunmehr 2037 komplett fertig sein soll.

Egal, jetzt wird erst mal gefeiert. Und wir sollten froh sein, dass die große Elektrifizierung des Berliner S-Bahn-Netzes 1924 startete und nach sechs Jahren weitgehend vollendet war. Für ein vergleichbares Bahn-Projekt müsste man heutzutage wohl eher 60 als sechs Jahre veranschlagen.

Titelbild: Tupungato/shutterstock.com

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