Bei aller mehr als berechtigten Kritik an den etablierten Medien findet man hin und wieder auch eine Perle im Ozean der Belanglosigkeiten und Meinungsmache. Eine solche Perle ist das heute auf SPIEGEL.de erschienene Interview mit dem ehemaligen Investmentbanker Gary Stevenson. Leider ist diese Perle, wie eigentlich fast immer, wenn es mal etwas Lesenswertes im SPIEGEL gibt, hinter der Bezahlschranke „versteckt“. Die NachDenkSeiten fassen den Inhalt kurz zusammen. Von Jens Berger.
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Die Länder des Westens befinden sich in einer tiefen Strukturkrise. Diese Krise wird immer offensichtlicher und dennoch doktert der politisch-mediale Sektor lieber stetig – mal mehr, mal weniger sinnvoll – an den Symptomen herum, anstatt der Ursache auf den Grund zu gehen. Die Ursache ist die immer massiver werdende Ungleichheit. „Die Ungleichheit wird schneller wachsen und schließlich außer Kontrolle geraten“, so das pessimistisch-realistische Fazit von Gary Stevenson. Die „westliche Welt [habe zwar] inzwischen ein wirtschaftliches Management entwickelt, mit dem sich dramatische Zusammenbrüche vermeiden lassen“. Doch „anstelle eines dramatischen Zusammenbruchs führten Krisen“, wie beispielsweise die Covid-Lockdowns, nun „zu einer Verelendung“ breiter Teile der Mittelschicht.
Wer das sagt, ist keiner der üblichen Verdächtigen, sondern ein ehemaliger Investmentbanker. Gary Stevenson wuchs in den bescheidenen Verhältnissen des Londoner Ostens auf und hatte sich dennoch aufgrund seiner mathematischen Fähigkeiten über Eliteuniversitäten in die Investmentabteilung der Citibank hochgearbeitet, wo er als „erfolgreichster Trader der Bank“ mehrere Millionen verdiente. Sein Erfolgsrezept: Er misstraute den „Wahrheiten“ der klassischen Ökonomie, erkannte früh, dass die wachsende Vermögensungleichheit das Kernproblem ist und durch die makroökonomischen Maßnahmen der westlichen Regierungen noch weiter verschärft wird. So wettete er beispielsweise, anders als der Großteil des Marktes, darauf, dass die Zinsen – „trotz“ der Stimuli der Notenbank – lange Zeit nicht steigen werden.
Wäre Stevenson ein typischer Investmentbanker, könnte er wohl seine persönliche Erfolgsgeschichte erzählen. Doch Stevenson erkannte, dass sein persönlicher ökonomischer Erfolg mit der Verelendung seiner Familie und seiner Freunde einherging, die wie er aus „einfachen“ Verhältnissen stammten. Also kündigte er seinen Job und kämpft seitdem für eine stärkere Besteuerung der Reichen, um den sich abzeichnenden Zusammenbruch unserer Gesellschaft vielleicht doch noch zu verhindern.
Bereits 2006 erkannte der Star-Investor Warren Buffett: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“ Die Geschwindigkeit der Umverteilungsspirale von unten nach oben nimmt seitdem immer mehr an Fahrt auf. Steigende Immobilien- und Aktienpreise werden dabei von den klassischen Medien als Zeichen eines wirtschaftlichen Booms wahrgenommen. Das ist absurd, führen beispielsweise steigende Immobilienpreise doch nur dazu, dass es für die Mittelschicht noch schwerer geworden ist, sich selbst ein Haus zu bauen oder zu kaufen. Stevenson spricht in diesem Kontext von einer „Enteignung der Mittelschicht und einem Übergang der Mittelschicht in Armut“. Schuld daran seien die Reichen und Mächtigen, die jegliches Maß verloren haben und nicht verstehen, dass sie den Ast absägen, auf dem auch sie selbst sitzen.
Stevenson: Reiche versuchen, ihren Reichtum und ihre Macht zu vergrößern. Aber sie sind dumm. Denn die Geschwindigkeit, mit der sie die Mittelschicht enteignen und die Lebensstandards für normale Leute verringern, ist so hoch, dass sie die westlichen Gesellschaften destabilisieren. Und das sind dieselben Gesellschaften, die ihnen einen unglaublich luxuriösen Lebensstandard bieten. Wenn sie weise wären, würden sie versuchen, das soziale Konstrukt zu bewahren. Aber die meisten reichen Leute sind einfach ungesund besessen davon, reicher zu werden.
Das Alles ist natürlich nicht wirklich neu. In meiner jüngst erschienenen Neuauflage des Buches „Wem gehört Deutschland?“ komme ich zum gleichen Ergebnis und nenne auch die gleichen Gründe, die auch Stevenson aufführt. Aber wir wissen ja: Es kommt immer darauf an, wer etwas sagt. Und bei den Entscheidern und Multiplikatoren dürften die Aussagen eines erfolgreichen Investmentbankers hoffentlich auf offenere Ohren stoßen als die Aussagen eines ohnehin kritischen Wirtschaftsjournalisten. Daher kann man auch nur hoffen, dass das Interview mit Stevenson möglichst weite Verbreitung findet. Die Botschaft ist wichtig und wohl auch alternativlos: Wenn wir nicht schleunigst gegensteuern und die Vermögensschere wieder schließen, wird unsere Gesellschaft zusammenbrechen.
Gary Stevenson hat übrigens auch ein Buch geschrieben – ich werde es mir mal bestellen und für die NachDenkSeiten eine Rezension verfassen.
Titelbild: Screenshot SPIEGEL.de