Ehemalige DDR-Bürgerrechtler haben in einem infamen Offenen Brief an die „demokratischen Parteien“ appelliert, keine Koalition mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) einzugehen. Der Brief ist inhaltlich und stilistisch unmöglich – er sagt dadurch mehr über die aktuelle Debattenkultur aus als über das BSW. Derweil kündigt das BSW eine konsequente Aufarbeitung der Corona-Politik an – notfalls auch mit Stimmen der AfD. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Norbert Häring hat kürzlich in diesem Artikel anlässlich eines diffamierenden „Faktenchecks“ der ARD zum BSW festgestellt:
„Mit der Kampfschrift signalisiert die ARD allen Journalisten des Senders und darüber hinaus des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Das Themenfeld Russland-Ukraine-Nato und die Haltung des BSW dazu haben höchste Priorität. Ab jetzt gilt: auf sie mit Gebrüll.“
Als eine weitere Ausprägung dieses angekündigten „Gebrülls“ auf anderer Ebene kann man wohl diesen aktuellen Vorgang bewerten: Die Tagesschau berichtet in diesem Artikel darüber, dass ehemalige DDR-Bürgerrechtler vor einer Regierungsbeteiligung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) „warnen“ würden. Es herrsche eine „große Beunruhigung“, dass das BSW mitregieren könnte, vor allem wegen der außenpolitischen Positionen des BSW, sagte die ehemalige Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde, Marianne Birthler. Diese Sorge sei auch Tenor eines Offenen Briefes, der laut Birthler von Sachsen ausging und von ihr unterstützt wird. Auch der frühere Bürgerrechtler und letzte DDR-Außenminister, Markus Meckel (SPD), bestätigte, dass er das Schreiben mitträgt.
„Nationaler Sozialismus“
In dem auf der Plattform X veröffentlichten Text werden vor allem Aussagen von BSW-Mitgliedern zum Krieg in der Ukraine als „falsch“ dargestellt, Wagenknecht wird direkt der Lüge bezichtigt. Der Brief ende in einem Appell an die „demokratischen Parteien“ und vor allem die CDU, sich genau zu überlegen, ob sie nach den Landtagswahlen eine Koalition mit dem BSW eingehen oder sich tolerieren lassen wollten. Zudem sollten sich die Parteien klarer vom „nationalen Sozialismus“ des BSW distanzieren, heißt es in dem Offenen Brief weiter. Dahinter stehen nach Angaben der Initiatoren 58 Personen. Wagenknecht reagierte folgendermaßen:
„Der Brief ist wohl kaum im Sinne der DDR-Bürgerrechtsbewegung, von der sich viele unter den Slogans ‘Frieden schaffen ohne Waffen’ und ‘Schwerter zu Pflugscharen’ für Frieden, Diplomatie und ein Ende des Wettrüstens einsetzten. (…) Das Bemühen um eine diplomatische Beendigung des Ukraine-Krieges als russische Propaganda zu diffamieren, ist auch eine Beleidigung für Millionen Ostdeutsche, die zu Recht Angst vor einem großen europäischen Krieg haben.“
Außerdem: Was daran „demokratisch“ sein soll, eine neue Partei (und damit deren Wähler) pauschal zu ignorieren, müssten die Autoren noch klären. Dazu, dass die Forderungen des Offenen Briefes den politischen Realitäten und den wahrscheinlich entstehenden Mehrheiten in den betreffenden Bundesländern in keiner Weise gerecht werden, hat sich in den „Hinweisen das Tages“ bereits André Tautenhahn geäußert. Nicht behandelt werden soll in diesem Text die Frage, ob das BSW überhaupt jetzt schon in Regierungen eintreten sollte oder nicht.*
Die mutmaßlich gewollte Nähe des in dem Brief gewählten Ausdrucks „nationaler Sozialismus“ zum „Nationalsozialismus“ zeigt das Niveau der Autoren, die auch vor der Nutzung von harten (und politisch total abwegigen) Kampfbegriffen nicht zurückschrecken: Inhaltlich und politisch nicht ernst zu nehmen, geht es in dem Brief meiner Meinung nach ausschließlich um billige Diffamierung und kurzfristige Punktgewinne im Meinungskampf.
Wagenknecht ergänzte zu dem Brief noch: Hier solle offenbar eine neue Partei, die vielen Menschen aus dem Herzen spreche, wenige Wochen vor entscheidenden Wahlen diskreditiert werden. „Dass sich aktuell viele Ostdeutsche bei politischen Debatten wieder an die Enge der DDR-Zeit erinnert fühlen, müsste eigentlich frühere Bürgerrechtler auf den Plan rufen.“ Doch hätten die Briefeschreiber offenkundig den Kontakt zur Bevölkerung weitgehend verloren.
Der Brief wird außer in der Tagesschau erwartungsgemäß auch breit und unkritisch in vielen weiteren Medien zitiert, etwa in der Zeit, oder im Spiegel oder im Deutschlandfunk.
Im September werden in Thüringen, Sachsen und Brandenburg neue Landtage gewählt. In Umfragen erreicht das BSW in den drei Ländern teils Werte von 15 bis 20 Prozent. Die CDU in den drei Ländern hat eine etwaige Zusammenarbeit mit der neuen Partei nicht ausgeschlossen.
Wagenknecht hatte vergangene Woche gesagt, das BSW werde sich nur an einer Landesregierung beteiligen, „die auch bundespolitisch klar Position für Diplomatie und gegen Kriegsvorbereitung bezieht“ – diese sehr gute Äußerung hatte teils wütende Reaktionen hervorgerufen, über die wir im Artikel „BSW ist ein ‚Kreml-Ableger‘ – Wie Wagenknechts Koalitions-Aussage einschlägt“ berichtet hatten.
BSW: Corona-Aufarbeitung – auch mit Stimmen der AfD
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtet im Artikel „Wie radikal ist die Wagenknecht-Partei bei der Corona-Aufarbeitung?“, dass das BSW nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sowie nach der Bundestagswahl 2025 parlamentarische Untersuchungsausschüsse zur Aufarbeitung der Corona-Maßnahmenpolitik einrichten wolle. Und das wird durch die Überschrift in die Nähe der „Radikalität“ gerückt? BSW-Gesundheitsexperte Friedrich Pürner sagte dem Medium:
„Es muss auf jeden Fall einen Untersuchungsausschuss im Bundestag geben. Nur ein Untersuchungsausschuss kann Zeugen vorladen und Akteneinsicht ohne Hürden erhalten. Ein Untersuchungsausschuss kann Beweis erheben und hat auch Zwangsbefugnisse.“
Das BSW werde nach den Landtagswahlen im Osten und auch im nächsten Bundestag Anträge einbringen, Untersuchungsausschüsse einzurichten, sagte Pürner. Für diese guten und wichtigen Vorstöße würde er auch eine Unterstützung durch die AfD nicht ausschließen:
„Wir hoffen, dass möglichst viele aus anderen Fraktionen, und dazu gehört auch die AfD, diesem Anliegen zustimmen.“
Die Aufarbeitung sei „eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ und müsse „über Parteigrenzen hinweg angepackt“ werden. Dazu gehöre auch die AfD. „Für Brandmauern und Kontaktschuld ist kein Platz. Beides ist absolut kontraproduktiv für eine Aufarbeitung und wird auch dem Wunsch der Bevölkerung nicht gerecht“, sagte Pürner dem RND. Außer der AfD, die beispielsweise in Brandenburg und Hessen Untersuchungsausschüsse durchgesetzt hat, befürwortet laut RND keine Partei dieses Instrument.
Der 57-jährige Pürner leitete bis 2020 ein bayerisches Gesundheitsamt, protestierte gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung von Markus Söder (CSU) und verlor seinen Posten. Für das BSW zog er im Juni ins EU-Parlament ein. Er leitet in der Partei den Expertenrat zur Corona-Aufarbeitung. Das BSW will in solchen Räten mit Expertise von außen bis 2025 ein Parteiprogramm erarbeiten.
Pürner wünscht sich eine Aufarbeitung in drei „Säulen“: eine wissenschaftliche, eine politische und eine gesellschaftliche. Der BSW-Politiker fordert etwa einen „Tag der Versöhnung“, an dem einmal im Jahr „an die Maßnahmen erinnert wird, die die Gesellschaft krank gemacht haben“. Den Skeptikern solle bestätigt werden: „Ihr hattet mit vielem recht.“ Aber auch den „Ängstlichen“ solle „ihre Angst vor Krankheit und Tod durch eine unbekannte Krankheit anerkannt“ werden. Weniger versöhnlich äußert sich Pürner gegenüber den politisch Verantwortlichen:
„Es war eine Lüge, die ‚Pandemie der Ungeimpften‘ auszurufen. Und es war eine Täuschung und eine Hetze, die Menschen gegeneinander aufgebracht hat. Besonders Lauterbach und Söder haben hier keine gute Figur abgegeben.“
Er erwarte „eine Entschuldigung und eine Verantwortungsübernahme der Entscheidungsträger auf allen Ebenen – und hoffentlich von dem einen und anderen die Einsicht, dass er oder sie nicht mehr für ein politisches Amt geeignet ist und zurücktreten muss“.
*Ergänzung 6.8.2024, 12:30: Dieser Satz wurde hinzugefügt.
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