Ein Interview mit Andrew Lowenthal, dem Gründer und Geschäftsführer von liber-net. Lowenthal ist ein australischer Aktivist deutsch-jüdischer Herkunft und Experte für Bürgerrechte im digitalen Raum. Wir sprachen mit ihm über seinen Werdegang, seine Arbeit und die aktuelle Situation rund um Zensur und Meinungsfreiheit in Deutschland und Europa. Das Interview führte Maike Gosch.
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Maike Gosch: Lieber Andrew Lowenthal, könnten Sie uns zum Einstieg ein wenig über sich erzählen und darüber, wie Sie dazu gekommen sind, sich mit den Themen Meinungsfreiheit und Zensur zu beschäftigen?
Andrew Lowenthal: Ich wurde in Australien geboren und bin dort größtenteils aufgewachsen. Ich habe ein Studium der Medienwissenschaften abgeschlossen und hab dann in meinen späten Teenagerjahren und frühen Zwanzigern angefangen, mich sehr für linke Aktivismusformen zu interessieren – vor allem für den vernetzten, libertären Aktivismus, der in den späten Neunzigern aufkam. Dazu gehörte die Arbeit an Themen wie Flüchtlingspolitik, Anti-Atomkraft, indigene Umweltfragen, und ich war Teil der „Anti-Globalisierungs-Bewegung“.
Im Jahr 2000 half ich dabei, eine große Protestaktion in Melbourne gegen das Weltwirtschaftsforum zu organisieren. Es war eine Koalition aus linken Gruppen. Mein Hauptfokus lag jedoch darauf, im frühen 21. Jahrhundert neu entstandene internetbasierte Medien wie Indymedia zu entwickeln.
Dann musste ich irgendwann einen Job finden. Also entschied ich mich, mir selbst einen Job zu schaffen, und gründete eine NGO namens EngageMedia, die es auch heute nach fast 20 Jahren noch gibt und die sich mit digitaler Meinungsfreiheit und Menschenrechten beschäftigt. EngageMedia ist im asiatisch-pazifischen Raum aktiv, insbesondere in Indonesien, den Philippinen, Thailand, Myanmar, Singapur und Malaysia sowie in Teilen Ost- und Südasiens. Ich weiß, dass sie gerade eine Veranstaltung in Taiwan rund um digitale Meinungsfreiheit organisieren.
Wir starteten als Projekt zur Schaffung einer Online-Videoplattform namens Cinemata für Dokumentarfilme über Menschenrechte und soziale und Umweltprobleme im asiatisch-pazifischen Raum. Nach fünf oder sechs Jahren fokussierten wir uns mehr auf die digitalen Aspekte der Meinungsfreiheit und auf digitale Sicherheit. Vor etwa eineinhalb Jahren übergab ich die Leitung an einen neuen Direktor. Danach gründete ich die NGO liber-net, die sich auf digitale Bürgerrechte und digitalen Autoritarismus im Westen konzentriert, rund um Themen wie Zensur, Meinungsfreiheit und Überwachung, sowie auf die zunehmenden digitalen Zugangsschranken, die durch Technologien entstehen, etwa während Covid mit den Impfpässen und nun vermehrt im Zusammenhang mit digitalen IDs und programmierbarer Währung – im Wesentlichen auf Systeme der digitalen sozialen Kontrolle.
Was war Ihre persönliche Motivation, an Themen wie Zensur und digitalen Bürgerrechten zu arbeiten?
Es gibt mehrere Gründe – die Erfahrungen meiner Großeltern als jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland spielen dabei sicher eine große Rolle. Es wurde mir dadurch eine sehr antiautoritäre Haltung mitgegeben. Nicht auf eine hippiehafte Art, sondern eher im Sinne von: „Hüte dich vor allem Autoritären!“ und dem Verständnis, dass die größte Bedrohung für Menschenrechte und Freiheit der Staat ist oder sein kann. Das bedeutet für mich, sehr aufmerksam zu werden, wenn Menschen marginalisiert werden, und auch auf andere Warnzeichen zu hören, „damit sie nicht eines Tages auch dich holen“. Diese Haltung führte mich zu linkem Aktivismus, der sich sehr für Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzte. Dann erkannte ich, dass ich meinen Beitrag im Bereich der Medien leisten und die Möglichkeiten des Internets nutzen wollte, um mich für Meinungsfreiheit und unabhängige Medien einzusetzen.
Sie haben ja auch an den Twitter-Files mitgearbeitet. Was war da Ihre Rolle?
(Anm. MG: Eine Einführung in die Twitter-Files finden Sie hier.)
Matt Taibbi, ein US-amerikanischer Journalist, der als erster Journalist Zugang zu den Twitter-Files erhielt, suchte jemanden, der ihm hilft zu verstehen, wer all die NGOs, akademischen Institutionen, Stiftungen und Regierungsstellen sind, die er in den Twitter-Files sah und die scheinbar häufig mit Twitter-Mitarbeitern kommunizierten. Durch meine Arbeit in einer NGO in diesem Bereich kannte ich viele der Netzwerke, Institutionen und Personen, die er dort sah. Also nahm er mich ins Team, um die Dateien zu durchforsten, auf die er Zugriff hatte. Gemeinsam mit ihm und einem größeren Team kartierten wir das Netzwerk, das als Censorship Industrial Complex (Zensur-Industriekomplex) bekannt wurde (mehr dazu hier). Ich leitete dieses Projekt, und daraus ergab sich die weiterführende Forschung in diesem Bereich.
Könnten Sie unseren Lesern ein wenig über die Westminster-Erklärung erzählen, an der Sie ebenfalls beteiligt waren? (Anm. MG: Die Westminster Erklärung ist eine von 173 prominenten Vertretern aus Wissenschaft, Kultur und Medien unterschriebene Erklärung, die für den stärkeren Schutz des Menschenrechts auf freie Meinungsäußerung plädiert.)
In vielerlei Hinsicht baute die Westminster-Erklärung auf den Twitter-Files auf. Sie wurde von Michael Shellenberger, einem der Twitter-Files-Journalisten, initiiert, um nicht nur zu kritisieren, sondern eine positive Erklärung zu formulieren von dem, was wir uns wünschen würden. Ich habe mit Michael Shellenberger zusammen ein Treffen von Journalisten und Aktivisten für Meinungsfreiheit organisiert, das im Juni 2023 in London stattfand. Es war ein „Big-Tent-Meeting“, an dem sowohl Menschen von links und rechts als auch politisch Heimatlose teilnahmen. Alle waren besorgt über die wachsende Einschränkung der Meinungsfreiheit, und das Ergebnis war: Lasst uns eine Erklärung veröffentlichen, da es keine gab, die sich spezifisch mit Internetzensur befasst. Es gibt andere Briefe wie den Harpers-Brief, aber dieser war eher ein Aufruf zu zivilisiertem Gespräch, während die Westminster-Erklärung speziell ein Zeichen gegen das neu entdeckte und durch die Twitter-Files öffentlich gemachte System der digitalen Zensur setzen wollte.
Wir wollten das Problem erklären und dann eine positive Beschreibung dessen geben, was wir sehen möchten. Es war eine Kritik an der Instrumentalisierung von „Bekämpfung von Desinformation“ und „Bekämpfung von Hassrede“ als Mittel zur Rechtfertigung von Zensur. Es wurde von einem sehr breiten Spektrum an Menschen unterzeichnet. Auf der linken Seite hatten wir Personen wie Chris Hedges, Aaron Maté, Slavoj Žižek, Edward Snowden, Oliver Stone, Tim Robbins, Julian Assange, Glenn Greenwald, Yannis Varoufakis und Stella Assange. Auf der rechten Seite Personen wie Steven Pinker, Richard Dawkins, John Cleese, Jordan Peterson und Barry Weiss. Es ist also sehr lagerübergreifend und speziell darauf ausgelegt, da wir wollten, dass die Aussage ist: „Jeder hält dieses Ausmaß an Zensur für eine schlechte Idee.“
Wie waren die Reaktionen, und was hat die Erklärung aus Ihrer Sicht bewirkt?
Die Veröffentlichung hat gut funktioniert. Zum Beispiel wurde sie in Deutschland u.a. von der Welt, vom Cicero und auch hier auf den NachDenkSeiten veröffentlicht. Sie erschien auch in Zeitungen in Frankreich und Spanien, der New York Post in den USA sowie in The Times und The Telegraph in England. Wir erhielten tatsächlich eine große Medienaufmerksamkeit. Die Reaktionen variierten allerdings je nach Person; einige Menschen reagierten sehr positiv, während die Medien sie eher ablehnten oder sich nur auf die rechten Unterzeichner konzentrierten und die linken ignorierten, um zu suggerieren, dass sie irgendwie anrüchig sei und man sich von ihr fernhalten solle.
Ich denke, die Wirkung war gut im Sinne der Sensibilisierung und des Verständnisses der Art und Weise, wie der „Kampf gegen Desinformation“ hauptsächlich zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit verwendet wird. Es war eine Art Weckruf. Es gab vor einem Monat ein Folgetreffen in Westminster, ein dreitägiges Event. Davon werden bald viele der Videos der Vorträge veröffentlicht. Ich denke, der Haupteffekt war die Bewusstseinsbildung, und viele Menschen nutzen es als eine Art Flagge, die sie schwenken können und sagen: „So möchten wir über Meinungsfreiheit in der Zukunft denken.“ Es gibt keine Pläne, weiter etwas damit zu tun, außer die ab jetzt jährlich stattfindende Veranstaltung in Westminster.
Oft wird in Deutschland, wenn Menschen vom Censorship-Industrial-Complex hören, gesagt, es sei eine Verschwörungstheorie. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Es gibt inzwischen eine sehr große Menge an Beweisen, dass eine massive Anzahl von Organisationen koordiniert tätig ist, um Inhalte im Internet zu zensieren. Tatsächlich erkennen inzwischen viele liberale und linke Menschen und Organisationen an, dass dies geschieht. Am Anfang der Twitter-Files kam öfter der Einwand „Oh nein, das ist eine Verschwörungstheorie. Nichts davon passiert etc.“. Jetzt sagen die meisten Menschen: „Ja, die Regierung und NGOs sind an der Moderation von Inhalten beteiligt. Aber es ist in Ordnung. Es ist legal. Regierungen sollten sich darum kümmern und die Menschen vor Desinformationen schützen.“ Es ist jetzt sehr schwer, Leute zu finden, die noch sagen, dass das nicht passiert. Ich denke, der Kampf um die Anerkennung der Existenz des Censorship Industrial Complexes ist in vielerlei Hinsicht gewonnen. Jetzt dreht sich die Diskussion eher darum, ob es eine gute oder schlechte Idee ist.
Die andere Kritik ist, dass hinter diesem ganzen Kampf um die Meinungsfreiheit eine rechtsgerichtete und populistische Agenda steht. Was ist Ihre Antwort darauf?
Ich denke, zurzeit spüren und erleben Konservative die Zensur wahrscheinlich etwas mehr als Linke. Aber das ist nur eine Seite der Geschichte. Viele Menschen und Gruppen aus dem linken Spektrum werden ebenfalls zunehmend zensiert, zum Beispiel bei Fragen rund um Israel und Gaza. Es betrifft also jeden, der außerhalb des Machtzentrums steht. Zurzeit betrifft es die sogenannte Rechte etwas mehr, aber es kann sich leicht in die andere Richtung ändern. Und das ist eines der Hauptargumente für Linke und Linksliberale, die immer noch glauben, dass eine solche staatlich geförderte und „Inhaltsmoderation“ eine gute Idee ist: „Eines Tages könnten sie auch dich ins Visier nehmen.“ Und ich denke, das ist sicherlich bereits in der Debatte um Palästina passiert.
Und zu der Anschuldigung des „Populismus“: Das Anliegen IST populistisch, es geht ja um Stimmen aus der Bevölkerung, die von Eliten zensiert werden. Das ist eigentlich das Zentrale. Es geht nicht um links oder rechts. Es ist populistisch im Sinne von „für das Volk“, und es richtet sich gegen die Eliten.
Wie sehen Sie die Situation rund um Zensur und Meinungsfreiheit in Europa und Deutschland derzeit, wenn Sie diese aus Australien verfolgen?
Nun, aus der Ferne betrachtet sieht die Situation, was Meinungsfreiheit angeht, in Deutschland ziemlich schlecht aus, möglicherweise ist es die schlimmste in Europa.
Deutschland ist äußerst wichtig aufgrund seiner Macht in der EU und, weil die inhaltliche Vorarbeit (meist durch NGOs und aus dem wissenschaftlichen und akademischen Umfeld), die verwendet wird, um neue Systeme der Zensur zu rechtfertigen, in einem großen Maße in Deutschland entsteht. Es scheint mir, dass die USA hier an erster Stelle stehen, dann das Vereinigte Königreich und dann Deutschland schon an dritter Stelle.
Es hat aber auch Siege gegeben – es gibt inzwischen ein viel besseres Verständnis für den Censorship Industrial Complex und seine Auswirkungen, und es gibt immer mehr Menschen, die sich dagegen aussprechen. Das Stanford Internet Observatory, eine Schlüsselfigur im Zensur-Industrie-Komplex, musste kürzlich schließen. Gleichzeitig plant aber die neue Labour-Regierung in Großbritannien die Aufhebung des Free Speech Act, der darauf abzielte, die Meinungsfreiheit an Universitäten zu schützen, und die Zensoren geben den Kampf keineswegs leicht auf. Es gibt also noch viel zu tun.
Wie sehen Sie die Entwicklung der Situation in Europa und Deutschland? Wohin wird die gegenwärtige Entwicklung Ihrer Meinung nach führen?
Ich glaube, es läuft auf große Auseinandersetzungen hinaus. Es sieht leider nicht so aus, als würden die Eliten bereit sein, von ihren Internet-Zensur-Ambitionen abzurücken. Daher ist meine Einschätzung, dass sich immer mehr Menschen mobilisieren werden, um zu fordern, dass das Internet frei und offen bleibt.
Das bringt mich zu meiner letzten Frage: Was wäre Ihr Aufruf an die Öffentlichkeit, insbesondere an die deutsche oder europäische Öffentlichkeit? Was muss Ihrer Meinung nach jetzt getan werden?
Nun, mein Eindruck aus Gesprächen mit vielen Menschen in Deutschland ist, dass es sehr wenige Organisationen gibt, die sich speziell auf die Verteidigung der Meinungsfreiheit konzentrieren. Vielleicht weiß ich es auch nur einfach nicht. Aber wenn ich Leute frage, welche Organisationen in Deutschland die Meinungsfreiheit verteidigen, können sie kaum eine oder höchstens eine oder zwei nennen. Es scheint also eine massive Lücke zu geben, was die Organisation rund um dieses Thema angeht. Es wäre sehr wichtig, gut durchdachte, institutionalisierte Organisationen zur Verteidigung der Meinungsfreiheit aufzubauen.
Und dann ist es natürlich wichtig, rauszugehen und sicherzustellen, dass die Regierung versteht, dass ein freies und offenes Internet sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung eine rote Linie sind – und zu fordern, diese einzuhalten. Das Problem ist natürlich, dass viele Menschen, insbesondere auf der linksliberalen Seite, sogar wollen, dass die Regierung eingreift, um die freie Rede im Internet einzuschränken. Und ich denke, bis eine signifikante Anzahl von diesen Menschen realisiert, wie gefährlich die aktuellen Entwicklungen sind, wird es sehr schwer sein, diesen Kampf zu gewinnen und die Meinungsfreiheit wieder zur Norm zu machen.
Der einfachste und praktischste Weg, die Meinungsfreiheit zu unterstützen, ist aber, selbst frei zu sprechen. Die Macht dazu liegt direkt bei jedem selbst.
Entschuldigung, ich sagte letzte Frage, aber ich habe gerade an etwas gedacht, das ich fast jeden Tag auf einem Plakat hier in meiner Stadt sehe. Es zeigt eine prominente Person mit dem Zitat: „Hass ist keine Meinung.“ Was ist Ihre Antwort darauf?
Nun, wer definiert Hass? Was ist Hass? Und definiert die Regierung es? Definieren politische Parteien es? Was ist die Grenze? Was ist die Schwelle? War es nicht Ursula von der Leyen, die gesagt hat: „Hass ist Hass“? Wenn das die Definition ist, ist das eine sehr schlechte Definition. Ich denke auch, dass Unterdrückung oft Hassrede eher verstärkt. Wenn man versucht, sie zu unterdrücken, wächst sie tatsächlich, anstatt zu schwinden. Meiner Meinung nach gibt es bessere Taktiken und Strategien als Zensur.
Was denken Sie, wäre eine gute Strategie? Was sollte die Regierung Ihrer Meinung nach tun? Wie könnten die Dinge besser werden?
Nun, ich denke, zum einen sollte die Regierung weniger Druck und Zwang ausüben, denn ich denke, der Zwang fördert tatsächlich mehr Hassrede und radikalisiert Menschen. Der andere Punkt ist eine sehr neutrale Form der Bildung. Der dritte Punkt ist, Hassrede weniger Aufmerksamkeit zu schenken, denn auch dadurch wird sie eher verstärkt. Es wird dann ein großartiger Weg, um Aufmerksamkeit zu bekommen – wie bei Kindern: Wenn sie lernen, dass das Zerbrechen ihrer Spielsachen ihnen Aufmerksamkeit verschafft, werden sie es öfter tun.
Ich denke, es ist viel besser, offene Gespräche zu führen. Ich verstehe, dass das im Internet oft schwierig sein kann. Aber man kann das Internet auch ausschalten. Man muss nicht all diese Dinge lesen und anschauen. Vieles davon kann man einfach ignorieren. Und ich denke, dass es wichtig ist, keine moralische Panik darüber zu schüren und zu lernen, wie man ruhige und offene Gespräche über Unterschiede hinweg führt.
Vielen Dank für dieses Gespräch.
(Übersetzt aus dem Englischen von Maike Gosch.)
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