Die neue „Fähigkeit“, die Verteidigungsminister Boris Pistorius für die Bundeswehr vorsieht, ist auf die Austragung eines großen Krieges zwischen der atomar bewaffneten NATO einerseits und der Atommacht Russland andererseits gerichtet – und das im hochindustrialisierten und dichtbesiedelten Europa. Wir befinden uns in einer nach oben offenen Risikospirale. Von Bernhard Trautvetter.
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Die bi-laterale Vereinbarung zwischen der deutschen und der US-amerikanischen Regierung über die Stationierung von weitreichenden Präzisionsraketen in Deutschland begründet Boris Pistorius (SPD) mit einer ‚Fähigkeitslücke‘.
Bei der NATO geht es um einen Militärpakt mit drei Atommächten, die in einer nach oben offenen Risiko-Spirale im Krieg mit der Atommacht Russland in einem nuklear verstrahlten Kontinent Krieg führen können sollen, wie die Militärs selbst erkennen und beraten. Eine solche Politik ‚Sicherheitsstrategie‘ zu nennen, ist Gehirnwäsche mit einer Orwell’schen Sprachverwirrung. Niemand hat das Recht, Risiken, die auf das Ende der Zivilisation Europas mit seinen über 700 Millionen Bewohnern hinauslaufen, einzugehen.
Der beliebteste Politiker Deutschlands, Boris Pistorius, befasst sich mit derartigen sogenannten Kriegsführungsfähigkeiten, wenn er auf ‚Kriegstüchtigkeit‘ hinwirkt. Eine Strategie, die die Fähigkeit und Bereitschaft zur Führung eines Krieges einfordert, und die gegen das Friedensgebot des Grundgesetzes steht, ist nicht von Boris Pistorius eingeführt worden. Der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, forderte in einer Rede an 4. November 2020:
„…Die große Überschrift aller Bemühungen muss die Erhöhung der Kriegstauglichkeit unseres Materials sein …. Es braucht verlässlich wirksames, kriegstaugliches Großgerät, das von Soldaten auf dem Gefechtsfeld beherrscht, gewartet und repariert werden kann.“
Die von ihnen so genannte ‚Kriegstauglichkeit‘ , die mit der Hochrüstung verbunden ist und die die aktuelle Vereinbarung zwischen der US-Regierung und der Regierung Deutschlands offenbart, erfuhr während des NATO-Gipfels ihre erneute Konkretisierung:
„Nach Diskussionen in der Zeit vor dem NATO-Gipfel haben die Regierungen der Vereinigten Staaten und Deutschlands die folgende gemeinsame Erklärung veröffentlicht:
Die Vereinigten Staaten werden 2026 mit der schrittweisen Stationierung der Langstreckenfeuerfähigkeiten ihrer ‘Multi-Domain Task Force’* in Deutschland beginnen, als Teil der Planung für eine dauerhafte Stationierung dieser Fähigkeiten in der Zukunft. Im Endausbau werden diese konventionellen Langstreckenfeuereinheiten SM-6, Tomahawk und in der Entwicklung befindliche Hyperschallwaffen umfassen, die eine deutlich größere Reichweite haben als die derzeitigen landgestützten Feuerwaffen in Europa. Die Ausübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten wird die Leistungsbereitschaft der Vereinigten Staaten für die NATO und ihren Beitrag zur integrierten Abschreckung in Europa demonstrieren.“ (Übersetz.: B.T.)
Der Begriff ‘Multi-Domain Task Force’* wird verständlich, wenn wir zur Kenntnis nehmen, in welchem globalen Zusammenhang die Strategen ihn sehen:
„Den Angaben der U.S. Army nach wird sich die Multi-Domain Task Force Europe aus Kräften des elektronischen Kampfes, der Feldartillerie, der Flug- und Raketenabwehr sowie Spezialisten für Cyberwarfare und Aufklärung zusammensetzen.“
Es handelt sich um „Führungselemente der Multi-Domain Task Force Europe und Kräfte des so genannten Intelligence, Information, Cyber/Electronic Warfare & Space Bataillons (I2CEWS) … Diese agile Entwicklung wird nach Ansicht des Chefs des Stabes der U.S. Army im … Papier zur Army Multi-Domain Transformation ‘eine bessere, fähigere Truppe hervorbringen, die es den Truppenführern im Gefecht ermöglicht, effektiv zu bestehen und, wenn nötig, gegnerische A2/AD-Systeme zu durchdringen, um allen Land-, Luft- und Seestreitkräften Manövrierfreiheit zu ermöglichen.’ Die Army plant dazu den Aufbau von fünf MDTFs: zwei, die auf den Indopazifik ausgerichtet sind; eine, die auf Europa ausgerichtet ist; eine, die in der Arktis stationiert wird und auf multiple Bedrohungen ausgerichtet ist; und eine MDTF, die auf globale Interventionseinsätze ausgerichtet ist.“
Die nach der bi-lateralen Vereinbarung der beiden Regierungen vorgesehenen offensiven Präzisions-Marschflugkörper ‚Tomahawk‘ sind atomar bestückbar. Zitat aus dem Stern-Artikel dazu:
„Die Tomahawk ist ein Marschflugkörper mit bis zu 2500 Kilometern Reichweite. In Deutschland stationiert, kann sie Ziele tief in Russland angreifen. Sie lässt sich auch atomar bewaffnen. … Die jüngste Entscheidung von NATO und USA geht einen Schritt weiter. In einer möglichen Konfrontation mit Russland wird es nicht ausreichen, russische Waffen abzufangen. Das Bündnis muss zudem bessere Fähigkeiten besitzen, militärische Ziele in Russland anzugreifen. Mit denen man zum Beispiel die Flughäfen attackieren kann, von denen russische Jets aufsteigen, die dann wiederum Gleitbomben und Marschflugkörper einsetzen.“ (11.07.2024)
Es geht zum einen alleine schon mit den Tomahawk-Marschflugkörpern um den Atomkrieg. Zum anderen geht es um den großen globalen Krieg: Die Strategie der ‘Multi-Domain Task Force’ ist explizit nicht auf Europa beschränkt, sondern – wie der Begriff ›globale Interventionseinsätze‹ deutlich macht – auf die gesamte Erde.
Das Konzept ist durch die Benutzung des Begriffs ›Intervention‹ nicht einmal mehr ein offizielles Verteidigungskonzept, sondern ein Konzept, das an die Clausewitz-Formulierung erinnert, der zufolge der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist.
In einem Krieg des 21. Jahrhunderts gibt es kaum Möglichkeiten, zwischen Kombattanten und Zivilpersonen zu unterscheiden. Die komplexe Infrastruktur moderner Gesellschaften ist in hohem Maße verwundbar und entsprechend störanfällig. Der immer komplizierter vernetzte Alltag in den Bereichen der Produktion, Verteilung und des Privatlebens, im Gesundheits- und Kommunikationssystem, der Bildung und der Mobilität hängt davon ab, dass die Systeme garantiert ununterbrochen funktionieren.
Andernfalls wird die Verteilung lebenswichtiger Ressourcen unterbrochen, es kommt zu einer sprunghaften Entwicklung von Todeszahlen durch die Unterbrechung der Systeme, von denen das Leben abhängt, unvorhersehbare Entwicklungen führen zu weiteren Störungen und Unruhen – diese Prozesse durchdringen und verstärken sich gegenseitig. Cyber-Angriffe auf lebenswichtige Einrichtungen der Wasser-, Strom-, Energie-, Finanz- und Verteilungssysteme sind das eine. Die Unterbrechung der Kühlung von Nuklearanlagen, deren Sicherheit von einer garantiert ununterbrochen zuverlässigen Kühlung abhängt, kann bis zu einer Kernschmelze führen, die weite Regionen verstrahlt und unbewohnbar macht. Die Sicherheit vieler Bereiche des Lebens, in denen toxische Stoffe entstehen, verteilt werden und zur Anwendung kommen, lassen sich nur in Friedenszeiten kontrolliert handhaben.
Die friedensorientierte Antwort auf diese nicht zu rechtfertigenden Gefahren geht von Petitionen wie der gegen Hyperschallraketen in Deutschland bis hin zu Aktionen wie denen zur atomaren Abrüstung etwa im Zusammenhang mit dem Gedenken an Hiroshima und Nagasaki aus, dann anlässlich des Antikriegstages und der dann folgenden Herbstaktionen der Friedensbewegung, darunter die Friedensdemonstrationen wie die Demo in Berlin am 3. Oktober, sowie an Standorten der Vernichtungsmaschinerie, etwa am nuklearen US-Standort in Büchel, und an der NATO-Luftleitzentrale in Kalkar/Uedem, in Nörvenich, Ramstein, Wiesbaden, Stuttgart und überall dort, wo Militarismus Leben bedroht. Es gibt in diesem Jahrhundert für die Menschheit nur dann ein Überleben, wenn es ein friedliches wird, das jeder Gefahr weitsichtig mit Deeskalation, Diplomatie, ökologischer Verantwortung und Abrüstung entgegentritt.
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