Leserbriefe zu „Mit Bürgerräten die Demokratie revitalisieren?“
In diesem Beitrag hinterfragt Christine Born die Idee von Bürgerräten, die in der deutschen Politik immer mehr Sympathisanten gewinne. Gehe es wirklich um Demokratiestärkung oder doch eher um Empörungsmanagement? Auffällig sei, dass neben der Politik auch Stiftungen Bürgerräte sympathisch finden würden. Die erwachsenen Staatsbürger in den Bürgerräten dürften sich die Themen, die sie diskutieren und bearbeiten sollen, jedoch nicht einmal selbst aussuchen, sondern bekämen diese vorgegeben. Wir haben hierzu interessante Zuschriften erhalten und danken dafür. Es folgt nun eine Auswahl der Leserbriefe, die Christian Reimann für Sie zusammengestellt hat.
1. Leserbrief
Liebe NDS-Redaktion,
AHV, BZfE, DIFE, DGE, KIESEL, NQZ, NRI, es geht jetzt noch endlos so weiter… – nebst dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gibt es ein nahezu undurchschaubares Geflecht an Instituten, Organisationen, Vereinen, Verbänden, Studien (nahezu alle durch Steuergelder finanziert), die sich mit der Ernährung der Deutschen befassen. Und jetzt auch noch Bürgerräte. Das Problem der Politik: Niemand braucht eine nationale Ernährungsstrategie. Klimaneutral zubereitete Heuschrecke in Mehlwurmsuppe mit Hülsenfrüchten auch nicht. Und Bürgerräte schon gar nicht.
Viele Grüße
Michael Wrazidlo
2. Leserbrief
“Die Bürgerräte sieht die Journalistin eher als Beschäftigungstherapie und paternalistische „Gesprächsangebote“.
Dem stimme ich aus eigener Erfahrung zu, da ich bei „Mehr Demokratie“ ähnliche Erfahrungen vor einigen Jahren zu einer Bürgerdialogrunde in Mannheim gemacht habe.
Gelost wurden TeilnehmerInnen, die sich dafür beworben hatten.
Die Gesprächsrunden verliefen zwar seinerzeit ohne Zuziehung von sog. Experten, vermutlich weil es sich dabei um eine Art von „Erprobungsphase für Bürgerräte“ handelte.
Nach dieser Veranstaltung blieb bei mir der Eindruck von gezielter Themen- und Meinungssteuerung zurück.
Noch etwas früher gab es von den Volkshochschulen, gesponsert von Bertelsmann, Bürger-Themen-Tische und das Thema, welches nach dem Austausch mit den TeilnehmerInnen die meisten
Punkte erhielt, konnte nach Berlin reisen. Dort wurde nach dem gleichen Prinzip verfahren, allerdings in vergrößertem Format, da aus dem ganzen Bundesgebiet VHS-TeilnehmerInnen anreisten.
Drei Themen wurden favorisiert und die Punktsieger durften ihr Thema dann in großer Runde vortragen. Anwesend sollte die Bundeskanzlerin sein, die dann jedoch von Peter Altmaier,
Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, vertreten wurde.
Wie in dem NDS-Artikel formuliert: „Den wenigsten Bürgern – auch nicht den Teilnehmern in den Räten (bzw. in den von mir erlebten Bürgerdialogen) – dürfte klar sein, wie sehr ihr Demokratiebewusstsein gezielt und kontinuierlich moduliert, moderiert und mit Steuergeldern gestaltet wird“.
Irgendwelchen Einfluss hatten all die , mit mehr oder weniger großem Tamtam, gestylten Veranstaltungen nicht auf das, was sich „die Politik“ nennt.
Nach dem Motto „Schön, dass wir drüber gesprochen haben“, ist alles im Sande verlaufen, und auf das sog. Ergebnisprotokoll warte ich noch heute.
L.G.
Ute Plass
3. Leserbrief
Sehr geehrte Nachdenkseiten, sehr geehrte Frau Born,
meine Ehefrau war ca. 10 Jahre lang einfaches Mitglied bei “Mehr Demokratie e. V.”. Bei einem Bürgerbegehren für einen Bürgerentscheid hatten wir den Verein um Rat gebeten. Noch nicht einmal ein Antwortschreiben kam zurück. Als dann der Vorstand Leuten wie Wolfgang Schäuble in den A…. gekrochen ist, war das Maß voll und sie ist ausgetreten.
Bei Bürgerbeteiligungen in unserer Wohnortstadt haben wir mehrmals teilgenommen. Es zeichnete sich aber immer mehr ab, dass diese nur zu Beschwichtigung, zum Abwiegeln der Bevölkerung und um Beraterfirmen zu beglücken durchgeführt wurden und der Bürgermeister dann doch nur seine “Agenda” durchgezogen hat. Noch nicht einmal einfache, vernünftige, machbare Vorschläge von uns und auch von anderen wurden umgesetzt. Wir haben uns – wie auch viele andere Mitbürger – dann nicht mehr für solche Feigenblattprojekte hergegeben. Die letzten Bürgerbeteiligungen unter Regie der Quandt-Stiftung (das Beauftragen von Beraterfirmen hatte wohl dann doch einen gegenteiligen Effekt) wurden dann auch nur noch mit vorgefertigten Zielen durchgeführt und fanden somit wenig Anklang.
Dass die herbeigerufenen “Experten” für ihren Auftraggeber, also den Bürgermeister und den inneren Zirkel des Magistrates (Hessen) und der Stadtverordnetenversammlung und weitere interessierte Einzelpersonen und Personengruppen – und nicht etwa die Gesamtheit der Bürger – arbeiteten hat sich bei all diesen “Bürgerbeteiligungen” erwiesen.
Mit freundlichen Grüßen
Udo Mittendorf
4. Leserbrief
Sehr geehrte Damen und Herren,
erlauben Sie mir bitte, mich zu diesem Artikel zu äußern:
Mit Bürgerräten die Demokratie revitalisieren?
Als Leiter der Servicestelle Bürgerbeteiligung Baden-Württemberg möchte ich dazu einige Einordnungen vornehmen.
Sie insinuieren, Bürgerräte seien nur eine Show, nur für das Gefühl.
Irritierend ist, dass Sie so eine alte und oberflächliche Kritik transportieren. Wir machen seit 2011 in Baden-Württemberg intensiv Bürgerbeteiligung. Aber dieser Vorwurf der Alibi-Beteiligung kommt bei jeder Bürgerbeteiligung. Er geht zurück auf das (manchmal vorsätzliche) Missverständnis, nur Direkte Demokratie sei die einzig wahre Form der Bürgerbeteiligung. Dieses Muster an Kritik ist so alt und interessengetrieben, dass wir es in Baden-Württemberg bereits in die FAQ unserer Angebote aufgenommen haben. Wir schreiben hier: servicestelle-buergerbeteiligung.de/die-servicesstelle/faqs
Nahezu jedes Bürgerforum zieht massive Kritik zivilgesellschaftlicher Gruppen sowie von Verbänden auf sich. Das ist ganz normal. Weltweit ist das schon gut erforscht. Und auch gut nachvollziehbar. Gerade lokale Interessengruppen betonen ein (Contra-)Argument besonders stark. Sie nehmen für sich in Anspruch, die Öffentlichkeit zu vertreten – jedenfalls besser zu vertreten als Politik und Verwaltung. Zufallsbürgerinnen und -bürger erschüttern die Erzählung, nur die lokale Interessengruppe vertrete die „wahre Meinung des Volkes“. Deshalb streben lokale Interessengruppen in den meisten Fällen einen Bürgerentscheid an. Oft geht diese Verfahrens-Kritik weit über sachliche Argumente hinaus. Es heißt dann, die Bürgerforen seien ein „Alibi“, „nur Volksverdummung“, „nicht repräsentativ“, „Nudging“ usw. Das Ziel solcher Kritik ist offenkundig. Denn die Sorge, die Bürgerforen würden die eigene Haltung nicht exakt stützen, liegt auf der Hand. Bürgerforen ersetzen selbstverständlich nicht die üblichen Anhörungen von Verbänden und Initiativen. Die üblichen Beteiligungsrechte bleiben bestehen. Erfahrungsgemäß kommen die Bürgerforen aber zu sehr differenzierten Ergebnissen.
Es gibt ferner Untersuchungen der Universität Stuttgart-Hohenheim, wonach nur noch die Anhänger der Linken sowie der AfD überwiegen die Direkte Demokratie bevorzugen. Alle anderen Milieus bevorzugen die Dialogische Bürgerbeteiligung. Mehr von der Universität Stuttgart-Hohenheim, unserer Kooperationspartnerin:
In Baden-Württemberg gibt es zur Dialogischen Bürgerbeteiligung sogar ein eigenes Gesetz. Wer über Bürgerräte schreibt, sollte bei der Erkundung des Sachverhalts diesen Aspekt zumindest erwähnen.
Dialogische Bürgerbeteiligung kümmert sich um die Bedürfnisse hinter den Positionen. Das gibt das Gesetz vor. Beispiel: Es wird Flächenfraß als Grund gegen ein Neubaugebiet vorgetragen, aber es geht im Kern um die Sorge, dass bei so viel Zuzug die Wartezeiten beim Hausarzt länger werden. Oder der Kampf gegen eine Flüchtlingsunterkunft: Naturschutz soll gegen den Bau sprechen, es geht aber um Sicherheit. Deshalb werden dann die wahren Konflikte bearbeitet, statt auf Neben-Positionen lustvoll zu streiten.
Richtig ist, dass die Themen konkret und streitig sein müssen. Deshalb taugen Klimabürgerräte zum Beispiel nicht so viel. Besser wären Bürgerräte zu konkreten Fragen wie Tempolimits, Parkplatz-Umbau, Flächenzertifikate etc.
Bürgerräte (wir nennen das in Baden-Württemberg Bürgerforum) sind nicht für bessere Lösungen verantwortlich. Sie bieten eine Art gesellschaftliche Tiefenbohrung. Sie sortieren manipulative Argumente aus. Sie gewichten die Argumente. So helfen sie der repräsentativen Demokratie, besser zu entscheiden. Sie sind ein Hilfsmittel.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Arndt
5. Leserbrief
Sehr geehrte Damen und Herren,
In dem Artikel von Christine Born ” Mit Bürgerräten die Demokratie revitalisieren?” und auch in dem Artikel von Tobias Riegel „Scholz, Corona und die Bürgerräte: Anekdoten statt Aufarbeitung“ kommt das Beteiligungsinstrument „Planungszelle/Bürgergutachten“ viel zu schlecht weg.
Als Peter C. Dienel im Jahr 1970 begann, das Konzept der „Planungszelle“ zu entwickeln, war er Mitglied des Planungsstabs der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen. Er sah, dass die politischen Entscheidungsprozesse sich nicht an den dringenden Langfrist-Fragen orientierten, sondern sich immer wieder auf die kurzfristig lösbaren Probleme beschränkten, eine Partizipation von Laien fast unmöglich war und die Entscheidungen hinter verschlossenen Türen fielen.
Als Antwort auf diese Defizite entwickelte Dienel das revolutionäre Konzept der „Planungszelle“. Nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger werden für eine Woche zusammengeführt. Sie werden aus erster Hand von Experten informiert und erarbeiten unter der Assistenz von Prozessbegleitern Lösungen für ein vorgegebenes, aber schwer lösbares Problem. Dieses Planungsinstrument wurde durchaus erfolgreich eingesetzt. Einen guten Überblick über das Beteiligungsinstrument „Planungszelle“ gibt der Artikel „Die Planungszelle – Zur Praxis der Bürgerbeteiligung – Demokratie funkelt wieder“ von Peter C.Dienel aus dem Jahr 2002.
Richtig ist, dass durch die Auswahl der Experten und die Wahl der Prozessbegleiter die Ergebnisse des Beteiligungsinstrumentes gelenkt werden können. Aber durch sorgfältige Auswahl der Experten und absolute Transparenz bei der Dokumentation des Prozesses können diese Fehler vermieden werden. Und die Vorteile des Instrumentes kommen voll zum Tragen.
So schreibt Dienel: Die Bürgerinnen und Bürger sind hier nicht damit beschäftigt, ihre mitgebrachten Eigeninteressen, etwa als Einzelhändler oder als Pkw-Besitzer, durchzusetzen. Sie versuchen vielmehr, das in ihrer Aufgabe versteckte Allgemeininteresse zu entdecken. Und sie identifizieren sich damit. Sie korrigieren sich gegenseitig mit ihren eigenen Worten in diesem Sinne. Hier können daher auch Probleme, die als kontrovers und als hoch komplex gelten, gesellschaftlich rational bearbeitet werden. Eigentlich ist die Planungszelle eine „Lernzelle“.
Planungszelle bei Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Planungszelle
Was ist eine Planungszelle: planungszelle.de/planungszelle/
Herzlichst
Hajo Zeller
6. Leserbrief
Sehr geehrte Frau Born,
Ich teile Ihre Auffassung, dass die so genannten „Bürgerräte“ keineswegs ein demokratisches Element sind:
Das Thema, die Agenda und das Framing werden allein durch die Regierung gesetzt und nicht von „unten“ durch die Bevölkerung. Dadurch ist ein Bürgerrat lediglich die Illusion einer Bürgerdemokratie.
Weiterhin liegt die Entscheidungsgewalt der Moderation nicht in der Hand der „Räte“.
Was hier stattfindet, ist eine sorgsam inszenierte „Legitimation durch Verfahren“ im Sinne der Regierung.
Eine direkte Demokratie, also die Stärkung von Bürgerentscheiden (nicht zu verwechseln mit einem „Referendum“) wäre eine tatsächliche Stärkung der Demokratie.
Warum wohl wird die Stärkung der Bürgerentscheide (Volksbegehren) seit Jahrzehnten nicht vorgenommen?
Herzliche Grüße
HW
7. Leserbrief
Hallo Nachdenkseiten,
kurzer Rückblick:
Im Zuge von S21 gab es eine “Schlichtung” und eine “Abstimmung” (2011).
Das Volk war also scheinbar beteiligt an der Entscheidungsfindung. So!
Das Ergebnis kann man alle paar Wochen in der Zeitung verfolgen.
2013 erschien:
“Die Mitmachfalle: Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument”
- ISBN-10 : 3894385278
- ISBN-13 : 978-3894385279
Das passt doch gut zum Thema, oder nicht?
Die Politik hat dazugelernt und beschäftigt den Protest also mit sich selber.
Das ist mittlerweile über 10 Jahre her und wurde von der herrschenden Elite noch weiter perfektioniert.
Der Protest und die Kritik wird von teuren Moderatoren im Sinne der Geldgeber kanalisiert und am Ende kastriert.
Somit wird mit unseren Steuergeldern uns auch noch das Maul zugenäht.
Von daher bin ich diesen Beteiligungsformaten gegenüber sehr reserviert eingestellt.
MfG,
Wolfgang Harr
8. Leserbrief
Hallo liebes NDS-Team,
ich habe den Artikel “Mit Bürgerräten die Demokratie revitalisieren” gelesen und möchte auf meine folgende Beobachtung hinweisen.
Seit gut drei Jahren kann man über die Webseite von Abstimmnug21-mitmachen.de über gesellschaftlich wichtige Themen abstimmen.
Der Prozess scheint relativ transparent und offen zu laufen, obwohl auch hier Zweifel angebracht sind. Zu Beginn kann jeder ein Thema formulieren. Über mehrere Wochen und mehrere Abstimmungen werden dann die Top-Themen bestimmt.
Auf der folgenden Seite findet man die Top 20.
‘Gewonnen’ hat die Fuchsjagd! Jetzt wird sicherlich alles besser ;-)
Da ich die Abstimmung von Anfang an verfolgt habe, weiss ich, dass auch Themen wie Coronaaufarbeitung, Frieden jetzt, Keine Waffenlieferungen etc. in verschiedenen Formulierungen dabei waren. Unter den Top20 sind diese Themen nicht – seltsam?!
Man findet sicherlich viel Sinnvolles unter den Themen, was auch meine Zustimmung bekam und auch manches schizophren anmutendes, wie Punkt 4 ‘Gentechnik muss erkennbar bleiben!Wahlfreiheit erhalten!’, denn die Corona-Spritzeritis war erkennbar eine gentechnische Veränderung, von der man aber nichts wissen wollte, dennoch erstaunt es, dass aktuell brennende Großthemen nicht in die engere Auswahl kamen.
Stefan Kreft
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