„Nur was perfekt kontrolliert wird, kann die Sicherheit nicht bedrohen. Perfekte Kontrolle aber heißt Unterwerfung, heißt besiegen.“ Das schrieb der Kommunikationswissenschaftler Claus Eurich in seinem 1994 veröffentlichten Buch „Tödliche Signale – Die kriegerische Geschichte der Informationstechnik“. Es gilt bis heute und darüber hinaus. Die Methoden dabei werden ständig erweitert, wie Eurichs Fachkollege Michael Meyen in seinem neuesten Buch zeigt. Von Tilo Gräser.
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Cancel Culture ist nicht nur einfach eine Marotte woker „Gutmenschen“ und selbsternannter „Antifa“-Aktivisten. Dieses Phänomen ist eher kulturlos und zerstört Kultur, aber es ist mehr: ein gezielt eingesetztes Machtmittel. Das hat der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen kürzlich im Berliner „Sprechsaal“ deutlich gemacht, als er über dieses gesellschaftliche Phänomen sprach. Der selbst von dieser „sanften Zensur“ betroffene Kommunikationswissenschaftler hat sein neuestes Buch vorgestellt, das kürzlich unter dem Titel „Cancel Culture – Wie Propaganda und Zensur Demokratie und Gesellschaft zerstören“ erschien.
Meyen beschreibt darin unter anderem die technischen Grundlagen dieser neuen Form der Zensur, die ihre Wirkung vor allem mit Hilfe des Internets und der digitalen Plattformen erzielt. Er stellt fest, dass Internet und Ideologie, Kommunikationskanal und Inhalte „zusammenpassen wie die Faust aufs Auge“. Die digitalen Kommunikationskanäle würden über Spaltung funktionieren, erklärte er seinem Publikum in Berlin. Die digitale Kommunikation und das Internet funktionieren mit dem Code Eins und Null „und nichts dazwischen“. Wer Erfolg auf diesen Kanälen haben will, müsse moralisieren und „klare Kante zeigen. Dann muss ich mich zu einer Gruppe bekennen und alle anderen Gruppen ablehnen.“ Dieses Prinzip der Kommunikationskanäle sei in den 1960er-Jahren vom US-Kriegsministerium Pentagon auf den Weg gebracht worden, so Meyen.
Differenzierung und Zwischentöne seien bei alldem nicht mehr gefragt, machte er deutlich und verwies auf die „intellektuelle Barrierefreiheit“ der Inhalte. „Da muss man nicht viel lesen, um zu verstehen, worum es dabei geht“, was sich auch sehr gut eigne, „um Gut und Böse zu benennen“. Die ideologischen und theoretischen Konstrukte, auf die sich die entsprechenden Aktivisten – von Klima über Gender bis „Antifa“ – stützen, würden ihnen helfen, die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Das passe zu den Kommunikationskanälen auf den digitalen Plattformen, die über Moralisierung und Polarisierung funktionierten.
„Beide Dinge kommen also aus der gleichen Küche“, erklärte der Kommunikationswissenschaftler und verwies auf die Zusammenarbeit des Pentagons mit den Digitalkonzernen. Und bei beiden, der Technologie wie den ideologisierten Inhalten, gehe es um Kontrolle. In den 1960er-Jahren begann nicht nur die Umwälzung der Technologie und Gesellschaft mit ihren einzelnen Bereichen durch die zunehmend massenhaft einsetzbaren Computer und damit der Digitalisierung. Die gleichzeitigen und teilweise mit der technologischen Entwicklung verbundenen globalen gesellschaftlichen Umbrüche machten den bis dahin Herrschenden Sorgen und Angst um ihre Macht – in Ost und West.
Gezielte Ablenkung
Zunehmend sei weltweit nach den Möglichkeiten einer freieren und gerechteren Gesellschaft gesucht worden, auch ausgehend von den sozialistischen Ideen, erinnerte Meyen. „Für die wenigen, die fast alles besitzen, ist das bedrohlich: Sehr viel mehr Menschen, die formal sehr viel besser gebildet sind und Zeit haben, weil sie sich nicht permanent ums Überleben kümmern müssen.“ Das sei in den 1960er-Jahren der Ansatzpunkt für die Entwicklung des Internets gewesen, das neben der Funktion als atomkriegssicheres Kommunikationssystem die eines Überwachungs- und Kontrollsystems habe. Letzteres könne nur funktionieren, wenn es global genutzt wird und die Eingabeinstrumente wie Computer und Smartphones von allen benutzt werden.
Dazu seien die Menschen gebracht worden mit Hilfe von Unterhaltungs- und Ablenkungsprogrammen, aber auch mit dem Aspekt der Bequemlichkeit und der scheinbaren Schnelligkeit der Kommunikation. Zu den Folgen gehöre, dass Studien zufolge junge Menschen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren rund 70 Stunden in der Woche die digitalen Geräte nutzen. Wir werden dabei in die Überwachung und Kontrolle gelockt, so Meyen, indem uns online Dinge geboten werden, nach denen wir suchen, zuallererst ein bequemes Leben. Dazu gehöre aber auch die Möglichkeit, auf diesen Geräten Informationen abzurufen, die den offiziellen Interpretationen der Wirklichkeit, der Rechtfertigungslehre und herrschenden Ideologie widersprechen. „Das ist der Trigger, der uns ins Netz bringt und der letztlich uns überwacht und kontrollierbar macht.“
Hinzu komme eine Ideologie, „die jungen Leuten das Gefühl gibt, fortschrittlich zu sein, auf der Seite der Guten zu stehen, ohne die entscheidende Frage nach dem Eigentum zu stellen: Wem gehört die Welt?“ Diese Frage werde nicht gestellt, und trotzdem könnten sich die davon abgelenkten jungen Aktivisten gut fühlen, weil sie „gegen das noch Bösere“ kämpfen. Meyen beschreibt das in seinem neuen Buch ausführlicher: „Cancel Culture ist ein Programm, das Deutungshoheit sichert und damit Macht.“
Meyen analysiert darin nicht nur einzelne Fälle wie Warnhinweise vor alten Filmen, vermeintlich nicht bestellbare Bücher und Quasi-Berufsverbote für Menschen, die diffamiert werden. Bei der Buchvorstellung machte er deutlich, wer für Cancel Culture verantwortlich ist: „Die Cancel Culture geht von den Leitmedien aus und von den Institutionen, die der Parteienstaat sich extra dafür geschaffen hat oder sich in den letzten Jahren unterworfen hat, die er gekapert hat. Diese Form der Zensur stützt sich auf ein intellektuelles Prekariat.“
Zu den Grundlagen der Cancel Culture gehöre die „Bewusstseinsindustrie“ in Bildung, Kultur, Medien und Politik. Wer dort tätig sei und in den großen Städten mit ihren hohen Lebenshaltungskosten lebe, habe oft nur Zeitverträge und halbe Stellen. Dieses „intellektuelle Prekariat“ konkurriere um die Posten in der Bewusstseinsindustrie. Es arbeite die Themen und die Moral ab, die von oben vorgegeben werden. Das sei das Futter für die Propaganda und die Zensur, die im Digitalkonzernstaat in der Zusammenarbeit von Regierung und Unternehmen durchgesetzt werden.
Gefahr für die Demokratie
Meyen stellte zu Propaganda und Zensur fest, dass diese als Begriffe für die Analyse westlicher Gesellschaften den Wissenschaftlern „weggenommen“ worden seien. Beides werde nur noch dem politischen Gegner in anderen Systemen zugeschrieben. Es gelte für Sozialwissenschaftler nicht mehr als legitim, Propaganda und Zensur auch in den westlichen Gesellschaften auszumachen – „beides machen nur die anderen“. Dass sie auch in dem Fall zutreffende Begriffe sind, dafür liefert er in seinem Buch eine Reihe von Beispielen.
„Propaganda ist für mich jeder Versuch staatlicher Stellen, öffentliche Meinung auf eine bestimmte Weise zu beeinflussen. Propaganda verlangt zwingend nach Zensur, wenn ich Öffentlichkeit auf bestimmte Weise beeinflussen will“, stellte er in Berlin klar. Als aktuelles Beispiel verwies er auf die politische und mediale Aufregung um die Friedensmission des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Das zeige, wie gegenläufige Ansichten, Gegenmeinungen unterdrückt werden. Diese würden sogar erfolgreich durch Zensur unterdrückt, die gegen Botschaften und Inhalte zum Einsatz komme. Entscheidend seien dabei zwei Eigenschaften der betroffenen Medien und Inhalte: Die eine ist der Widerspruch zur herrschenden Meinung und die andere die hohe Reichweite unter der Bevölkerung. Deshalb werde gegen Medien wie KenFM oder wie jüngst das Magazin Compact vorgegangen. Auch die NachDenkSeiten haben diese Methoden schon mehrfach zu spüren bekommen.
Meyen, der als Professor für Kommunikationswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) das von ihm Beschriebene selbst erlebt hat, betonte: „Propaganda und Zensur widersprechen meinem Demokratieverständnis. Demokratie ist für mich die Möglichkeit für uns alle, mitbestimmen zu können, wenn es um unser Leben geht, also um die Bedingungen geht, unter denen wir leben.“
Propaganda und Zensur würden mit Hilfe der sogenannten Leitmedien um- und durchgesetzt, die das „Gedächtnis der Gesellschaft“ fütterten. Sie würden die Themen bestimmen, über die die Menschen reden, ebenso die herrschende Moral. Wenn jemand nicht wisse, was in den Leitmedien berichtet wurde, falle er „aus der Gruppe von Menschen, die man ernst nehmen muss“. Auch dafür sei das Magazin Compact ein Beispiel, das nur wenige wirklich kennen würden und gelesen hätten. Aber die meisten hätten aus den Nachrichten erfahren, es sei „rechtsextremistisch“. Der „Stempel, den die Leitmedien für diese Angebote in das Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt haben“, wirke. Deshalb sei es schwer, diese Art von Zensur auch als Zensur deutlich zu machen und zu benennen.
Als eine der Grundlagen dieser Mechanismen beschrieb der Kommunikationswissenschaftler „eine sehr homogene Besetzung in einer Redaktion“ in den etablierten Medien. Es handele sich vorrangig um „Mittelschichtkinder mit akademischer Bildung, die in teuren Großstädten leben. Um seine Kinder heute in den Journalismus zu schicken, muss man Geld haben.“ Der Weg zu einer festen Stelle, wenn es solche noch gibt, sei zugleich sehr lang und dauere mehrere Jahre. Das bedeute lange Zeit wenig Einkommen und Unsicherheit, die sich junge Menschen aus Arbeiterfamilien nicht leisten könnten. Gegenwärtig würden beispielsweise zwei Drittel der Programmmacher im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, 18.000 Menschen, ohne festen Arbeitsplatz arbeiten, so Meyen.
Zunehmende Moralisierung
Das sei bis Ende des 20. Jahrhunderts anders gewesen, erklärte er und stellte fest, dass Journalismus heute ein prekärer Beruf ist. Seit Jahren würden die Stellen selbst in den Lokalredaktionen abgebaut, was Konkurrenz und Konsensdruck erhöhe. Das sorge mit dafür, dass es in den Medien keinen Widerstand gegen die Vorgaben von oben gebe. Diese seien aber nur selten nötig, wofür eine „Verantwortungsverschwörung“ sorge: Diese stütze sich zum einen auf das vermeintliche Wissen der Journalisten, „was gut und richtig ist“ – „das ist bei Journalisten oft das Gleiche wie bei anderen Eliten in Wirtschaft, Kultur, Politik“. Zum anderen wüssten die Journalisten, dass sie Einfluss auf die Gesellschaft und die Öffentlichkeit haben. Und zuletzt bereinigten sie die Wirklichkeit um die Teile, die dem im Weg stehen könnten, was sie für gut und richtig hielten.
Meyen machte im Vortrag wie auch im Buch für die letzten Jahrzehnte eine zunehmende Moralisierung in Politik und Medien aus. Daraus seien gleichzeitig die Lebenswelt und die Themen der arbeitenden Menschen weitgehend verschwunden. Doch während in den Medien fortgesetzt Stellen abgebaut würden, rüste der politische und staatliche Propaganda-Apparat weiter auf. Dazu gehöre auch die zunehmende Kumpanei zwischen Regierungsstellen und Leitmedien, wie sich auch beim Überfall auf die Compact-Zentrale gezeigt habe. Solche Vorfälle habe es auch schon in den Jahren davor gegeben, so beim Vorgehen gegen einen Verlag, der kurdische Literatur herausgab.
Dabei würden die „Stempel im Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaft“ in Bezug auf vermeintliche „Rechtsextremisten“ und „Terroristen“ helfen, eingebrannt mit Hilfe der Leitmedien. Für diese würde zum Beispiel auch die auf 40 Mitarbeiter aufgestockte Abteilung für „strategische Kommunikation“ im Bundesaußenministerium unter Annalena Baerbock (Grüne) sorgen.
Meyen bezeichnete die Zensur als die „andere Seite der Propaganda-Medaille“. Diese sei von der Europäischen Union (EU mit dem Digital Services Act (DSA)) massiv ausgebaut worden. Damit würden die Internetkonzerne mit ihren digitalen Plattformen zu Kumpanen der Politik und zu „Zensurmaschinen“ gemacht. Aber auch die Technologie der Plattformen wirke als Zensurmechanismus, da Reichweite von Inhalten und Botschaften nur durch Moralisieren erreichbar seien. Zugleich unterstütze sie die „Mechanik der Cancel Culture“: „Wir haben Leitmedien, die eine bestimmte Moral vorgeben, die bestimmte Themen vorgeben. Wir haben eine Reihe von Aktivisten im Hintergrund, die bereit sind, sich entsprechend zu äußern. Und wir haben die Angst vor dem öffentlichen Pranger.“
Er habe das selbst erlebt, sagte Meyen und verwies auf den Umgang der LMU mit ihm, nachdem ihm Aktivisten mit Hilfe der Süddeutschen Zeitung Nähe zu Antisemiten und „Verschwörungstheoretikern“ vorgeworfen hatten. Er sei durch die Zeitung gar zum „Fall für den Verfassungsschutz“ erklärt worden, weil er sich für ein „Querdenker“-Medium engagiert habe. Wer einmal durch Leitmedien, Plattformen oder einen Wikipedia-Eintrag negativ gebrandmarkt worden sei, laufe „Gefahr, dass ihnen entweder der Raum gekündigt wird, Demonstranten vor der Tür stehen, dass Bankdirektoren ihre Konten kündigen“. Die Angst vor dem öffentlichen Pranger bringe Bankdirektoren, Saalbetreiber, Buchherausgeber dazu, sich von Veranstaltungen und Menschen zu distanzieren.
Widerstand gegen geistige Verarmung
Dieses digitale Kesseltreiben mit einem negativen Wikipedia-Eintrag als Höhepunkt sorge dafür, dass Autoren keine Bücher mehr veröffentlichen, Künstler nicht mehr auftreten und ausstellen, Wissenschaftler nicht mehr lehren und vortragen können. Es treffe inzwischen selbst Ärzte, wie Meyen am Beispiel eines Psychiaters schilderte, der sich aktivistischen Trends widersetze.
„Allein schon die Angst, dass dieser Mechanismus in Gang gesetzt wird, führt dazu, dass bestimmte Dinge nicht mehr passieren, dass bestimmte Dinge nicht mehr stattfinden. Bestimmte Ausstellungen, bestimmte Vorträge, bestimmte Bücher werden nicht mehr publiziert.“
In der Folge würden viele Dinge nicht mehr an die Öffentlichkeit kommen. Vieles werde „stillschweigend entsorgt“. Das Ergebnis ist nicht nur eine Verengung des Debattenraumes, der zunehmend beklagt wird, und die Unterdrückung jeglichen freien Diskurses, worauf Meyen auch aufmerksam machte. Diese Entwicklung führe auch zu einer geistigen Armut in der Gesellschaft, die nur noch den Unterschied zwischen Gut und Böse zulässt – mit Hilfe der auf 0 und 1 basierenden digitalen Technologie. Eines der Mittel gegen die geistige Verarmung seien analoge Bücher, erklärte der Kommunikationswissenschaftler.
In der Diskussion nach seinem Vortrag betonte er: „Macht hat der, der bestimmen kann, wie wir über die Wirklichkeit sprechen, wie wir die Wirklichkeit sehen.“ Der Kommunikationswissenschaftler hat nach seinen Worten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass „Ideen wachsen werden, auch Informationssammlung und Aufbereitung auf eine andere Basis zu stellen, als wir das jetzt in den Leitmedien haben“. Das gesellschaftliche Bewusstsein für die Rolle der Medien habe in den letzten zehn Jahren zugenommen, was eine Quelle für eine Gegenbewegung sei.
Er wurde auch nach Alternativen gefragt, worauf er auf die Möglichkeiten der analogen Kommunikation und Medien verwies. Letztere könnten nicht so schnell abgeschaltet werden wie digitale Kanäle und könnten Inhalte vermitteln, die auf den Internet-Plattformen durch die „Cancel Culture“ verschwinden.
Deshalb sei nicht nur auf Meyens Bücher hinweisen, sondern zum Abschluss ein weiteres Mal der Kommunikationswissenschaftler Claus Eurich zitiert. Der schrieb in seinem 1991 erschienenen Buch „Die Megamaschine – Vom Sturm der Technik auf das Leben und Möglichkeiten des Widerstands“:
„Eine Gesellschaft ohne Bibliotheken, ohne Buch und Lesen hat sich selbst aufgegeben. Sie wird sich hoffnungslos im Netzwerk der Elektronik verstricken, der überlebensnotwendigen Ideen beraubt.“
Eurich stellte klar: „Lesen ist kultureller Widerstand. Wer es missachtet, ist gegen das Denken.“
Titelbild: © Tilo Gräser
Buchtipp: Michael Meyen: Cancel Culture – Wie Propaganda und Zensur Demokratie und Gesellschaft zerstören. Verlag Hintergrund 2024, 80 Seiten, ISBN 978-3-910568-07-5, 10,90 Euro