Interview zur Präsidentschaftswahl in Venezuela: „Die größte Ungewissheit liegt im Tag danach“

Interview zur Präsidentschaftswahl in Venezuela: „Die größte Ungewissheit liegt im Tag danach“

Interview zur Präsidentschaftswahl in Venezuela: „Die größte Ungewissheit liegt im Tag danach“

Ein Artikel von amerika21

Interview mit dem venezolanischen Soziologen Ociel Alí López über wahrscheinliche Szenarien bei den Präsidentschaftswahlen am 28. Juli und ihre Ursachen. In Venezuela bewerben sich zehn Kandidaten um die Präsidentschaft. Doch der eigentliche Wettstreit wird zwischen dem derzeitigen Präsidenten Nicolás Maduro, der nach 25 Jahren chavistischer Regierung eine dritte Amtszeit anstrebt, und Edmundo González stattfinden, der als Einheitskandidat eines großen Teils der Opposition, der Plataforma Unitaria, antritt. Das Interview führte Cecilia Pérez Otero.

Die erste Option dieses Oppositionsbündnisses war die Kandidatur von María Corina Machado, die jedoch nicht für ein öffentliches Amt antreten darf. González ist somit der erste Kandidat, der seit 2013 von den großen Oppositionsparteien nominiert wurde. Bei der Präsidentschaftswahl 2018 riefen sie zum Boykott auf.

Die Regierung kündigte an, dass mehr als 600 Wahlbeobachter anwesend sein werden und dass auch ein Expertengremium der Vereinten Nationen den Wahlprozess überprüfen wird, der nach Verhandlungen zwischen der Regierung und der Opposition vereinbart wurde.

Die Ergebnisse sind ungewiss. Mehrere Umfragen weisen einen klaren Vorsprung für González auf, andere für Maduro, der für das Bündnis Gran Polo Patriótico Simón Bolívar kandidiert.

Die größte Ungewissheit liegt jedoch im Tag nach den Wahlen, in der Haltung, die die unterlegene Seite einnehmen wird, sagt der venezolanische Soziologe Ociel Alí López, Dozent an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften an der Zentraluniversität von Venezuela.

In seinem neuesten Buch „Wahlen in Venezuela 2024: Was wird passieren? Wahrscheinliche Szenarien und ihre Ursachen” analysiert López den Weg bis zur Abstimmung am morgigen 28. Juli.

Cecilia Pérez Otero: Ihr Buch konzentriert sich zwar auf die Wahlen am Sonntag, bringt aber auch andere Vorgänge auf den neuesten Stand, die außerhalb Venezuelas nicht so bekannt sind.

Ociel Alí López: Ich versuche darin, die Situation den Menschen zu erklären, die sich in den letzten Jahren sehr um Venezuela gesorgt, es aber in den letzten Monaten ein wenig vergessen, es beiseite geschoben haben. Für mich ist Venezuela immer noch ein Raum zum Nachdenken, zur Analyse und zur Strategieentwicklung, den die Linke in Lateinamerika gut kennen sollte.

In den letzten Monaten, vielleicht auch schon seit einigen Jahren, ist Venezuela fast vollständig aus den Nachrichten und Informationsportalen verschwunden. Das ist etwas, was vor drei oder vier Jahren nicht der Fall war, als wir, sobald es eine Konfliktsituation gab, weltweit in den Nachrichten waren.

Ich weise darauf hin, weil es genau jetzt, wo Wahlen stattfinden, einen Prozess der Stabilität gibt, von dem wir nicht wissen, wie lange er andauern wird. In diesem Prozess hat die Opposition etwas erreicht, von dem sie immer gesagt hat, dass sie es nicht erreichen kann, nämlich einen Kandidaten, der im Konsens gewählt wurde. An diesen Präsidentschaftswahlen nehmen alle politischen Sektoren teil. Das ist etwas, das es seit 2013, also schon seit elf Jahren nicht mehr gegeben hat.

Dies hat mit einem allgemeinen Prozess der Regularisierung zu tun, der in allen Bereichen stattgefunden hat. Dies schließt den Dialog mit der Opposition, mit den USA ein, in einer Zeit, in der Washington seine rechte Hand nicht mehr benutzt, um zu versuchen, in Venezuela zu intervenieren.

Sie haben gesagt, dass die Opposition bei diesen Wahlen zum ersten Mal einen gemeinsamen Kandidaten aufstellt. Aber gleichzeitig musste sie den Ausschluss einiger Parteien oder Kandidaten, wie María Corina Machado, hinnehmen. Inwieweit wirkt sich das auf diese Wahlen aus?

Das hat natürlich eine Auswirkung. Festzuhalten ist, dass die Opposition bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2018 ihre Strategie der Wahlenthaltung verfolgte, um Maduro zu entmachten und sich auf das vorzubereiten, was 2019 kommen sollte, nämlich die sogenannte Übergangsregierung von Juan Guaidó. Das war eine etwas bizarre, abenteuerliche Aktion, aber mit Ergebnissen, die nur in den internationalen Medien eine Rolle spielten. Nach mehreren Entwicklungen dieser Art hat die Regierung mit dem Ausschluss von Kandidaten und Parteien reagiert, und zwar nicht nur aus der Opposition, sondern auch aus dem Chavismus, wie im Fall der Kommunistischen Partei. So, wie die Opposition hart gegen die Regierung vorgegangen ist, so ist auch die Regierung hart mit ihr umgegangen.

Inmitten dieses rauen, aufreibenden Kampfes sind wir Bürger diejenigen, die in gewisser Weise keine Konflikte mehr wollen. Und ein Problem der Kandidatur von Edmundo González besteht darin, dass es nicht zu neuen Zusammenstößen, zur Radikalisierung, kommt, die zu Gewalt führt. Die Regierung kämpft mit harten Bandagen. Aber ich betone, dass sie eine Oppositionskandidatur zugelassen hat, und heute könnte diese Kandidatur die Wahlen gewinnen. Wir sprechen von einem klaren Prozess, in dem Wettbewerb herrscht.

Was die Tatsache betrifft, dass es Exzesse gibt, so ist vielleicht einer der stärksten, dass der Regierungskandidat direkt vom Finanzministerium in Washington und vom US-Außenministerium sanktioniert wird. Da sieht man schon, dass es so etwas wie Disqualifizierungen auf beiden Seiten gibt. Es gibt einen sehr harten institutionellen Kampf, der an die Grenzen der Demokratie führt.

Aber jetzt zeichnet sich ab, dass ein Wahlausgang bevorsteht, der das Ergebnis einer der Parteien legitimieren wird. Hoffen wir, dass dies der Fall sein wird. Besorgniserregender als der 28. ist der 29. – was passieren wird, wenn das Ergebnis bekannt ist.

Was die Kandidatur von María Corina anbelangt, so besteht das Hauptproblem für sie darin, ob die Zustimmung für sie und ihre Mobilisierung für einen weitgehend unbekannten Kandidaten wirklich wirksam ist, das heißt, ob die Stimmen der gesellschaftlichen Unzufriedenheit auf die Kandidatur von Edmundo González übertragen werden können. Diese Übertragung erfolgt nicht automatisch. Es ist also zweifelhaft, ob die Opposition in der Lage ist, alle Stimmen, die sie gesammelt hat, auf sich zu ziehen.

Was den Tag nach den Wahlen und die Zweifel an der Anerkennung der Ergebnisse durch den Verlierer betrifft, kann man sagen, dass diese Wahlen sauber sein werden? Werden sie das Votum der Bevölkerung widerspiegeln?

Was die Respektierung des Ergebnisses betrifft, so scheint es bereits jetzt so, dass es dem Verlierer schwerfallen wird, das Ergebnis zu respektieren. Sicherlich. Bei allem, was auf dem Spiel steht. Es gibt einige Akteure wie María Corina, die noch nie ein Wahlergebnis respektiert haben, selbst wenn es sehr deutlich zu Gunsten von Chávez ausgefallen ist. Wir kennen also mehr oder weniger den Ton. Andererseits ist es auch für Präsident Maduro sehr schwierig, ein Wahlergebnis zu respektieren, während er auf einer Liste der von den USA sanktionierten und per Haftbefehl gesuchten Personen steht.

Die Frage ist also nicht nur, ob die Wahlen sauber sind, sondern auch, ob sie nach dem derzeitigen Schema ablaufen werden, das heißt, dass es Kandidaten aus allen Bereichen gibt und dass alle Bereiche teilnehmen. Je näher der Tag rückt, desto mehr scheint das Szenario zu sein, dass die Wahlen so ablaufen wie bislang geplant, ohne neue Ausschlüsse, weder für die Parteien auf dem Stimmzettel noch für die Kandidaten, und dass der Verlierer den Gewinner an diesem Tag respektiert und mitträgt. Ob dies der Fall sein wird oder nicht, kann im Moment niemand beantworten.

Was würde fehlen, um die Achtung der Ergebnisse zu gewährleisten, nach den Vereinbarungen, die Regierung und Opposition geschlossen haben?

Generell denke ich, dass der entscheidende Schritt von Washington ausgehen muss, und ich glaube, dass viele Akteure, darunter auch einige sehr antichavistische, mehr oder weniger rechtsradikale, seit einigen Tagen über die Bedeutung des Zusammenlebens und darüber sprechen, dass es einen Politikwechsel in Bezug auf die Sanktionen geben soll. Denn mit dem Sanktionssystem, das so massiv ist und das sich gegen führende Regierungsvertreter richtet, ist es natürlich sehr schwierig, einen Prozess des Regierungswechsels einzuleiten. Damit der Wahlprozess reibungslos abläuft, muss Washington einen Schritt in puncto Sanktionen machen.

In Ihrem Buch bezeichnen Sie María Corina Machado als ultrarechts. Aufgrund welcher Charakteristika gehört sie in diese Kategorie?

Wenn wir den Begriff der Ultrarechten oder radikalen Rechten verwenden, beziehen wir uns auf die Welle der radikalen Rechten in anderen lateinamerikanischen Ländern. Machado gehört nicht zu den traditionellen konservativen Sektoren, sondern führt eher einen Diskurs des Bruchs. Beim Staatsstreich [gegen Hugo Chávez] im Jahr 2002 gehörte sie zu den Unterzeichnern [des sogenannten Carmona-Dekrets, das von etwa 400 Personen des öffentlichen Lebens unterstützt wurde und mit dem eine De-facto-Regierung eingesetzt wurde, die zwei Tage lang andauerte]. Sie hat Szenarien der Gewalt gefördert.

Deshalb unterscheidet sie sich von der gemäßigten Rechten, die zwar die Regierung Maduro nicht anerkennt, aber einen friedlicheren Ausweg will, der nicht die von ihr offen vorgetragenen Aufrufe zur ausländischen Intervention beinhaltet. Sie hat Briefe unterzeichnet, in denen sie die israelische Regierung auffordert, in Venezuela zu intervenieren.

Es gibt eine Reihe von Elementen, die sie zu einer Rechten machen, die nicht institutionell und klassisch, sondern radikal ist. Und in der Wirtschaft steht sie den Postulaten von Jair Bolsonaro, den Postulaten von Javier Milei nahe. Ich denke, sie gehört zu dieser Welle, zu dieser Rechten.

Eine Rechte, die Privatisierungen anstrebt, wie in diesem Fall die von PDVSA, oder die Abschaffung von Regulierungen in der Wirtschaft?

In seiner extremsten Form. María Corina Machado stammt aus einer der reichsten Familien Venezuelas. So etwas hat es in den letzten 100 Jahren nicht gegeben, weil die Oligarchien in Venezuela nicht in die Politik eingestiegen sind oder aus der Politik vertrieben wurden, anders als zum Beispiel in Kolumbien, wo die meisten Präsidenten aus oligarchischen Kreisen stammen. In Venezuela ist das nicht geschehen.

Erstmals in den letzten Jahren, mit der Anti-Chávez-Opposition, haben die Eliten begonnen, sich an der Politik zu beteiligen, und María Corina ist im Moment ihr größter Vertreter. Sie hat immer ein sehr hartes, sehr radikales Profil vertreten. Wir sprechen hier nicht von einem rationalen rechten Diskurs im lateinamerikanischen Kontext, sondern er entfernt sich von einem typischen lateinamerikanischen Konservatismus. Er beginnt, radikaler und auch populistischer zu werden.

Und Edmundo González?

Man könnte annehmen, dass Edmundo González von einer eher klassischen Rechten kommt, von den politischen Parteien, die eine viel rationalere Rechte ist, viel pragmatischer und gemäßigter, und die in den letzten Jahren gut verstanden hat, was der Chavismus als soziale Bewegung bedeutet. Das ist grundlegend für ein gegenseitiges Verständnis, denn María Corina gehört zu den Sektoren, die den Chavismus seit seinen Anfängen auf entschiedene Weise kriminalisiert haben. Ihr Diskurs ist offen elitär, und dies erschwert ihr die Kommunikation zusätzlich.

Im Fall von Edmundo wird angenommen, dass er von der anderen Rechten der Parteien kommt, aber die Anführerin, die wirklich auf der Straße ist und die Massen bewegt, ist María Corina. Deshalb hängt er sehr von ihr ab, wenn es um das Wahlergebnis und die Bestätigung seiner Stimmen geht, um wirksam zu sein. Denn das Problem seiner Kandidatur ist, dass er die Stimmen der bestehenden gesellschaftlichen Unzufriedenheit auf sich ziehen muss, aus denen María Corina Kapital geschlagen hat, und natürlich nähert er sich ihren politischen Positionen an.

Wie würden Sie die Regierungspartei ideologisch charakterisieren?

Ich denke, dass es sich um einen ganz anderen Prozess handelt als zu der Zeit, als Chávez regierte. Es ist ein viel pragmatischerer Prozess. Die ideologische Frage ist nicht so ausgeprägt, die Rhetorik ist nicht so ausgeprägt, sondern es gibt neue Diskurse, die diesen Chavismus in der Regierung durchdringen. Seine Hauptschwierigkeit ist die Entstehung einer neuen politischen Klasse, die auch wirtschaftlich ist, und es wird sich nun zeigen, ob dieses neue System vom Chavismus unterstützt werden kann oder ob der Chavismus selbst so starke Kritik hat, dass er den aktuellen Diskurs in einer Wahlsituation aufgeben kann.

Dies ist eines der Dinge, die ausgewertet werden, denn die wirtschaftlichen Veränderungen haben sicherlich ein Premium-Venezuela hervorgebracht, eine aufsteigende soziale Klasse, und dies wird in einem Prozess, der als revolutionär bezeichnet wurde, sicherlich einige Auswirkungen auf seine Basis haben.

Würden Sie sagen, dass es sich um eine zentristische, linke oder populistische Regierung handelt? Wie würden Sie sie charakterisieren?

Vor allem würde ich sie als pragmatisch einstufen. Die Sache ist die, dass sie durch den Frontalzusammenstoß mit Washington automatisch als progressiv, links usw. wahrgenommen wird und sich in dieses Bündnissystem einordnet.

In wirtschaftlicher Hinsicht hat sich der Staat hier wirklich sehr stark zurückgezogen. Man könnte von einer Regierung sprechen, die, wenn sie sich für bestimmte Prozesse entschieden hätte, eine sehr neoliberale Regierung gewesen ist. Der Punkt ist, dass es keine Regierungsentscheidung war, sondern dass es de facto passiert ist. Es gab eine De-facto-Dollarisierung, es gab eine De-facto-Liberalisierung, weil die Kontrollen irgendwann nicht mehr aufrechterhalten werden konnten, und es gab einen Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaates, der von niemandem beschlossen wurde, sondern mit dem Einbruch der Öleinnahmen eintrat. Und der Staat versäumte es auch, einige seiner wichtigsten Standbeine aufrechtzuerhalten, wie etwa das Bildungs- und Gesundheitswesen, die ebenfalls aus dem Ruder liefen. In Bezug auf die Ergebnisse ist es also eine sehr neoliberale Regierung, auch wenn sie eine linke, antiimperialistische Ideologie vertritt. Aber im Grunde würde ich sie als pragmatisch bezeichnen.

In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass es seit 2017 eine wirtschaftliche Verbesserung im Land gibt. Worin bestand dieser Prozess, und wo steht die Ölindustrie?

Die Wirtschaftsproblematik ist der Schlüssel zum Verständnis der Transformation in Venezuela und zur Betrachtung alternativer oder progressiver Experimente in Lateinamerika.

Zunächst gab es einen Prozess, der mit der internen Krise im Land zu tun hatte, noch vor den Sanktionen und auch mit den Sanktionen als solchen. Dann gab es eine Lockerung der Sanktionen, die es der Ölindustrie ermöglichte, sich ein wenig zu erholen. Aber bevor das geschah, waren die Zahlen bereits positiv. 2023 war Venezuela eines der wirtschaftlich am schnellsten wachsenden Länder in der Region.

Dies war auf mehrere Faktoren zurückzuführen, sowohl auf die Überweisungen [Remesas], die es vorher in diesem Land nicht gab, als auch auf die verschiedenen Geschäfte, die sich entwickelten. Für den revolutionären Prozess, den es bis dahin gegeben hatte, geschah dies alles im Rahmen einer ziemlich radikalen Liberalisierung der Wirtschaft.

Es gab eine Reihe von Faktoren, die die Wirtschaft belebten. Als der Preis für ein Barrel Öl mehr oder weniger reguliert wurde und Venezuela begann, zu produzieren und seine Produkte zu internationalen Preisen zu verkaufen, was vorher aufgrund der Sanktionen nicht möglich war, kam es zu einer wirtschaftlichen Verbesserung, die eine Stabilisierung der Währung ermöglichte. Dadurch konnte die Hyperinflation zurückgedrängt werden. Die Inflation ist zwar immer noch hoch, aber nicht mehr so extrem wie zuvor, und das Land verfügte über neue Einnahmen, die sogar jenseits des Ölgeschäfts lagen.

Jetzt wissen wir nicht genau, ob wir uns wieder in einer Situation wie früher befinden oder ob wir bereits eine Wirtschaft aufbauen, in der das Erdöl nicht mehr das wichtigste oder einzige Element ist, wie es früher der Fall war, als die Wirtschaft übermäßig davon abhängig war.

Was sind das für Geschäfte, die sich entwickelt haben?

Es gibt einige zutreffende Analysen, die auf eine „bodeguización” des Landes hinweisen. So nennen sie es, das heißt die großen Bodegones, die großen Importeure von Produkten, die es wagen, in den Handelsbereich einzutreten. Es gab einen Prozess, in dem die Ankunft von Produkten den Wettbewerb ankurbelte und die Verwendung des Dollars begann, was paradoxerweise ein Mechanismus war, um die Wirtschaft zu beleben. Es ist interessant, diese Prozesse als Laboratorium zu analysieren, weil sie das Gleichgewicht zwischen den klassischen Wirtschaftsmodellen erklären, von denen eines sehr staatsfreundlich und das andere sehr marktfreundlich ist. Und hier hat es einen sehr unkonventionellen Prozess gegeben.

In Ihrem Buch sprechen Sie auch von einem anderen Prozess, bei dem die Forderungen der Volkssektoren, die zuvor viel stärker mit der Regierungspartei identifiziert wurden, nun von der Opposition aufgegriffen werden. Wie kam es zu dieser Veränderung?

Ja, es gab einen Prozess der Bürokratisierung des Chavismus, was bei allen Bewegungen der Fall ist, die vier oder acht Jahre lang an der Macht sind. Hier sind es fast 25 Jahre. In gewisser Weise dringt die Mobilisierung der Opposition in die soziale Basis ein, in der der Chavismus hegemonial war. Dieser 28. Juli wird ein Test dafür sein, wie effektiv eine Reihe von Prozessen sowohl des Chavismus als auch der Opposition gewesen sind, um Wahlerfolge zu erreichen. Wenn der Chavismus die gleiche Anzahl von Stimmen wie in seinen guten alten Tagen erhält, würde er die Wahlen erneut gewinnen. Das Problem ist, dass die Basis des Chavismus geschwächt ist und wir nicht wissen, wie groß sie noch ist. Das alles werden wir am 28. Juli wissen.

Ein weiteres Phänomen, das in Ihrem Buch auftaucht, ist das der Massenmigration und ihrer Auswirkungen. Sie haben erwähnt, dass sie sich auf die Wahlen auswirken könnte, vielleicht zu Gunsten der Regierungspartei, da die Menschen, die sich entschieden haben zu bleiben, diejenigen sein könnten, denen es besser geht oder die mehr für die Regierung sind.

Ja, das ist sehr interessant, denn am 28. Juli wird auch getestet, wie das Wählerverzeichnis wirklich aussieht, denn seit der Migrationswelle gab es keine Volkszählung mehr, und alle Daten, die wir haben, sind bereits veraltet. Es wird geschätzt, dass etwa sieben Millionen Menschen von insgesamt 30 Millionen das Land verlassen haben. Aber es ist nicht wirklich klar, wie sich diese Zahl auf das Wählerverzeichnis ausgewirkt haben könnte: ob die Leute älter oder jünger sind, aus verschiedenen Regionen kommen oder unterschiedliche politische Richtungen vertreten. Nichts davon weiß man mit Sicherheit.

Die Tatsache, dass die Menschen im Ausland nicht wählen, ist jedoch ein klarer Vorteil für die Regierung. Die Regierung hat diesen Menschen größtenteils nicht erlaubt, zu wählen. Außerdem konnten sie an vielen Orten gar nicht wählen, da es dort kein Konsulat gibt, weil die venezolanische Regierung immer noch nicht anerkannt ist, wie in den USA.

Darüber hinaus kann die Auswanderung enorme Auswirkungen haben, da sich der gesamte ideologische, kommunikative und parteipolitische Apparat der Opposition im Ausland befindet. So ist es für sie sehr schwierig, zu agieren und zu verstehen, was hier geschieht. Und der Kampf ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die ganze Spannung konzentriert sich also auf diesen unzufriedenen Chavismus, der die Wahl bestimmen kann.

Gibt es Elemente aus dem Ausland, die einen Einfluss auf die Wahlen oder auf das, was danach passiert, haben könnten? Sie erwähnen zum Beispiel die Aussicht auf einen Wahlsieg von Donald Trump. Welche Einflüsse könnten von außen kommen?

Ich beziehe mich vor allem auf die USA, die am wichtigsten sind. Denn wenn sich der Ölmarkt stabilisieren würde und hier die Rechte gewinnt, wenn sich zudem die Ultrarechte durchsetzt, und wenn Donald Trump in den USA gewinnt, was immer wahrscheinlicher wird, dann haben wir es mit einem Kurzschluss zu tun, der bevorsteht.

Das verändert das Szenario gewaltig, denn wir wissen nicht, wie die Reaktionen ausfallen würden, inwieweit in dieser Situation Raum für Revanchismus, für Gewalt wäre. Wir sprechen hier von einem Prozess, in dem die Streitkräfte die Regierung unterstützen, wir sprechen nicht von einer schwachen Regierung, wie es in Lateinamerika oft geschieht – nehmen wir das Beispiel von Pedro Castillo in Peru. Hier haben wir es mit einer sehr starken Regierung zu tun, und deshalb könnte jeder abrupte, radikale Wechsel, der aus den politischen Bahnen gerät, sogar zu einem Bürgerkrieg führen.

Dies ist ein Szenario, von dem wir natürlich hoffen, dass es nicht eintritt. Das wird zunehmend unwahrscheinlicher, aber der 28. nähert sich, das ist ein Funke. Hoffentlich wird er eine demokratische Initialzündung sein, bei der der Verlierer das Ergebnis akzeptiert und die Rolle der Opposition übernimmt.

Nächstes Jahr finden sehr wichtige Wahlen statt, es sind Mega-Wahlen, bei denen vom Parlament bis zu den Bürgermeistern, Gouverneuren und praktisch allen Institutionen gewählt wird. Der Verlierer hat also in den kommenden Jahren der Politik viel zu gewinnen.

Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika21

Titelbild: Wahlkampfauftritt des amtierenden Präsidenten Nicolas Maduro in Caracas – Quelle: Shutterstock / testing

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