Wie Putin sich aus der Affäre zieht
Russlands Premier sitzt die Forderung nach Neuwahlen aus und präsentiert sich den Wählern als Garant sozialer Stabilität. Von Ulrich Heyden, Moskau
Am Montag gab Putin eine erste Kostprobe seines Präsidentschaftswahlkampfes. Auf einer Videokonferenz mit Spitzenbeamten aus der Provinz prangerte der Premier vor laufenden Fernsehkameras eine 40prozentige Preiserhöhung für die Warmwasserversorgung in der drei Flugstunden östlich von Moskau gelegenen Stadt Nowo-Wjatsk an. Mit solchen „Schocks“ könne der „Sprung nach Vorne“ nicht gelingen, erklärte Putin, schwenkte eine Warmwasser- Abrechnung vor der Kamera und wies den Gouverneur der betreffenden Region, Nikita Belych an, schnellstens aus dem Urlaub zurückzukehren.
Korruption bei der Wohnungsbewirtschaftung
Es war ein geschickter Schachzug von Putin, sich zum Anfang des Jahres vor den Fernsehkameras zum Problem der Wohnungsbetriebskosten zu äußern. Denn die Kostensteigerungen bei der Wohnungsbewirtschaftung sorgen bei den Russen seit Jahren für Ärger. Es gibt es Vorwürfe, dass sich korrupte Beamte und private Firmen bei der Bewirtschaftung der Mehrfamilienhäuser bereichern. Indem Putin die Kostensteigerung in der Stadt Nowo-Wjatsk anprangerte, wollt sich der Premier als Garant der sozialen Stabilität präsentieren und der Opposition kontern, welche die Kreml-nahe Partei Einiges Russland als Partei der „Betrüger und Diebe“ bezeichnet.
Es war aber auch kein Zufall, dass sich Putin ausgerechnet den Gouverneur Nikita Belych vorknöpfte. Dieser beteiligte sich noch 2008 – vor seiner Ernennung zum Gouverneur- an Straßenprotesten gegen den damaligen Präsidenten Putin. Außerdem beschäftige Belych, der zu Russlands bekannten Liberalen zählt, im Jahre 2009 den Blogger Aleksej Nawalny als Berater. Nawalny wird heute als zukünftiger Präsidentschaftskandidat der Opposition gehandelt.
Sinkende Popularität des Premiers
Schon jetzt ist abzusehen, dass Putin die Präsidentschaftswahlen im März zwar gewinnt, aber nicht in der ersten Wahlrunde. Dies ergab eine Befragung des Meinungsforschungsinstituts Vziom. Das gleiche Institut ermittelte, dass nur noch 38 Prozent der Bürger Putin für den „Politiker des Jahres“ halten. Im Vorjahr waren es noch 55 Prozent gewesen.
Der Popularitätsverlust von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew macht inzwischen auch der Kirche Sorgen. Der Patriarch der russischen-orthodoxen Kirche, Kirill, warnte, der Kreml könne den Kontakt zum Volk verlieren. In einem Interview mit dem russischen Fernsehkanal Rossija 1 äußerte der Patriarch Verständnis für die Protestbewegung und rief den Kreml zu einer „Korrektur des politischen Kurses“ auf. Wenn die Macht sich gegenüber den Protesten „gefühllos“ zeige, sei das ein „sehr schlechtes Zeichen“.
Kirill spricht faktisch im Namen von der 75 Prozent Bevölkerung. Dreiviertel der Einwohner Russland bekennen sich zum russisch-orthodoxen Glauben.
Ex-Finanzminister für Duma-Neuwahlen in einem Jahr
In der russischen Protestbewegung weicht der Euphorie über die große Beteiligung an den Demonstrationen im Dezember jetzt die Einsicht, dass man sich über einen Grundkonsens verständigen muss.
Der Führer der Linken Front, Sergej Udalzow, forderte von den beiden Präsidentschaftskandidaten Gennadij Sjuganow (KPRF) und Sergej Mironow (Gerechtes Russland), die Forderungen der Bewegung gegen Wahlfälschungen öffentlich zu unterstützen.
Der ehemalige Finanzminister Aleksej Kudrin, der im Dezember überraschend auf einer der Oppositions-Kundgebungen aufgetreten war, forderte den Kreml zu Verhandlungen mit der Protestbewegung auf und sprach sich für die Neuwahl der Duma in einem Jahr aus. Um einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzubauen, brauche die Opposition eineinhalb Jahre, erklärt Kudrin.
Wo is Mr. Navalny?
Der Krimi-Autor Boris Akunin – der als Schriftsteller in der Protestbewegung eine Art Vermittler-Rolle einnimmt – bemühte sich in den letzten Tagen um die Klärung der Frage, „who is Mr. Navalny?“ Der bekannte Blogger gilt in der Opposition als möglicher Präsidentschaftskandidat. Doch vielen Oppositionellen ist sein Gekungel mit den Nationalisten nicht geheuer. Nawalny nahm mehrmals an „Russischen Märschen“ teil und äußerte sich abfällig über Kaukasier . In einem Interview welches der Schriftsteller Akunin nun mit dem berühmten Blogger führte, bekennt sich dieser zum „europäischen Weg“, umgeht aber die heiklen Details.
Nawalny sei einer klaren Antwort „ausgewichen“, konstatiert der liberale Sozialwissenschaftler Jefgeni Gontmacher. In dem Interview habe Nawalny ausdrücklich das Manifest der von ihm 2007 gegründeten „Nationalen russischen Befreiungsbewegung“ Narod (Volk) verteidigt. In diesem Manifest – so Gontmacher – werde die Stärkung der „russischen Identität“ in Abgrenzung zur „russländischen Identität“ gefordert.
Dazu muss man wissen: Die russländische Identität ist heute praktisch offizielle Staatsdoktrin. Sie garantiert allen Völkern, die in Russland leben, also auch Baschkiren, Tataren, Tschetschenen und Dagestanern die gleichen Verfassungsrechte. Nach Meinungsumfragen unterstützt jedoch inzwischen über die Hälfte der Bevölkerung die Parole „Russland den Russen“. Insbesondere in Moskau und St. Petersburg herrscht eine ablehnend bis feindliche Stimmung gegen Gastarbeiter und Händler aus dem Kaukasus und Zentralasien.
Soviel ist klar: Der Streit in der Opposition, was für ein Russland man eigentlich will, ist also noch nicht ausgestanden und wird voraussichtlich noch einige Zeit dauern.
Ulrich Heyden, Moskau, 12.01.12