Das Attentat auf Donald Trump vom 13. Juli 2024, das den US-Präsidentschaftskandidaten nur knapp verfehlte, beherrscht derzeit die Schlagzeilen. Darüber ist eine Nachricht zwei Tage zuvor, die mindestens ebenso viel mediale Aufmerksamkeit verdient hätte, fast wieder aus dem Blick geraten: Wie ZDF heute am 11. Juli 2024 mitteilte, „wollen die USA erstmals seit dem Kalten Krieg wieder Langstreckenwaffen in Deutschland stationieren. Diese könnten dann auch Ziele weit im Inneren von Russland erreichen. Von 2026 an sollen Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit deutlich mehr als 2.000 Kilometern Reichweite, Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und neu entwickelte Überschallwaffen für einen besseren Schutz der NATO-Verbündeten in Europa sorgen. Das gaben das Weiße Haus und die Bundesregierung am Rande des NATO-Gipfels in Washington bekannt. Das Bündnis sicherte zudem der von Russland angegriffenen Ukraine zu, dass sie auf ihrem Weg in die NATO nicht mehr aufgehalten werden kann.“ Ein Essay von Michael Schneider.
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Die verdrängte Erblast von 1941 und die deutsche Geschichtsvergessenheit
Im Rahmen eines deutsch-sowjetischen Kulturaustausches hatten meine Frau Ingeborg und ich die exzeptionelle Gelegenheit, im Sommer 1987 und 1988 für jeweils mehrere Wochen die UdSSR zu bereisen. Es war die Zeit von Gorbatschows Reformen „Glasnost“ und „Perestroika“. Beide Reisen führten uns und unseren russischen Freund und Reisebegleiter, den Schriftsteller Rady Fish, kreuz und quer durch das riesige Land. Durch ihn lernten wir viele Männer und Frauen der sowjetischen Kriegsgeneration kennen: ehemalige Soldaten und Partisanen, Chronisten und Augenzeugen der „verbrannten Dörfer“, Überlebende der „Belagerung Leningrads“, ehemalige russische „Ostarbeiter“ und Kriegsgefangene, die die deutschen Lager überlebt haben. Dabei erging es mir wie einem Detektiv, der am Tatort angekommen ist. Erst dort begreift er die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens: was der deutsche Überfall und das faschistische Besatzungsregime für die sowjetischen Völker wirklich bedeutet haben.[1]
Von Riga bis Leningrad, von Kiew bis Rostow, vom Baltikum bis Belarus, von der Ukraine bis zum Kaukasus – so weit die deutsche Okkupation reichte, sie hat sich als kollektives Trauma in das Gedächtnis der Russen eingebrannt. An den „Großen Vaterländischen Krieg“, an den ungeheuren Blutzoll von 28 Millionen Menschen, den die sowjetischen Völker im Kampf gegen die Hitler-Armeen entrichten mussten, an die vielen Millionen Opfer des Nazi-Terrors in den besetzten Gebieten erinnern nicht nur zahllose Denkmäler und Gedenkstätten, Museen und Ausstellungen, ungezählte Bücher und Filme, sondern auch jede zweite russische Wohnstube, wo die gerahmten Fotografien der gefallenen und vermissten, ermordeten oder verhungerten Angehörigen hängen.
Kollektive Amnesie
Im Frühjahr 1988 kam dann unser russischer Freund zum Gegenbesuch in die Bundesrepublik. Er war besonders an Begegnungen mit deutschen Kriegsveteranen interessiert, die am Russlandfeldzug teilgenommen hatten. Dabei machte er die Erfahrung, dass nur sehr wenige bereit oder fähig waren, über dieses Thema zu sprechen, und dass die meisten Bundesbürger, die älteren wie auch die jüngeren, gar nicht wissen, was sich unter der deutschen Besatzung in der UdSSR abgespielt hat. Auch fiel uns während unserer gemeinsamen Reise durch die „deutschen Lande“ auf, dass fast alle Erinnerungsspuren an die sowjetischen Opfer des deutschen Vernichtungsfeldzuges aus dem Alltag, dem politischen und kulturellen Leben der Bundesrepublik gelöscht worden waren. Was von den sowjetischen Völkern als kollektives Trauma erlitten wurde und sich unverlöschlich in ihrem kulturellen Langzeitgedächtnis eingegraben hatte, das war bei uns offenbar einer kollektiven Amnesie anheimgefallen.
Wo zum Beispiel sind die Gedenkstätten oder Mahnmale, die an die 3,3 Millionen russischen Kriegsgefangenen erinnern, die in deutschen KZs, Gefangenen- und Arbeitslagern durch Arbeit vernichtet, verhungert, erschossen, vergast oder durch Misshandlungen zu Tode gebracht wurden? Von den 65.000 vorwiegend russischen Kriegsgefangenen im Lager Stukenbrock bei Paderborn waren bei Kriegsende noch 5.000 am Leben. Nicht nur Auschwitz und Treblinka, auch die deutschen Lager für sowjetische Kriegsgefangene mit ihrer durchschnittlichen Sterbequote von fast 60 Prozent muss man als Todes- und Vernichtungslager qualifizieren.
Und wo sind die Gedenkstätten für die Opfer der vielen Hundert „verbrannten Dörfer“? Oftmals wurden die Einwohner in Schulen, Scheunen und Kirchen zusammengetrieben, wo sie bei lebendigem Leibe verbrannten. Gibt es in unserem Land, das immer neue Museen aus dem Boden stampft und in Bonn und Berlin Geschichtstempel von gigantischen Ausmaßen errichten ließ, auch nur ein einziges Museum, das die unvorstellbaren Leiden und menschlichen Tragödien dokumentiert, die sich während der deutschen Belagerung in Leningrad abgespielt haben? Über eine Million Leningrader haben durch die Blockade ihr Leben verloren. Die Hälfte der Einwohner, auch die meisten Frauen und Mütter, sind samt ihren Kindern verhungert, an Entkräftung oder Seuchen gestorben, nachdem sie ihre letzten Möbel verheizt und nichts mehr zum Essen hatten als den Kitt ihrer Fensterrahmen.
„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan)
Um eine Vorstellung davon zu geben, welche Zerstörungen und Verbrechen auf das Konto nur einer Armee und der in ihrem Operationsbereich tätigen Sonderkommandos gingen, sei hier das Beispiel der 18. Armee (Nord) aufgeführt, die auch an der Belagerung Leningrads beteiligt war. Dem Generalstabschef Friedrich Foertsch, der in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet, wurde nach dem Krieg von einem sowjetischen Gericht der Prozess gemacht. Foertsch wurde angeklagt, „erstens Hitlers Plan der Vernichtung Leningrads und seiner Bevölkerung, soweit die Faschisten das verwirklichen konnten, vollstreckt zu haben, zweitens als Generalstabschef in unmenschlicher Weise die Bevölkerung aus den frontnahen Gebieten evakuiert und Massenvernichtungen von Ortschaften vorgenommen zu haben, drittens die alten russischen Städte Novgorod, Pskow und Ostrow vollständig zerstört (…) sowie im Gebiet Novgorod allein 186.760 Kriegsgefangene, Soldaten und Offiziere der Sowjetarmee getötet zu haben“.[2]
Zur geplanten Vernichtung Leningrads erklärte Foertsch vor Gericht: „Ich gebe zu, die Befehle zum Beschuss gegeben zu haben, bekenne mich aber nicht schuldig.“
Ungebrochene personelle Kontinuität zwischen Wehrmacht und Bundeswehr
Friedrich Foertsch wurde vom sowjetischen Tribunal als „überführter Kriegsverbrecher“ zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, musste aber nur zehn Jahre absitzen. 1955 wurde er zusammen mit anderen deutschen Kriegsverbrechern an Westdeutschland zurückgegeben. Für seine zehnjährige Haftzeit wurde er alsbald auf besondere Weise entschädigt, und zwar durch eine Bilderbuchkarriere bei Bundeswehr und NATO. Bereits 1956 wurde er Divisionskommandeur der zweiten Grenadierdivision in Kassel und kurz darauf zum General ernannt. 1959 wurde er stellvertretender Stabschef für Planung und Politik im NATO-Hauptquartier, 1961 löste er den damaligen Generalinspekteur der Bundeswehr Adolf Heusinger ab, der ebenfalls ein „verdienter“ Nazi-Oberst gewesen war.
Dass solche Militärkarrieren nach 1945 beileibe keine Ausnahme bildeten, belegt die nahezu ungebrochene personelle Kontinuität in den Führungsstäben von Wehrmacht und Bundeswehr. Bereits 1957 traten 44 ehemalige Wehrmachtsgenerale und -admirale sowie mehr als 1.000 ehemalige Wehrmachtsoffiziere in leitender Stellung wieder in den Dienst der neuen deutschen Armee.
Apropos: „Wir müssen kriegstüchtig werden!“ (O-Ton Boris Pistorius)
Bereits 2017 hat der Militärhistoriker Sönke Neitzel in einem SPIEGEL-Beitrag wieder die Rückbesinnung auf „militärische Werte“ angemahnt: Die Bundeswehr müsse wieder ein „Instrument des Kampfes“ sein. Man könne „Panzergrenadieren und Fallschirmjägern“ doch nicht „lauter nicht-kämpfende Vorbilder anbieten“. Sie „sollen kämpfen und töten können“ und sich deshalb nicht auf „Traditionselemente“ beschränken, „die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechen“. Neitzel empfahl der Bundeswehr allen Ernstes, sie solle sich wieder in die Traditionslinie der Wehrmacht stellen. (Der SPIEGEL 29/2017)
Wenn ein deutscher Militärhistoriker und Lehrstuhlinhaber fünf Jahre vor der russischen Invasion in die Ukraine in einem deutschen Leitmedium wieder solche Thesen verkünden und eine Armee als Vorbild empfehlen darf, die sich ohne nennenswerten Widerstand für den ungeheuerlichsten Angriffs-, Raub- und Vernichtungskrieg der Neuzeit zur Verfügung stellte – welche Schlüsse haben wir daraus zu ziehen? Dass die Bundesrepublik Deutschland als die führende Wirtschaftsmacht der EU ihre bisherige militärische Zurückhaltung endlich aufgeben und bei dem jetzigen in der Ukraine geführten Stellvertreterkrieg zwischen der US-geführten NATO und Russland wie auch bei den künftigen US-geführten Rohstoff- und Regimewechsel-Kriegen wieder ganz vorne mit dabei sein möchte?
Der Pyrrhussieg im „Großen Vaterländischen Krieg“
In keinem deutschen Geschichts- oder Schulbuch über den Zweiten Weltkrieg findet man eine annähernd realistische Beschreibung, welche Zerstörungen und Verwüstungen die deutschen Armeen auf dem Vormarsch, besonders aber während des Rückzugs angerichtet haben und was der „Führer-Befehl: Verbrannte Erde“ für die Sowjetunion bedeutete. In den von 88 Millionen Menschen bewohnten Besatzungsgebieten wurden insgesamt 15 Großstädte, 1.710 Kleinstädte und 70.000 Dörfer ganz oder teilweise verwüstet und sechs Millionen Häuser verbrannt oder demoliert, wodurch 25 Millionen Menschen ihr Obdach verloren. Ein Drittel des bebaubaren Landes war in Ödland verwandelt, die Kolchosen und Sowchosen waren ohne Vieh, ohne Saatgut, ohne Gerätschaften und Maschinen. Fast die Hälfte des sowjetischen Industriepotenzials war vernichtet worden – „was einer Zerstörung Amerikas östlich von Chicago gleichkäme“, wie Präsident Kennedy in einer Rede am 10. Juni 1963 betont hatte.
Am schrecklichsten aber waren die Verluste an Menschenleben. Angesichts der Tatsache, dass der militärische Sieger Sowjetunion mindestens viermal so viele Menschen verloren hat wie der Angreifer und militärische Verlierer Deutschland, kann man wohl nur noch von einem „Pyrrhussieg“ sprechen.
Geteiltes Land, halbierte Schuld
Die meisten Bundesbürger gehen noch heute von der irrigen Vorstellung aus, die 28 Millionen Toten auf sowjetischer Seite seien Opfer „normaler Kriegshandlungen“ gewesen. Mindestens sieben bis acht Millionen – manche Historiker sprechen von zehn Millionen – sind jedoch außerhalb der eigentlichen Kampfhandlungen zu Tode gekommen – ein Tatbestand, der es wohl rechtfertigt, von Völkermord zu sprechen. Ausschwitz wurde als „unfassbares Verbrechen“ von fast allen Deutschen eingestanden – der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion und die damit verbundene Schuld wurden dagegen mit dem Einsetzen des Kalten Krieges in der BRD rasch wieder verdrängt, verleugnet oder bagatellisiert. Dabei hatte der Krieg gegen die Sowjetunion überhaupt erst die Voraussetzung für den Holocaust geschaffen, indem er die osteuropäischen und russischen Juden in die Hände der Nazis brachte.
Die deutsche Teilung und der wenige Jahre nach Kriegsende einsetzende Kalte Krieg, in dem „die Sowjetunion“ wieder zum Feind erklärt wurde, hatten auch eine Teilung der deutschen Schuld (und des Schuldgefühls) zur Folge. Während die DDR, das heißt ein Drittel der deutschen Bevölkerung, stellvertretend für Gesamtdeutschland die Kriegsschuld gegenüber der Sowjetunion im materiellen wie moralischen Sinne übernehmen musste, sah sich der bundesrepublikanische Staat in der alleinigen Schuld Israels.
Es dürfte denn auch kein Zufall sein, dass nach einer Umfrage von 2019, wer Deutschland vom Hitler-Faschismus befreit hat, nur 13 Prozent der Deutschen auch die Russen nannten. Wer es aber neuerdings wagt, am Jahrestag der Befreiung Deutschlands durch die Rote Armee am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin eine Gedenkrede zu halten und an die ungeheuren Opfer der russischen Völker im Kampf gegen den deutschen Faschismus zu erinnern, dem droht ein Prozess wegen „Volksverhetzung“. Wie sagte Tucholsky: „Denn dies heißt Verkommenheit: Nicht mehr fühlen, wie tief man gesunken ist!“
Die Täter-Opfer-Umkehr
Statt sich für die Bedrohungsgefühle der sowjetischen Seite mitverantwortlich zu fühlen, haben sich die westdeutsche Kriegsgeneration und ihre politischen Repräsentanten jahrzehntelang in eine Bedrohungshysterie hineingesteigert, die es den ehemaligen Angreifern gestattete, sich selbst als bedrohte Opfer eines jederzeit möglichen sowjetischen Überfalls zu begreifen und, im Bündnis mit der US-geführten NATO, zur Strategie der militärischen und atomaren Abschreckung ihre Zuflucht zu nehmen.
Vom kollektiven Verhalten – so der Hamburger Psychoanalytiker Carl Nedelmann –benehmen wir uns noch immer so, als wären nicht wir es gewesen, die die Sowjetunion überfallen, an den Rand einer Niederlage gebracht und mit unsäglichem Leid überzogen haben. Die Schuld haben wir nicht auf uns genommen, sondern verdrängt, abgespalten, verschoben und projiziert. Dieser Abwehrvorgang wurde durch die Erinnerung an das Leid, das die Russen uns bei der Einnahme angetan haben, gebahnt und verfestigt. Immer noch trauen wir den Russen zu, was sie uns angetan haben, aber unbewusst bürden wir ihnen zusätzlich in projektiver Verkehrung auf, was wir ihnen angetan haben.“[3]
Diese „projektive Verkehrung“, sprich: Täter-Opfer-Umkehr war ein geradezu populärer Topos der Adenauer-Ära – und wird offenbar von einer Generation an die nächste weitergegeben. So können die heute regierenden Enkel und „grünen“ Kindeskinder der deutschen Kriegsgeneration Wladimir Putin ohne Not und Beweis einfach unterstellen, er wolle den Status quo ante der Sowjetunion wiederherstellen und nach der Ukraine – wer weiß – vielleicht das Baltikum oder Finnland überfallen. Und da sich die heutigen Entscheider in Politik, Medien und Kultur als „gute Demokraten“ verstehen und sich für hypermoralisch halten, merken sie gar nicht, dass sie sich längst wieder im ideologischen Dunstkreis und auf den mit Schwarz-Rot-Gold übertünchten blutigen Spuren ihrer Großväter und Urgroßväter bewegen!
Die Macht der Kriegspropaganda
Gleichwohl ist festzuhalten: Die Dämonisierung Wladimir Putins als „neuer Weltbösewicht“ ist primär ein Werk der westlichen Kriegspropaganda, um den lange geplanten NATO-Krieg gegen Russland zu rechtfertigen. Man lese nur das Strategiepapier der „Rand-Corporation“ [4], das am 5. November 2019, also drei Jahre vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, auch dem US-Kongress vorgelegt wurde: „Overextending and Unbalancing Russia“ (Russland aus dem Gleichgewicht bringen und überdehnen, um es dauerhaft zu schwächen). Für die große Mehrheit der deutschen Politiker und Journalisten begann dieser Krieg erst am 24. Februar 2022. In dieser Sichtweise, die die lange und komplexe Vorgeschichte dieses Krieges ausklammert, fungiert Putin als der alleinige Aggressor.
Faktum hingegen ist, dass der Krieg in der Ukraine bereits acht Jahre zuvor begann – mit dem blutigen Massaker auf dem Maidan und dem vom State Department, US- und britischen Geheimdiensten finanzierten und unter Beteiligung von ukrainischen Bandera-Faschisten organisierten Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Janukowitsch. Nach UN-Angaben hat der innerukrainische Bürgerkrieg von 2014 bis 2018 rund 13.000 Tote gekostet, darunter 3.300 Zivilisten.[5] Haben wir je davon in unseren Medien gehört oder gelesen? Hat eine westliche Regierung jemals öffentlich protestiert oder gar Sanktionen gegen die Kiewer Regierung gefordert, die den Donbass permanent beschießt, das heißt die eigenen, mehrheitlich russischsprachigen Landsleute massakrieren ließ? Wer es wagt, solche Fakten heute in die öffentliche Debatte einzubringen, wird sofort als „Putin-Versteher“ und „Putin-Troll“ diffamiert – und muss sogar damit rechnen, unter Verweis auf das neue juristische Wortungetüm „Delegitimierung des Staates“ strafrechtlich verfolgt zu werden.
So wenig unsere „westlichen Werte, Demokratie und Freiheit“ in Afghanistan verteidigt wurden, so wenig werden sie jetzt in der Ukraine verteidigt. Stehen russische Truppen etwa an der deutschen Grenze, oder verhält es sich nicht vielmehr genau umgekehrt? Was hat die Bundeswehr im Baltikum verloren? Wer hat angesichts der permanenten Osterweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands und angesichts des diesjährigen, seit Kriegsende größten militärischen Aufmarsches im Rahmen der NATO-Übung „Defender“ eigentlich Grund, sich bedroht zu fühlen: wir oder die Russen? Und jetzt noch die doppelte Zusicherung Washingtons beim letzten NATO-Gipfel an die Ukraine, „dass sie auf ihrem Weg in die NATO nicht mehr aufgehalten werden kann“ und dass „neu entwickelte Überschallwaffen für einen besseren Schutz der NATO-Verbündeten in Europa sorgen (sollen)“ – müssen solche Ankündigungen den Kreml-Chef und seine militärischen Berater denn nicht in höchste Alarmbereitschaft versetzen?
Drei Tage später kündigte Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow entsprechende Gegenmaßnahmen [6] an und sagte wörtlich: „Wir haben die Kapazitäten, diese Raketen in Schach zu halten, aber die potenziellen Opfer sind die Hauptstädte dieser europäischen Länder.“ – Man sollte diese Äußerung bitterernst nehmen!
Dark Eagle
In seiner Rede an die Nation am 21. Februar 2022, drei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine, beschwor Putin die aus russischer Sicht existenzielle Bedrohung, die ein NATO-Beitritt der Ukraine für sein Land bedeute:
„Ich möchte Ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass die Gefahr eines überraschenden Schlags gegen unser Land um ein Vielfaches zunehmen wird, wenn die Ukraine NATO-Mitglied werden sollte (…) Nachdem die Vereinigten Staaten den Vertrag über Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen zerstört haben, entwickelt das Pentagon bereits offen eine Reihe von bodengestützten Angriffswaffen, einschließlich ballistischer Raketen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 5.500 Kilometern erreichen können. Wenn solche Systeme in der Ukraine stationiert werden, werden sie in der Lage sein, Objekte auf dem gesamten europäischen Territorium Russlands sowie hinter dem Ural zu bekämpfen. Die Flugzeit von Marschflugkörpern ‚Tomahawk‘ nach Moskau beträgt weniger als 35 Minuten, für ballistische Raketen aus dem Raum Charkiw 7 bis 8 Minuten und für die Hyperschall-Raketen 4 bis 5 Minuten. Das bezeichnet man als ‚das Messer am Hals‘.“[6]
Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die USA auf deutschem Boden die Stationierung ganz neuer mobiler Waffensysteme vom Typ „Dark Eagle“ vorbereiten. Sie sind als gezielter „Enthauptungsschlag“ gegen feindliche, zum Beispiel russische Kommandozentralen konzipiert und so konstruiert, dass sie jegliche Abfangraketen unterlaufen können.
Kaja Kallas, die estnische Ministerpräsidentin, die eben zur außenpolitischen Sprecherin der EU ernannt wurde, träumt bereits öffentlich von der notwendigen Dekolonisierung Russlands und seiner Zerstückelung in diverse Teilstaaten – so, wie es mit dem ehemaligen Jugoslawien geschah. Halten wir fest: Bereits 1999, als die US-geführte NATO den Krieg wieder nach Europa brachte und ohne UNO-Mandat, dafür mit deutscher Beteiligung Belgrad bombardierte, begann die jetzt so viel beschworene „Zeitenwende“.
Bekanntlich gehörte die kritische „Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“ zu den zentralen Anliegen der politisierten deutschen Kriegskinder-Generation und der 68er-Bewegung. Was aber – so frage ich mich heute – haben unsere ganzen Bemühungen letztlich genützt, wenn unsere gewählten politischen Repräsentanten, was den Umgang mit Russland betrifft, nichts und null aus dieser Vergangenheit gelernt haben? Wenn die deutsche Außenministerin, eine Absolventin des „Young Global Leader“-Programms des WEF, nach zwei von Deutschland mit- und alleinverschuldeten Weltkriegen als ernsthaftes Ziel in die Welt posaunen darf, das größte Land der Welt, nämlich „Russland zu ruinieren“! Wenn der deutsche Verteidigungsminister die – noch vor Jahren selbst im Mainstream undenkbare – Parole „Wir müssen kriegstüchtig werden“ wieder salonfähig gemacht und inzwischen zum – mit Abstand – beliebtesten Politiker der Berliner Republik avanciert ist! Und wenn unser Cum-ex-Kanzler jede rote Linie, die er in puncto Waffenlieferungen für die Ukraine noch eben öffentlich verkündet hat, kurze Zeit später auf Geheiß Washingtons wieder übertritt – eine nicht nur erbärmliche Manifestation politischer Rückgratlosigkeit und deutschen Vasallentums, sondern auch ein brandgefährliches Manöver, das uns der Schwelle zum Atomkrieg immer näherbringt!
Wie lange noch wird die russische Führung angesichts der permanenten Provokationen des US-geführten „Werte-Westens“ Zurückhaltung üben? Muss eine deutsche Regierung, falls sie noch einen Funken Rationalität und politisches Verantwortungsgefühl hat, denn nicht gewärtigen, dass im Falle einer atomaren Eskalation die ersten Ziele eines russischen Gegenschlages Wiesbaden (künftiges NATO-Hauptquartier für den Ukraine-Einsatz,) Stuttgart (Sitz des Europäischen Kommandos der NATO), Bremerhaven (Drehscheibe für US-Truppentransporte Richtung NATO-Ostgrenze), Büchel (Atomwaffenlager für die nukleare Teilhabe) und Ramstein (Zentralmodul für den globalen US-Drohneneinsatz) sein werden? Doch selbst dieses sehr wahrscheinliche Szenario scheint die derzeitige, von ihrer eigenen „Kriegstüchtigkeit“ besoffene Berliner Ampel in ihrer umnachteten Bündnis- und Nibelungentreue nicht zu behelligen.
1951, angesichts der Wiederbewaffnung und Remilitarisierung der jungen Bundesrepublik, verfasste Bertolt Brecht einen „Offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller“ – mit der Warnung an alle, dass „Deutschland einen dritten Weltkrieg nicht überleben würde“. Der Brief endete mit dem berühmt gewordenen Epigramm:
„Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“
Titelbild: BearFotos/shutterstock.com
Über den Autor: Michael Schneider ist Essayist, Theater- und Romanautor und lebt in Berlin. Er studierte Biologie, Philosophie und Sozialwissenshaften und promovierte über Karl Marx und Sigmund Freud. Er lehrte viele Jahre als Professor für Dramaturgie und Stoffentwicklung an der Filmakademie Baden-Württemberg. Er ist Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums, des Willy-Brandt-Kreises e.V. und des Magischen Zirkels von Deutschland. Er veröffentlicht online u.a. bei tkp.at, Neue Rheinische Zeitung, Manova und Neue Debatte.
[«1] Alle in diesem Beitrag aufgeführten Fakten und Zahlen zum deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion entstammen dem militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg und dem 1983 erschienenen 4. Band „Der Angriff auf die Sowjetunion“. Vgl. auch meine beiden Bücher „Das Unternehmen Barbarossa. Die verdrängte Erblast von 1941 und die Folgen für das deutsch-sowjetische Verhältnis“, Darmstadt 1989, und „Iwan der Deutsche“, zusammen mit Rady Fish, Darmstadt 1989.
[«2] „Neue Zeit“, Außenpolitische Wochenschrift der UdSSR, Januar 1961
[«3] Carl Nedelmann, Von deutscher Minderwertigkeit, in: Nedelmann (Hrsg.), Zur Psychoanalyse der nuklearen Bedrohung, Göttingen 1987, S. 29
[«4] Rand-Corporation, „Overextending and Unbalancing Russia“, abrufbar unter: doi.org/10.7249/RB10014, Year: 2019, abgerufen am 27. November 2022.
[«5] Vgl. n-tv.de/politik/Uno-meldet-fast-13-000-Tote-in-Ostukraine-article20821339.html
[«6] Vgl. hierzu Henken, Lühr, Der Ukraine-Krieg – immense Herausforderung für die Friedensbewegung, Vortrag Berlin, 5. April 2022, abrufbar unter: frikoberlin.de/texte/20220405_henken.pdf