Politiker, Unvollkommenheiten und Abhängigkeiten – Wir brauchen mehr direkte Demokratie

Politiker, Unvollkommenheiten und Abhängigkeiten – Wir brauchen mehr direkte Demokratie

Politiker, Unvollkommenheiten und Abhängigkeiten – Wir brauchen mehr direkte Demokratie

Ein Artikel von Heinz-J. Bontrup

Die parlamentarische (indirekte) Demokratie ist in vielen Ländern gefährdet. Wir haben längst „postdemokratische Zustände“, so der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch, und der deutsche Philosoph Jürgen Habermas spricht von einer „Fassadendemokratie“. Die Menschen wenden sich ab. Es entsteht Politikverdrossenheit. Das Vertrauen in die Demokratie schwindet seit der letzten Bundestagswahl 2021 besonders rapide, stellt in einer jüngsten repräsentativen Umfrage die Körber-Stiftung fest. Wähler gehen nicht mehr wählen. Die größte „Partei“ bei Wahlen sind heute die Nichtwähler. Die derzeitige „Ampel-Regierung“, bestehend aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP, ist, bezogen auf die Wahlberechtigten, nur von 49,5 Prozent, also knapp der Hälfte der Bürger und Bürgerinnen gewählt worden. Die Menschen durchschauen immer mehr eine Politik, die nicht für die Mehrheit der Menschen gemacht wird, was aber die eigentliche Aufgabe von Demokratie wäre, sondern für eine kleine Schicht von Profiteuren in der Gesellschaft, wovon die meisten ihren Reichtum geerbt und die anderen sich die Arbeits- bzw. Mehrwerte durch Ausbeutung der Arbeitskräfte angeeignet haben. Auf der anderen Seite leiden gut 16 Prozent der deutschen Bevölkerung unter Armut und jedes fünfte Kind hat arme Eltern. Nicht nur die schon lange ausgegrenzten gesellschaftlichen Ränder – Soziologen sprechen von einer „Externalisierung“ –, sondern selbst der Mittelstand fühlt sich mittlerweile von der jeweils herrschenden Politik bedroht. Von Heinz-Josef Bontrup.

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Bedrohungen empfinden aber auch immer mehr Politiker und Politikerinnen, die regelmäßig vom Volk gewählt und auf Zeit mit dem staatlichen Gewaltmonopol ausgestattet werden. Politiker werden körperlich angegriffen und ermordet. Hier kam es während der Weimarer Zeit, am Ende der ersten deutschen Demokratie, sogar zu Hunderten von politischen Morden. In den USA waren Präsidenten und Politiker schon immer Zielscheibe von Attentaten, die auch tödlich endeten. Was ist das für eine „Demokratie“, wo sich Wähler und Gewählte gegenseitig bedrohen und bis aufs Äußerste bekämpfen und wo Politiker vor dem Volk vielfach mit Polizeigewalt beschützt werden müssen? Was sind die Ursachen für die verheerenden Symptome?

Der große französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) schrieb schon 1762 im dritten Buch seines Gesellschaftsvertrages: „Das englische Volk hält sich für frei. Es irrt gewaltig. Es ist nur frei während der Wahl der Mitglieder des Parlamentes. Sobald diese gewählt sind, wird das Volk zum Sklaven und ist nichts.“ Und der SPD-Politiker Herbert Wehner (1906-1990) brachte es in jüngerer Geschichte auf den Punkt. „Der Wähler legitimiert mit seiner Wahl die Entscheidungen, die anschließend gegen ihn unternommen werden.“ So lebt dann das Volk in einer Zuschauerdemokratie. „Die Volksvertreter können, sind sie einmal im Amt, so handeln, wie es ihnen beliebt, gleichgültig, wie die Wähler wünschen, dass sie handeln“, schreibt der Schweizer Philosoph Urs Sommer, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Auch die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff konstatiert: „Die Bürger sind, was politisches Entscheiden angeht, weitestgehend auf Wahlen beschränkt.“

Einmal in die Parlamente gewählt, sind Volksvertreter nicht mehr an Aufträge und Weisungen gebunden, sondern nur noch ihrem Gewissen verpflichtet. So steht es im Grundgesetz. Das stimmt aber realiter nicht. Politiker und Politikerinnen sind vielmehr Abhängige ihrer jeweiligen Parteien und hier insbesondere Abhängige von den Parteispitzen, die sie als Kandidaten zur Wahl letztlich aufstellen und damit auf ein parteipolitisches Wahlprogramm festlegen und verpflichten. Die Wähler und Wählerinnen entscheiden sich dann womöglich mehr für die Partei und das Wahlprogramm als für die aufgestellten Politiker. Nach der Wahl erzielt die Partei aber nur in Ausnahmefällen eine absolute Mehrheit, und es kommt in der Regel zu Koalitionen und Koalitionsverträgen. Dann müssen die Wähler feststellen, dass von dem Wahlprogramm der gewählten Partei nicht mehr viel im Koalitionsvertrag übrig geblieben ist. Und selbst an der Umsetzung des Vertrages während der Legislaturperiode hapert es, es kommt zu „Verwässerungen“ oder sogar zu einer vollständigen Streichung der Vereinbarung.

EU-Politiker werden bei Wahlen zum Europäischen Parlament nicht einmal in ein richtiges, sondern nur in ein Pseudoparlament gewählt (vergleiche dazu meinen Beitrag in den NachDenkSeiten „Die EU-Wahl wird nichts verändern“). Gesetze erlassen, die wichtigste Aufgabe der Legislative, kann das sogenannte EU-Parlament nicht. Und wenn nicht einmal die existenziell wichtige Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative in indirekten Demokratien sauber funktioniert, dann ist mehr als Gefahr in Verzug. Das zeigen auf EU-Ebene Länder wie Polen und Ungarn, aber auch in anderen Ländern gibt es innerstaatliche Übergriffe. So schreibt die Frankfurter Rundschau in Bezug auf Österreich: „Politik setzt Judikative unter Druck. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), die eine zentrale Rolle bei allen Ermittlungen in den jüngsten Polit-Affären spielt, sollte nach Erkenntnissen der Kommission zerschlagen werden. Für diese Bestrebungen habe es im vergangenen Jahrzehnt mehrfache Hinweise gegeben. Die Kommission sprach von Seilschaften und einer zweifelhaften Rolle einiger Mitglieder des Justizsystems. Es herrschte ein ‚Verantwortungsnebel‘ und eine teils fehlende Distanz zur Politik. Extrem lange Verfahrensdauern von bis zu 15 Jahren seien zudem ein Mittel ‚zur sachfremden Einflussnahme‘ auf Ermittlungen gewesen.“

Wo war hier übrigens in Deutschland der Generalbundesanwalt bei der Causa-Spendenaffäre des deutschen CDU-Bundeskanzlers Helmut Kohl (1930-2017)? „Am 4. Dezember 2017 wurde eine Fernseh-Dokumentation von SWR und ARD ausgestrahlt, und parallel erschien ein Bericht im Spiegel über die Rolle Kohls in der Spendenaffäre. In beiden Berichten wurde die Version Kohls, dass er vier bis fünf Spendern sein Ehrenwort gegeben habe, ihre Namen nicht preiszugeben, als ‚absolut unglaubwürdig‘ bewertet. Kohls Mitarbeiter im Konrad-Adenauer-Haus hätten seit den 1970ern ein System geheimer Kassen betrieben, aus denen sich Kohl nach Bedarf bedient hätte – nicht zur eigenen Bereicherung, aber zum eigenen politischen Vorteil. Das Geld in diesen Kassen sei aus der Industrie gekommen und in der Schweiz weißgewaschen worden. Alleine das über die Schweiz verschobene Geld betrug demnach rund 200 Millionen Euro. Schon im Jahr 2015, zu Lebzeiten Kohls, war diese Version durch den CDU-Frontmann Wolfgang Schäuble (1942-2023) in einem Interview so bestätigt worden“, schreibt Wikipedia.

Immerhin wurde in einem anderen Fall der zweimalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wegen Falschaussagen in einem Untersuchungsausschuss angeklagt und verurteilt, was zu einem Rückzug von allen politischen Ämtern führte. Kurz arbeitet jetzt als Investor und Unternehmer in den USA und verfügt über Verbindungen zu vielen Unternehmen und Organisationen. Vor Kurzem nahm er an der Luxus-Hochzeit des Sohnes der reichsten indischen Familie teil. Die Hochzeit hat einen dreistelligen Millionenbetrag gekostet. Politiker halten sich eben gerne im internationalen Geldadel auf und lassen sich dabei nicht selten von Reichen auch korrumpieren. Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen, nur eine direkte Volksdemokratie schützt das Volk vor Volksvertretern, Parteien und damit die Demokratie. In der Schweiz muss man keine Angst vor Politikern und Parteien haben, sie könnten die Macht über das Volk bekommen, weil sie letztlich nichts zu sagen haben. Selbst über die Verfassung wachen hier nicht durch Politik berufene Verfassungsrichter, sondern das Volk, das auch nur Verfassungsänderungen in Abstimmungen vornehmen kann.

So, wie es ein Marktversagen in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnungen gibt, so gibt es auch ein vielfältiges Staats- und Politikversagen in parlamentarischen Demokratien. Politiker und Parteien verfolgen hier Eigeninteressen, die zwar auch am Gemeinwohl orientiert sein können, aber nicht sein müssen, sondern in der Regel vielmehr nur Partialinteressen befriedigen. Hier besteht regelmäßig die Gefahr einer nicht mehr kontrollierbaren Verselbstständigung. „Der Bundestag agiert abgehoben und fern der Lebensrealität der Menschen“, kritisiert die Soziologie-Professorin Christiane Bender von der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Das bestätigt die Körber-Stiftung in der schon zitierten Umfrage, wonach 71 Prozent der Befragten davon ausgehen, dass Politiker in einer eigenen Welt lebten und auf den Rest der Bevölkerung herabschauten. Nicht einmal jeder zweite Deutsche fühlt sich von der deutschen Politik respektvoll behandelt. Das berichtet die Neue Osnabrücker Zeitung aus einer repräsentativen Umfrage des German Internet Panels der Universität Mannheim.

Politiker und Politikerinnen unterliegen, wie alle Menschen, vielfältigen menschlichen Schwächen. Vor allen Dingen können sich Menschen irren. Tun das wenige für alle, wie das in repräsentativen Demokratien immer möglich ist, kann das katastrophale Folgen für das Ganze, für das Volk haben. Man denke hier nur an die Entscheidung Krieg oder Frieden. Eine Stellvertreterentscheidung ist hier inakzeptabel, und trotzdem wurde sie schon immer und auch heute noch durch Politiker getroffen, ohne das Volk zu fragen. Volksvertreter unterliegen bei ihrem Tun oder auch Nicht-Tun vielen Abhängigkeiten und Unvollkommenheiten. Sie sind abhängig von der Wahl und Wiederwahl des Volkes und von ihrer Partei. Ohne diese sind sie politisch ein Niemand, das gilt auch für die in einem Wahlkreis direkt Gewählten. Insofern haben sie bei einem Wechsel zu einer anderen Partei oder als parteiloser Abgeordneter ihr Mandat auch zurückzugeben. Aber selbst das machen sie nicht, weil viele vom Sitz im Parlament existenziell abhängig sind. Das gilt insbesondere für Politiker, die sich schon in jungen Jahren in die Politik begeben. Man könnte sagen, vom Kreißsaal in den Hörsaal und danach in den Plenarsaal, wobei nicht wenige den Hörsaal ohne Abschluss an einer Hochschule mit einer Exmatrikulation verlassen müssen. Ohne Ausbildung und bürgerlichen Beruf denkt man verständlich an eine ex-postpolitische Karriere in der Wirtschaft oder bei Verbänden. Auch das schafft Abhängigkeiten und womöglich Anfälligkeiten für Korruption.

Politik ist auch unvollkommen. Das Denken beschränkt sich hier auf Ereignisse. Diese haben aber immer eine Vorgeschichte, die in Form eines holistischen Denkens zu berücksichtigten ist. Das ist im Politischen aber nicht opportun, weil gefährlich, genauso wie das Aussprechen von Wahrheiten, weshalb Politiker auch kausales Denken negieren. Man „lebt“ in einer Welt der politischen Symptombekämpfung, ohne noch nach den Ursachen zu fragen und diese zu beseitigen. Das, was in der Wissenschaft unumgänglich ist, findet in der Politik nicht statt, wo darüber hinaus nur in kurzfristigen Wahlzyklen gedacht wird – man will ja im Hier und Jetzt wiedergewählt werden. So ist Politik nicht nachhaltig, und sollten Politiker tatsächlich über ihre Wahlperiode hinaus ein langfristiges und nachhaltiges Denken an den Tag legen, so verbindet sich Zukunft im politischen Raum in der Regel mit einem reinen Wunschdenken, das zu katastrophalen Ergebnissen führt.

Ein aktuelles Beispiel ist hier die Energiewende. Das Westfälische Energieinstitut in der Westfälischen Hochschule hat zu einem solchen Wunschdenken unter der Federführung von sieben Professoren des Instituts (einer davon ist der Verfasser des Artikels) eine Energiestudie unter dem Titel „Energie- und Klimawende zwischen Anspruch, Wunschdenken und Wirklichkeit – Umsetzungspfade“ vorgelegt. Hier wird gezeigt, dass die von der Ampel-Regierung geplante Energiewende weder technisch noch soziökonomisch umsetzbar ist. Zweimal wurde die Studie Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Bündnis90/Die Grünen) zugänglich gemacht. Der hat es aber nicht einmal für nötig erachtet, den Eingang der Studie in seinem Ministerium zu bestätigen. Sieben Professoren sind über ein derartiges Verhalten entsetzt, zumal gerade die Grünen als Partei sich immer eine partizipative, offene Diskussion in der Gesellschaft wünschen – zumindest in Sonntagsreden.

Eine weitere Unvollkommenheit bei Politikern und Politikerinnen ist, dass sie in der Regel kein ökonomisches Wissen haben – weder theoretisches noch praktisches Wissen. Das sieht man nicht nur an dem amtierenden Finanzminister Christian Lindner (FDP), der in einer unglaublichen Ignoranz an der staatlichen Schuldenbremse festhält (siehe dazu auch meinen Beitrag in den NachDenkSeiten „Herr Lindner, treten sie zurück“), die niemals 2009 im Rahmen der Föderalismusreform II von Politikern mit einer Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz hätte aufgenommen werden dürfen. Jetzt wollen zumindest SPD und Bündnis90/Die Grünen Anpassungen bei der Schuldenbremse vornehmen; ganz streichen wollen sie die kontraproduktive Kreditbremse aber nicht. Der Politikwissenschaftler Stefan Bajor von der Universität Düsseldorf ordnet die Schuldenbremse politisch richtig ein, wenn er schreibt:

„Die sogenannte Schuldenbremse, also das Ergebnis der Reform des deutschen Kreditverfassungsrechts von 2009, ist nicht, wie manche meinen, eine Schlussfolgerung aus der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2008. Diese hätte ja angesichts des Wirkens der erwähnten keynesianisch inspirierten Konjunkturprogramme eher in anderer Richtung ausfallen müssen. Nein, die Schuldenbremse ist das Ergebnis des neoliberalen Staatsverständnisses, das den privaten Nutzen voranstellt und den öffentlichen Sektor daran hindern will, das Allgemeininteresse an ausreichenden öffentlichen Leistungen vor allem in den Bereichen Gesundheit und soziale Sicherheit, Chancengleichheit und Bildung, Umweltschutz und Kultur zu realisieren. Die strikte Schuldenregel sollte in Kraft gesetzt werden, um Staat und Kommunen daran zu hindern, die eingeschlagene Steuersenkungspolitik der vergangenen Jahrzehnte durch Krediteinnahmen auszugleichen. Am Ende des Weges soll ‚eine neue Stabilitätskultur‘ stehen, in der sich der öffentliche Sektor den privatwirtschaftlichen Interessen allein schon deshalb zu beugen hat, weil ihm die finanziellen Mittel zum Gegensteuern fehlen.“

Die Wirkung der ökonomisch kontraproduktiven Grundgesetzverankerung der Schuldenbremse hat die „Ampel-Regierung“ im November 2023 mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zu spüren bekommen. Die Richter monierten hier eine schwerwiegende Umgehung der Schuldenbremse. So wurden Kürzungen im Bundeshaushalt notwendig, die sich bis in den von der Regierung vorgelegten aktuellen Bundeshaushaltsentwurf für 2025 und darüber hinaus bis 2028 zeigen; und dies trotz eines ebenfalls ins Grundgesetz aufgenommenen sogenannten „Sondervermögens Bundeswehr“ (richtig ist hier die Formulierung „Aufrüstung durch Verschuldung“), bei der die Schuldenbremse nicht zur Anwendung kommt. Zur Einordnung des „Sondervermögens“ vergleiche ausführlich meinen Beitrag in den NachDenkSeiten „100 Milliarden Euro fürs Militär und Rüstung. Mehr bornierte Politik geht nicht – es reicht“.

Ohne das Volk zu fragen, hat die Bundesregierung damit einen gefährlichen Aufrüstungskurs initiiert und ins Grundgesetz geschrieben, das in der originären Fassung von 1949 genau dies nicht wollte, sondern rein friedensorientiert verfasst war. Staatsschulden für Rüstung werden heute von Politikern als gute Staatsschulden deklariert, für zivile Staatsausgaben dürfen aber keine Schulden gemacht werden. Dies zeigt eine unglaubliche Borniertheit der Politik, die nicht einmal den nichtreproduktiven Charakter von Rüstungsausgaben und die wesentlich geringeren multiplikativen Wachstums- und Einkommenseffekte im Vergleich zu zivilen Staatsausgaben ökonomisch richtig einordnen kann. Hier fällt einem dann das alte chinesische Sprichwort ein, das sich die Dummheit Kraft ihres Selbst leider nicht erkennen kann. Mit der Dummheit von Politikern beschäftigt sich die bekannte US-amerikanische Historikerin Barbara Tuchman (1912-1989) in ihrem Buch über „Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam“ ausführlich.

Es darf nicht sein, dass nur vom Volk gewählte Vertreter und Vertreterinnen über den Rüstungskurs eines Landes entscheiden. Das gilt auch für die grundsätzlichen Richtlinien der Wirtschaftspolitik. Paradigmenwechsel von einem Wohlfahrts-Keynesianismus hin zu einem marktradikalen Neoliberalismus, wie ab etwa Mitte der 1970er-Jahre vollzogen, darüber haben keine Politiker zu entscheiden, sondern das Volk, zumal, wenn sich heute Politiker einseitig von Wirtschaftswissenschaftlern beraten lassen, die dem Neoliberalismus das Wort reden. Wie jede Wissenschaft beruht auch die Wirtschaftswissenschaft auf einem umfassenden Theoriengebäude und einem verifizierten Wissen. Keiner erwartet, dass Politiker die hier auftretende wissenschaftliche Komplexität verstehen müssen, dies tun selbst die meisten akademisch gebildeten Ökonomen nicht. Wer kann schon beispielsweise die Frage beantworten, ob Keynes ein Keynesianer war oder worin sich der Kurzzeit-Keynes vom Langzeit-Keynes unterscheidet. Selbst Keynesianer tun sich hier schwer.

Auch auf einzelwirtschaftlicher Ebene müssen Politiker nicht wissen, wie Abschreibungen unterschiedlich in der Gewinn- und Verlustrechnung und der Kapitalflussrechnung eines Unternehmens wirken. Was man aber zumindest von Politikern in parlamentarischen Demokratien erwarten darf, ist, dass sie bei ihrer notwendigen Beratung auf eine dialektische Vorgehensweise zu achten und zu setzen haben. Das ist aber nicht der Fall, wie gerade eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur einseitigen ökonomischen Beratung von Politik durch Beiräte beim Bundesfinanz- und Bundeswirtschaftsministerium aufgezeigt hat. Dabei fällt aber selbst in dieser kritischen Studie eine Nichterwähnung der seit 1975 jährlich erscheinenden Memoranden der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik auf, die immer links-keynesianische Gegenpositionen zum neoliberalen Mainstream entwickelt und veröffentlicht hat.

In einer partizipativen direkten Demokratie würde das alles ganz anders laufen. „Sie steht – ungeachtet aller demagogischen Anfälligkeit – gegen die Verweltanschaulichung des Politischen: Man muss sich bei jeder Entscheidung, die einem aktive Partizipation abverlangt, neu orientieren und formieren, neu positionieren und bleibt so in ständiger Bewegung, bleibt politisch handelnd. Demgegenüber scheint die Ideologisierung des Politischen eine unmittelbare Folge des Repräsentatismus zu sein: Weil ich dort von politischen Einzelentscheidungen ausgeschlossen bin und sie meinen Repräsentanten überlassen muss, zu deren Wahl ich alle paar Jahre beitragen darf, muss ich mir eine politische Weltanschauung zulegen, die sich irgendwo auf einer ziemlich starren Bandbreite von ganz links bis ganz rechts ansiedelt. Dürfte ich hingegen politische Sachentscheidungen fällen, könnte mir die Selbstverortung irgendwo auf dieser starren Bandbreite herzlich egal sein“, schreibt Urs Sommer und stellt zusammenfassend fest: „Direkte Partizipation unterbindet die Ideologisierung des Politischen.“

Der wohl größte Vorteil bei direkten Abstimmungen der Bürgerinnen und Bürger über Sachfragen ist, nicht alle paar Jahre bei der Wahl von Repräsentanten und Parteien alles auf eine Karte setzen zu müssen, sondern permanent in der Sache gefragt zu sein. „Direkt-partizipative Demokratie dient dem Komplexitätsabbau, oder vielmehr dem Abbau geballter Komplexität. Denn jede Sachentscheidung muss für sich getroffen werden; ich muss nicht einmal für vier Jahre jemanden mandatieren, der für mich alles entscheidet. Gerade in einer komplexen Gesellschaft ist nicht der parlamentarische Repräsentatismus das Gebotene, sondern die direkt-partizipatorische Demokratie. Komplexität ist viel besser zu bewältigen, wenn wir alle möglichst alle Einzelentscheidungen zu treffen haben“, so Urs Sommer. Hier gilt dann mit dem US-amerikanischen Managementberater und viel gelesenen Autor Ken Blanchard der Sinnspruch: „Keiner von uns ist so klug wie wir alle,“ womit dann auch gegen den immer wieder vorgetragenen Vorwurf, für „Sachentscheidungen sei das Volk zu dumm“ und würde nur „Demagogen begünstigen“, alles gesagt ist. Und wem das nicht genügt, dem empfehle ich zur Vertiefung das Buch „Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten?“ von Gertrude Lübbe-Wolff.

Alle in meinem Beitrag aufgeführten Punkte, die sicher nicht vollständig sind, sprechen im Befund eindeutig für partizipative Sachentscheidungen in einer direkten Demokratie. „Menschen sind teilhabenwollende Wesen“, so noch einmal Urs Sommer.

„Und das Politische – die gemeinsame Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen – ist etwas, bei dem man das Teilhaben prinzipiell nicht an andere abgeben kann. Der mündige Mensch ist zur Teilhabe verurteilt. Und muss sich darin unentwegt einüben.“

Und Gertrude Lübbe-Wolf ergänzt:

„Wo die Bürger sich über Sachfragen informieren, weil sie dabei mitzuentscheiden haben, steigt nicht nur die Sachkunde bezogen auf einzelne zur Abstimmung stehende Gegenstände, sondern die staatsbürgerliche Kompetenz ganz allgemein, denn jeder ernsthafte Versuch, sich ein Urteil zu bilden, fördert tendenziell die Urteilskraft auch über den konkreten Fall hinaus und trägt insofern zu verbessertem Funktionieren der Demokratie auch in ihren repräsentativen Elementen bei.“

Es ist aber nicht nur die Politik zu demokratisieren, sondern auch die Wirtschaft. Wir brauchen eine Wirtschaftsdemokratie, was bis heute aber in der Schweiz auch noch nicht umgesetzt worden ist. Eine gesellschaftliche Dichotomie darf es zwischen Politik im staatlichen Überbau und der Wirtschaft im Unterbau nicht geben. Dazu schrieb schon 1972 der ehemalige 1. Vorsitzende der IG Metall, Otto Brenner:

„Wir wissen, dass die Freiheit des Menschen außerhalb seines Arbeitslebens nicht vollständig und gesichert ist, solange der Mensch in seinem Arbeitsleben der Herrschaft anderer unterworfen bleibt. Die Demokratisierung des öffentlichen Lebens, das freie Wahl-, Versammlungs-, Rede- und Presserecht bedarf der Ergänzung durch die Demokratisierung der Wirtschaft, durch Mitbestimmung der arbeitenden Menschen über die Verwendung ihrer Arbeitskraft und der von ihnen geschaffenen Werte.“

Einseitig haben aber in der Wirtschaft die Kapitaleigner das Sagen, weil sie über das „Investitionsmonopol“ (Erich Preiser) verfügen und die abhängig Beschäftigten ihre Arbeitskraft den Produktionsmitteleigentümern verkaufen müssen. Diese doppelte Abhängigkeit macht alle Beschäftigten quasi zu Untertanen des Kapitals. Um diesen unhaltbaren Zustand zu beseitigen, kann es jedoch nicht nur um Mitbestimmung gehen. Der nach dem Zweiten Weltkrieg herausragende Ökonom Preiser konstatierte hier schon 1965 in einem Vortrag an der Universität Bonn:

„Konsequent durchdacht, muss sich die Forderung mitzubestimmen in die Forderung verwandeln mitzubesitzen. Keine wirtschaftliche Tätigkeit ist denkbar ohne die Verfügung über Produktionsmittel. Ihr Eigentümer hat notwendigerweise ein Übergewicht über den, den er an diesen Produktionsmitteln beschäftigt. Das bloße Mitreden ist nur eine halbe Sache – erst die Teilnahme an den Produktionsmitteln schafft klare Verhältnisse.“

Wohl wahr!

Titelbild: Pixelvario/shutterstock.com