Stimmen aus Ungarn: Die Verabsolutierung des Krieges in der Ukraine

Stimmen aus Ungarn: Die Verabsolutierung des Krieges in der Ukraine

Stimmen aus Ungarn: Die Verabsolutierung des Krieges in der Ukraine

György Varga
Ein Artikel von György Varga

Heute führt die Ukraine mit der Unterstützung von mehr als 40 Ländern einen bewaffneten Kampf, um Gebiete zurückzuerobern, deren friedliche Wiedereingliederung in ihr politisches, wirtschaftliches und soziales System sie seit 2015 trotz ihrer Verpflichtungen nach den Minsker Vereinbarungen verweigert hat. Mit der vollen Unterstützung des politischen Westens hat sie dies getan, und das aktuelle Ergebnis – die Ukraine permanent ruinieren zu lassen– scheint ein gemeinsames zu sein. Ein Beitrag von György Varga, aus dem Ungarischen übersetzte Éva Péli.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ich werde den Hintergrund der im Titel genannten Einschätzung auf eine Beschreibung der markantesten Entwicklungen beschränken. Die Gründe für Russlands Entscheidung, eine größere Militäroperation zu starten, waren für Experten und interessierte Beobachter der Prozesse im postsowjetischen Raum seit fast zwei Jahrzehnten gut vorhersehbar. Indem der politische Westen auf die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine drängte und den Machtwechsel 2014 koordinierte, hat er den noch (heute kaum mehr) bestehenden europäischen Sicherheitsstatus quo im Bereich der militärischen Sicherheit umgeworfen und eine drastische Stärkung der minderheitenfeindlichen Ausrichtung der ukrainischen Innenpolitik ermöglicht.

Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 definierte die Organisation die Ukraine als zukünftiges NATO-Mitglied. Durch diese Entscheidung verletzte das Bündnis die Souveränität der Ukraine, ihre Neutralität und das Recht der ukrainischen Gesellschaft auf eine selbstbestimmte Innen- und Außenpolitik, das heißt, einen eigenen außenpolitischen Kurs – den blockfreien Status – zu führen.

Drei grundlegende Dokumente, die die Staatlichkeit und Souveränität der Ukraine im internationalen Recht bekräftigen, sind der Aufmerksamkeit der NATO (beziehungsweise der Vereinigten Staaten, die das Thema vorangetrieben haben) „entgangen“:

  1. Die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine von 1991, in der es heißt, dass „die unabhängige Ukraine eine immerwährende Neutralität annehmen wird, ohne die Absicht, sich Militärblöcken anzuschließen“.
  2. Die ukrainische Verfassung, die 1996 auf der Grundlage der Unabhängigkeitserklärung verabschiedet wurde, enthielt auch die Institution der Neutralität.
  3. Die Ukraine unterzeichnete im Dezember 1994 ein von den Großmächten garantiertes Dokument über die Abrüstung ihrer verbliebenen sowjetischen Atomwaffen, die sogenannte Budapester Erklärung. Das Dokument wurde von der neutralen Ukraine unterzeichnet und enthält Garantien für die neutrale Ukraine. Zweck und Inhalt der Budapester Erklärung waren eng mit dem neutralen Status der Ukraine verknüpft, den die NATO 2008 ebenfalls ignorierte, als sie die Ukraine als potenzielles NATO-Mitglied benannte.

Dazu kommt, dass es in der Ukraine keine gesellschaftliche Unterstützung für einen NATO-Beitritt gab, weil sich die Bevölkerung dessen Folgen für die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland voll bewusst war. Heute sehen wir, wie recht sie hatten.

Die Kommunikationsexperten von der NATO versuchen nicht vergeblich, das Narrativ vom „unprovozierten Krieg“ zu verstärken. Das Gegenteil ist der Fall. Bei der Schaffung der Voraussetzungen für den Krieg in der Ukraine haben die wichtigsten Entscheidungsträger des politischen Westens unbestreitbare Verdienste wie auch darin, wie ein Ende des Krieges zu verhindern wäre.

Im dritten Jahr des Krieges haben weder die NATO noch die EU auch nur einen einzigen Aufruf zu einer Verhandlungslösung gemacht. Die Befürworter einer Verhandlungslösung – die ungarische und die slowakische Regierung – werden auf der Seite Putins eingestuft, und in beiden Organisationen werden Entscheidungen über die Finanzierung des Krieges für weitere vier bis fünf Jahre getroffen, die kaum als nüchtern bezeichnet werden können.

Nehmen wir noch die Koordinierungs- und Führungsrolle des Westens (USA) bei der verfassungswidrigen Machtübernahme im Februar 2014 hinzu, so sind die Faktoren, die zum ukrainischen Bürgerkrieg, zum Separatismus und folglich zum Verlust der Krim geführt haben, hauptsächlich Faktoren, die das westliche Narrativ nicht stützen. Die eigentliche Ursache des Krieges ist nicht die „unprovozierte“ Entscheidung eines kranken russischen Präsidenten. Hinter der Legitimität des russischen Präsidenten steht die überwältigende Mehrheit der russischen Gesellschaft; die Männer gehen freiwillig an die Front – anders als bei der Zwangsmobilisierung in der Ukraine, wo der Westen fordert, dass die Altersgrenze gesenkt wird, weil mehr Soldaten benötigt werden, um den Krieg fortzusetzen.

Heute widmet der russische Präsident den größten Teil seiner Energie der Beschwichtigung der eigenen Gesellschaft, während der politische Westen die militärische Situation in der Ukraine täglich weiter eskalieren lässt und die russische Gesellschaft in allen Dimensionen provoziert. Das Auftauchen der NATO-Waffen, der Angriff auf russisches Territorium mit NATO-Waffen, das Gerede über die NATO-Truppenverlegungen, die Verhängung neuer Sanktionen, die Aufforderung, Russland in die Knie zu zwingen, sind die tägliche Realpolitik des Westens.

Wer ist am Ukraine-Krieg interessiert?

In wessen Interesse ist dieser Krieg, wenn das Ziel – die Rückeroberung der Separatistengebiete – auch 2015 friedlich hätte erreicht werden können, aber bis 2022 kein einziger Schritt dafür getan wurde?

Auf der Suche nach historischen Parallelen beeindruckt sogar die Entwicklung und der Umgang mit der kubanischen Raketenkrise von 1962 die sektiererischen atlantischen Sicherheitspolitiker nicht. 2.000 Kilometer von Washington entfernt auf Kuba sind sowjetische Raketen eine legitime Verletzung US-amerikanischer Sicherheitsinteressen, aber 500 Kilometer von Moskau entfernt, auf ukrainischem, estnischem oder finnischem Territorium, sind US-amerikanische, britische und französische Raketen ein Mittel zur Verbreitung von Demokratie – das sehen wir heute, und Russland hat damit nichts zu tun.

Ich bezeichne diese Ansicht als sektiererischen Atlantizismus, weil keine rationalen militärischen Argumente, die sich auf die bekannten Grundsätze der Militärwissenschaft stützen, zu ihren Gunsten vorgebracht werden können. Anstelle fachlicher Argumente werden abstrakte moralische Erklärungen, der Kampf gegen Diktaturen und die Erklärung der Legitimität in Verbindung mit westlichen Werten angeführt. Es handelt sich nicht um die Militärwissenschaft, sondern um eine Kommunikationstechnik – Massenkommunikation auf theologischer Ebene, um an Emotionen zu appellieren.

In diesem Fall geht es bei dem oben erwähnten Narrativ darum, großen Massen von Menschen verständlich zu machen, dass der Krieg in der Ukraine „nicht provoziert“ ist. Sie sollen dies trotz aller tatsächlichen Fakten und gegenteiligen Schlussfolgerungen verstehen.

Francis Fukuyama, einer der bekanntesten US-amerikanischen Theoretiker der internationalen Beziehungen, veröffentlichte 2008 in den Wochen nach dem georgisch-russischen Krieg einen kurzen Aufsatz mit dem Titel „Ungarn 1956 – Georgien 2008“ („Hungary 1956 – Georgia 2008”), in dem er feststellte: „Wenn die Russen in einem Nachbarland der Vereinigten Staaten bewaffnete Kräfte einsetzen würden, würde ich vom US-Präsidenten nichts anderes erwarten, als dass er einfach in das Nachbarland einmarschiert.“

Die Militärwissenschaft wird beiseitegeschoben

Sicherheitspolitische Experten der NATO halten dieses Prinzip für durchweg legitim, aber die Russen sollen mit der globalen Expansion der US-geführten NATO-Streitkräfte in der Ukraine nichts zu tun haben. Ab dem Punkt wird der Konflikt nicht auf der Grundlage militärwissenschaftlicher Prinzipien behandelt, sondern auf der Grundlage eines emotionalen Ansatzes, der auf der Überlegenheit des Westens beruht oder auf schlichter Russophobie, Russenfeindlichkeit.

Die Ukraine hat das Minsker Abkommen von 2015 über die friedliche Wiedereingliederung der Separatistengebiete in die Ukraine fast acht Jahre lang ignoriert. Sie hat dies mit der Unterstützung der Garanten des Abkommens (Berlin, Paris) getan. Die ukrainische Regierung wurde dafür keinen internationalen Sanktionen unterworfen, doch wir wussten, dass die Geduld der Russen aufgrund der direkten Beteiligung begrenzt war.

Moskau bat die Garanten vergeblich, Einfluss auf Kiew zu nehmen. Seit 2020 hat sich die Ukraine offen geweigert, die Punkte des vom UN-Sicherheitsrat ratifizierten Dokuments einzuhalten. Die separatistische Bevölkerung in den Gebieten Donezk und Lugansk – etwa vier Millionen Menschen – war seit 2014 aus dem politischen, wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Subsystem der Ukraine ausgeschlossen. Infolgedessen beantragten und erhielten fast eine Million Einwohner die russische Staatsbürgerschaft (die Grenzen des Separatistengebiets waren für die Ukraine geschlossen). Es war vorhersehbar, dass die russische Führung den gesetzlosen Status ihrer eigenen Bürger und der Millionen ethnischer und sprachlicher Minderheiten, auf die täglich geschossen wurde, nicht ewig tolerieren würde.

Im Jahr 1999 hielten es die USA auf der anderen Seite des Globus für legitim – während sie davon überhaupt nicht direkt betroffen waren –, den Schutz der Rechte der separatistischen Minderheit Serbiens zu rechtfertigen, indem sie Belgrad 78 Tage lang bombardierten, ohne dass im konkreten Fall ein gemeinsames Schicksal, ein historisches und nationales politisches Interesse, ein sprachlicher und ethnischer Zusammenhalt bestehen würde. Es war vorherzusehen, dass Moskau für umso legitimer halten könne, seine Streitkräfte in seiner eigenen Nachbarschaft, zur Verteidigung seiner eigenen Bürger, seiner eigenen Ethnie, Sprache, Kultur, Religion und Sicherheitsinteressen einzusetzen.

Die Kämpfe zwischen den ukrainischen Streitkräften und den separatistischen Kräften hielten von 2014 bis 2022 ununterbrochen an. Die Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) meldete 270.000 bis 410.000 Waffenstillstandsverletzungen in der Ukraine pro Jahr. Das entsprach im Jahr 2017 zum Beispiel bei 403.000 Fällen im Durchschnitt 1.100 Waffenstillstandsverletzungen pro Tag – die Daten sind auf der OSZE-Website veröffentlicht. Die Integration der Ukraine in die NATO schritt rasch voran: sechs bis neun NATO-Übungen auf ukrainischem Territorium pro Jahr, Ausbildung nach NATO-Standards, Modernisierung der Waffen, während die ukrainische Mitgliedschaft in der NATO sowohl für Kiew als auch für die NATO eine bekannte rote Linie Russlands war.

Hinzu kommt, dass die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande, die das Minsker Abkommen 2015 unterzeichneten, im Dezember 2022 erklärten, dass „die Unterzeichnung des Dokuments der Ukraine Zeit geben sollte, sich auf einen Krieg vorzubereiten.“

Mit anderen Worten, sowohl die ukrainische Führung als auch die westlichen Garanten haben sich mit politischer, militärischer, finanzieller und kommunikativer Unterstützung („unprovozierter Krieg“) des kollektiven Westens bewusst auf einen russisch-ukrainischen Krieg zubewegt. Entgegen dem westlichen Narrativ begann die russische Militärintervention in der Ukraine nicht als totaler Krieg, der Begriff „spezielle Militäroperation“ war bis April 2022 ein akzeptabler Begriff.

Die russische Führung setzte sich als Ziel für die Operation, was sie in den ersten sechs Wochen der Verhandlungen in Minsk und Istanbul erreicht hatte; die Ukraine war bereit, die russischen Bedingungen zu akzeptieren und zur Neutralität des Landes zurückzukehren.

Bereits am vierten Tag des russischen Einmarsches begannen die Ukraine und Russland die Friedensgespräche in Minsk. Wie wir wissen, wurden die Verhandlungen in Minsk und Istanbul von den Verhandlungsdelegationen erfolgreich abgeschlossen, aber die Unterzeichnung des Istanbuler Abkommens auf politischer Ebene wurde von den westlichen Partnern der Ukraine blockiert, und die Kiewer Führung wurde zur Fortsetzung des Krieges ermutigt.

Bei früheren Aggressionen wären die heute angewandten Sanktionen undenkbar gewesen

Der politische Westen hat den Krieg in der Ukraine, den Aggressor und das Opfer verabsolutiert und nutzt diese verabsolutierte Situation, um der gesamten internationalen Gemeinschaft, allen souveränen Staaten der Welt neue Regeln aufzuerlegen.

Die Verabsolutierung des Krieges hat in zwei Jahren zu einem sichtbaren Chaos geführt, in dem der moralische Verfall der internationalen Beziehungen zum Vorschein kommt. Der aktuelle Aggressor wird dämonisiert und entmenschlicht, während bei früheren ähnlichen Aggressionen die heute angewandten Sanktionen undenkbar gewesen wären. Die kollektive Bestrafung von Nationen, Ethnien und Kulturen oder Weltsprachen gehörte ausdrücklich nicht zur Praxis der zivilisierten Welt.

Nach dem Irak-Krieg, der durch gefälschte Geheimdienstinformationen ausgelöst wurde, hat die internationale Gemeinschaft amerikanische und britische Sportler nicht von den Olympischen Spielen ausgeschlossen. Es gab keine Rede davon, dass jeder Bürger der gesamten US-amerikanischen Gesellschaft unter den Folgen der falschen Entscheidung der Staatsführung zu leiden hatte, die eine abgelegene Region jahrzehntelang destabilisierte und Millionen von Menschenleben forderte. Filme aus den USA wurden nicht verboten, US-amerikanisches und britisches öffentliches und privates Eigentum im Ausland wurde nicht beschlagnahmt und auch nicht zur Finanzierung des Wiederaufbaus des Irak verwendet, weil die Trennung von Politik, Sport, Kultur, Religion und Privatsphäre für jeden Politiker mit gesundem Menschenverstand ein Grundwert war. Diese Regel hat sich geändert, aber sie gilt nur für Russen.

Souveräne Länder werden durch Sanktionen erpresst

Erpressung durch Sanktionen ist zum wichtigsten Mittel geworden, um Druck auf souveräne Länder auszuüben, damit sie sich ungeachtet ihrer verfassungsmäßigen Ordnung an die von anderen aufgestellten Regeln halten, notfalls auch unter Verletzung dieser Regeln, im Gehorsam gegenüber einer moralischen Überlegenheit.

Für den oberflächlichen Betrachter wird die Sanktion nur gegen den Aggressorstaat verhängt, während die Realität ganz anders aussieht. Heute, im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, bestrafen etwa 30 Länder (USA, CA, UK, EU) mit einer Bevölkerung von etwa 800 Millionen Menschen alle UN-Mitgliedstaaten (acht Milliarden Menschen), ihre Bevölkerungen und Wirtschaftsakteure, indem sie das normale Funktionieren des internationalen Finanzsystems, die Nutzung der traditionellen Transportkorridore und Energierouten sowie den Zugang zu Märkten, Rohstoffen und Energieressourcen blockieren.

Die Sanktionen gegen Russland werden von den Staaten verhängt, die vom politischen Westen dominiert werden, aber kein Land der Welt ist von den Folgen ausgenommen, da sie für alle 193 UN-Mitgliedstaaten Verbote gegen zwischenstaatliche wirtschaftliche und soziale Akteure unter anderem in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Finanzen, Handel, Verkehr, Kultur, Sport enthalten.

Gegen wen richten sich die Sanktionen, wenn keine Bank in 193 Ländern Geld nach oder aus Russland überweisen oder ihre Schiffe nicht in russischen Häfen anlegen können? Heute gibt es etwa 20.000 dieser Sanktionen, die sich auf die globalen Systeme insgesamt und ihre Unterdimensionen auswirken. Nehmen wir ein afrikanisches Land mit niedrigen wirtschaftlichen und sozialen Standards, dem es verboten ist, Beziehungen zu Russland zu unterhalten, während es täglich Probleme hat, seine zehn Millionen Einwohner zu versorgen; wenn es bedeutende russische Verbindungen hat, unterliegt es der gleichen Anzahl von Sanktionen wie Russland, und dieser Grundsatz gilt für alle UN-Mitgliedstaaten. Wer wird durch die Sanktionspolitik der USA oder der EU bestraft? Jeder Mensch auf diesem Planeten. Selbst wenn man sich an die Sanktionen hält – denn die Sanktion selbst gilt für alle (man kann in Bezug auf Russland nichts tun) – und jeder, der sich nicht daran hält, wird mit einer weiteren Sanktion bestraft.

Dies ist nun eine wertebasierte, demokratische, regelbasierte Praxis der internationalen Beziehungen, die vom politischen Westen dominiert wird – der Krieg in der Ukraine ist der Referenzpunkt. Wir können nur hoffen, dass China in ein oder zwei Jahrzehnten, wenn es die Weltmacht Nummer eins wird, dieses „wertebasierte“ Instrument nicht als guten Präzedenzfall übernimmt und Europa zeigt, dass die von ihm begonnenen Spiele mit den Sanktionen auch in die andere Richtung eingesetzt werden können.

Die Europäische Union schaufelt sich ihr eigenes Grab

Angesichts der anderthalb Milliarden Einwohner Chinas, seiner wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Macht und der strategischen Zusammenarbeit zwischen Russland und China schaufelt sich die Europäische Union, die ihren Status als unabhängiger internationaler Akteur zu verlieren scheint, ihr eigenes Grab, zumal sie sich bereits faktisch von den russischen Rohstoffen und dem russischen Markt abgeschnitten hat, die früher fast ausschließlich Europa ernährten und für echten Wohlstand sorgten.

Zu den negativen Auswirkungen der Sanktionen gegen Russland auf die gesamte internationale Gemeinschaft kommt hinzu, dass sie, wie bereits erwähnt, nicht im Rahmen der UNO verhängt werden, aber globale Auswirkungen haben und tagtäglich grundlegend zur Verschlechterung der internationalen Beziehungen beitragen. Unter anderem heben sie die Institution der Neutralität vollständig auf, die seit jeher ein wichtiges Instrument für die Aufrechterhaltung des regionalen und globalen Gleichgewichts in den Beziehungen zwischen den Staaten, ein wesentliches Instrument für die Friedenskonsolidierung, die Vermittlung und die Schaffung der Voraussetzungen für Verhandlungen war.

Was Letzteres betrifft, so konnte das NATO-Mitglied Türkei von den ersten Wochen des Krieges in der Ukraine an die Initiative ergreifen, indem es den Istanbuler Gesprächen Raum gab und sich nicht der Sanktionspolitik des Westens anschloss. Mit anderen Worten, auch ein NATO-Mitglied mit einem rationalen Ansatz ist in der Lage, eine Außenpolitik zu verfolgen, die auf Realpolitik und nicht auf einer sektiererischen Außenpolitik auf der Grundlage eines ständigen atlantischen Expansionismus beruht.

Die Verantwortung für die Verluste, die die Ukraine seit April 2022 erlitten hat, liegt nicht bei der Türkei und auch nicht mehr ausschließlich bei Russland; die Verantwortung des politischen Westens für den Zerfall der Ukraine ist seit dem Druck, den der britische Premierminister Boris Johnson am 9. April 2022 auf Kiew ausgeübt hat, eindeutig, wie der Leiter der ukrainischen Verhandlungsdelegation selbst eingeräumt hat.

Neutrale Länder geraten in die Mühlen des politischen Westens

Traditionell neutrale oder sogar „absolut neutrale“ Länder wie die Schweiz und Österreich sind in die Mühlen des politischen Westens geraten, ungeachtet ihrer momentanen oder langfristigen nationalen Interessen, ihrer gültigen Verfassungen, ihrer internationalen Verpflichtungen.

Als Beispiel sei die sehr „gerechte“ Situation genannt, in der einer der Garanten des österreichischen Staatsvertrags von 1955 (der Grundlage der immerwährenden österreichischen Neutralität), die Vereinigten Staaten, Sanktionen gegen österreichische Banken verhängt, damit diese nicht mehr als neutrale Geschäftspartner gegenüber den Banken des anderen Garanten des österreichischen Staatsvertrags, Russland, auftreten – und damit die vom österreichischen Staat zugesagte immerwährende Neutralität verletzen.

Sie tun dasselbe mit den Schweizer Banken und zerstören auf einen Schlag das Vertrauenskapital, das sie in zwei Jahrhunderten aufgebaut haben, ihre Berechenbarkeit, die Sicherheit, die sie auf den internationalen Finanzmärkten bieten und die Sicherheit, für die sie weltweit geschätzt werden. Selbst Hitler konnte dieses geniale Ergebnis, die Neutralität der Schweiz zu brechen, nicht erreichen, obwohl er fast eine halbe Million Soldaten an der Grenze hatte. Die staatlichen Institutionen, die die Verfassung verteidigen, schweigen in allen neutralen Ländern, sie haben keine Chance gegen die Instrumente des globalen Westens oder sind selbst schon unter dessen Kontrolle.

Die in den internationalen Beziehungen angewandten Grundsätze funktionieren aufgrund der moralischen Gründe des Krieges in der Ukraine nicht mehr. Die EU verstößt täglich gegen ihre eigenen Praktiken und sogar gegen ihre eigenen Rechtsnormen.

Ein Beispiel dafür ist eine Reihe von Grundlagenverträgen Ungarns: In den 1990er-Jahren haben wir als Voraussetzung für den EU- und NATO-Beitritt Grundlagenverträge mit den Nachbarländern unterzeichnet, die die Anerkennung der bestehenden Grenzen garantieren, um historische Streitigkeiten und Missstände nicht in die Integrationsorganisationen hineinzutragen. Wir haben unter anderem die Grenzen Rumäniens, der Slowakei, der Ukraine – was seit Trianon wehtut – in ihrer heutigen Form anerkannt. (Anm. Red.: Der Vertrag besiegelte am 4. Juni 1920 als Teil der Versailler Friedensverträge die Aufteilung Ungarns. Das Land verlor zwei Drittel seines Territoriums und entwickelte ein „Trianon-Trauma“.)

Mit Beitrittsverhandlungen beschloss die EU, einen laufenden Krieg zu importieren

Im Juni 2024 beschloss die Europäische Kommission, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen – das heißt, sie beschloss, einen laufenden Krieg in die Europäische Union zu importieren. Machen wir so Europa wieder groß? Heute gibt es neue Grundsätze, und wer sich auf die alten berufe, helfe Putin, heißt es. Es ist also möglich, ja sogar wünschenswert, Instabilität oder auch Krieg in die Europäische Union zu importieren. Ist das im Interesse der 450 Millionen EU-Bürger? Nein, aber wer fragt sie schon? Jeder, dem das nicht gefällt, ist ein Putinist.

Bei der Einleitung des EU-Beitritts der Ukraine war es wichtiger, eine schlechte geopolitische Entscheidung, nämlich die Niederlage im Stellvertreterkrieg des Westens in der Ukraine, mit einer weiteren schlechten Entscheidung zu retten als die Stabilität und den Wohlstand der EU zu erhalten.

Wie dieser Fall zeigt, gibt es keine Prinzipien. Die Regeln werden von den momentanen Interessen der westlichen Machtelite bestimmt. Wem es nicht gefällt, dass Ungarn Grundlagenverträge unterzeichnen musste, um den Beitritt einzuleiten, wer aber kritisiert, dass wir noch nicht einmal die endgültigen Grenzen der Ukraine als künftiges EU-Mitglied oder die Zahl ihrer Bevölkerung kennen, der vertritt die Interessen Russlands.

Die Verabsolutierung ist ein sehr wirksames Mittel, um Hunderte von Millionen EU-Bürgern, die mit den außenpolitischen Ereignissen und den konkreten Prozessen der letzten zwei Jahrzehnte nicht vertraut sind, glauben zu machen, dass sie für eine heilige Sache opfern, wenn sie den Krieg in der Ukraine finanzieren, nicht zögern und die negativen Folgen der Sanktionen in Kauf nehmen. Warum ist das so? Was ist das eigentliche Ziel?

Das gleiche Phänomen ist in der Krise des Entscheidungssystems der Europäischen Union zu beobachten. Indem der globale Westen dem Krieg in der Ukraine eine moralische Dimension verleiht, hält er es für inakzeptabel, sich an die geltenden Regeln der Union (Vertrag von Lissabon) zu halten, die einen Rechtsrahmen bieten, um Exzesse zu verhindern, die mit der globalen Elite in Verbindung stehen und die Außen- und Sicherheitsinteressen der souveränen Mitgliedstaaten bedrohen.

Mit der Verabsolutierung eines Krieges außerhalb der EU und der NATO tritt die westliche Machtelite Rechtsnormen mit Füßen und trifft offen Entscheidungen, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen. Sie nimmt sich das Recht, dem Völkerrecht zu widersprechen, um den Krieg in der Ukraine gegen die legitimen Interessen der Mitgliedstaaten und die objektiven Interessen der EU fortzusetzen.

Der Artikel ist zuerst auf dem ungarischen Portal Moszkvatér erschienen.

Dr. György Varga ist Diplomat mit Spezialisierung auf den postsowjetischen Raum. Er hat in Theorie der internationalen Beziehungen promoviert und als Universitätsdozent strategische Planung, Sicherheitspolitik und Theorie der internationalen Beziehungen gelehrt. Als Diplomat vertrat er Ungarn in der Ukraine, in Moskau, er war Botschafter in Moldawien und von 2017 bis 2021 Leiter der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Russland. In dieser Funktion verbrachte er die vier Jahre vor dem Krieg im Namen der 57-Länder-Organisation an der Grenze von Russland und dem Gebiet des Donbass, das nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert war. Er leitete eine ununterbrochene internationale Überwachung, die zur Lösung des Konflikts beitragen sollte. Varga ist Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA).

György Varga

Titelbild: Shutterstock / Corona Borealis Studio