Die am Montag enthüllten RKI-Protokolle werfen immer mehr Fragen auf. Eine Textstelle vom November 2021 macht das Versagen der obersten deutschen Gesundheitsbehörde und insbesondere dessen Präsidenten deutlich. So hat Lothar Wieler wider besseres Wissen die Öffentlichkeit über die kurze Wirksamkeitsdauer der COVID-19-Impfungen im Unklaren gelassen und damit größtenteils unsinnige und kontraproduktive Regelungen weiterhin unterstützt. Von Karsten Montag.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Die betreffende Textstelle in den enthüllten ungeschwärzten RKI-Protokollen (rki-transparenzbericht.de) lautet:
„Wie kann es sein, dass Daten zur Impfeffektivität am Anfang so falsch waren (Schutz vor 90% der Infektionen)? (…) Unmittelbar nach der Impfung hat man ein hohes Level an neutralisierenden Antikörpern, diese transsudieren in die Schleimhaut, woraus hohe lokale (=mukosale) Immunität im Nasenrachenraum resultiert. Deswegen besteht in den ersten 2 Wochen – 2 Monaten nach Impfung sehr guter Schutz vor jeglicher (auch asymptomatischer) Infektion. Mit dem Abfall neutralisierender Antikörper sinkt lokale Immunität wieder, so dass im Anschluss an dieses 2-8 Wochen-Zeitfenster der Schutz vor Infektion deutlich geringer ist. Dementsprechend können sich Geimpfte >2 Monate nach Impfung auch wieder leichter infizieren. (…) Man sollte dementsprechend sehr vorsichtig mit der Aussage sein, dass Impfungen vor jeglicher (auch asymptomatischer) Infektion schützen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Impfung trifft dies immer weniger zu. Dies gilt umso mehr, weil eine fortlaufende Adaptation des Virus an den Immunselektionsdruck in der Population anzunehmen ist, welche zukünftig ebenfalls die Schutzwirkung der Impfung gegen Infektion herabsetzen könnte.“ (RKI-Protokoll vom 5. November 2021)
Die Erkenntnisse stammen von einem Mitglied der Fachgruppe 17 (Influenzaviren und weitere Viren des Respirationstraktes) des RKI. Bei den Aussagen wird Bezug genommen auf eine Ende Oktober 2021 in der Medizinfachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie zur Übertragung der Delta-Variante von SARS-CoV-2 in britischen Haushalten mit geimpften und ungeimpften Personen. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass „vollständig geimpfte Personen mit Durchbruchsinfektionen eine ähnliche Spitzenviruslast wie ungeimpfte Fälle“ haben und diese „die Infektion in häuslicher Umgebung wirksam übertragen“ können – auch auf vollständig geimpfte Kontaktpersonen. Aus Sicht des RKI-Fachgruppen-Mitglieds habe die Studie nur reflektiert, „was anhand der grundlegenden Erkenntnisse zur Immunität gegen Infektionen des Respirationstrakts zu erwarten ist: Der Schutz vor Infektion nimmt ca. >2 Monate nach Impfung erheblich ab“.
Die im RKI-Protokoll festgehaltenen Aussagen sind äußerst brisant, da die deutschen Bundesländer zwischen September und November 2021 flächendeckend so genannte 2G-Regelungen erließen. Zugang zu vielen Freizeiteinrichtungen und großen Teilen des Einzelhandels hatten nur noch Personen, die entweder geimpft oder genesen waren. Als geimpft galt damals, wer zwei COVID-19-Impfpräparatdosen verabreicht bekommen hatte. Da die erste Impfkampagne bereits Ende 2020 begonnen hatte, konnte es sein, dass bei vielen die Impfung Ende 2021 bereits annähernd ein Jahr zurücklag. Genesen war man, wenn man eine COVID-19-Infektion nachweisen konnte, die nicht länger als sechs Monate zurücklag. Später wurde dieser Zeitraum auf drei Monate verkürzt. Bei der sogenannten 3G-Regelung hatten auch Ungeimpfte Zutritt, allerdings nur, wenn sie einen zeitnahen negativen Test nachweisen konnten. Zusätzlich galten bereits ab Mai 2021 Ausnahmeregelungen für Geimpfte und Genesene. So waren sie beispielsweise von der Quarantäne ausgenommen, wenn sie Kontaktperson einer positiv auf das Coronavirus getesteten Person waren.
RKI wusste, das 2G-Regeln größtenteils unsinnig waren
Diese Regelungen waren demnach nicht nur größtenteils unsinnig oder sogar kontraproduktiv, da sich Geimpfte in Sicherheit wiegten und andere Maßnahmen möglicherweise vernachlässigten. Der Eintrag im RKI-Protokoll macht zudem deutlich, dass der obersten deutschen Gesundheitsbehörde die Unsinnigkeit bewusst war. In der im Protokoll festgehaltenen Diskussion um die Aussagen des Fachgruppenmitglieds kommen folglich auch die Fragen auf, ob 2G und 3G noch ein Schutzkonzept sei, das empfohlen werden kann, und ob der Ausschluss von Geimpften von der Quarantäne noch gerechtfertigt sei. Besonders entlarvend sind die Antworten des damaligen RKI-Präsidenten Lothar Wieler hierauf:
„Kommunikation kann nicht geändert werden. Würde große Verwirrung hervorrufen. Andere Aspekte sollten in den Vordergrund gestellt werden: AHA+L (Abstand halten, Hygienemaßnahmen beachten, Alltagsmaske tragen und lüften; Anmerkung des Verf.), Boosterung. Diese Punkte betonen, doppelt Geimpfte wieder in Quarantäne zu schicken, ist nicht vermittelbar.“
Wieler hat demnach wider besseres Wissen entschieden, die deutsche Bevölkerung hinsichtlich der Dauer der Wirkung der COVID-19-Impfpräparate im Unklaren zu lassen und fachlich größtenteils unsinnige Regelungen weiterhin mitzutragen. Damit hat er bewusst gegen die Kernaufgaben der obersten Gesundheitsbehörde verstoßen. Darin heißt es:
„Zu den Aufgaben gehört der generelle gesetzliche Auftrag, wissenschaftliche Erkenntnisse als Basis für gesundheitspolitische Entscheidungen zu erarbeiten. (…) Das RKI berät die zuständigen Bundesministerien, insbesondere das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), und wirkt bei der Entwicklung von Normen und Standards mit. Es informiert und berät die Fachöffentlichkeit sowie zunehmend auch die breitere Öffentlichkeit.“
Lothar Wieler hat im Januar 2024 von Bundespräsident Steinmeier für sein Engagement in der Corona-Krise das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhalten. Laut der Nationalen Akademie der Wissenschaften hat er als Präsident des Robert Koch-Instituts regelmäßig über die Entwicklung der Infektionslage informiert, die Bundesregierung beraten und der Bevölkerung Verhaltenshinweise gegeben.
Sein Schweigen und damit das seiner Behörde über die Dauer der Wirkung der COVID-19-Impfstoffpräparate gegenüber der Öffentlichkeit hat nicht nur zur Fortführung größtenteils unsinniger Regelungen geführt, sondern unter anderem auch dazu beigetragen, dass der Bundestag Mitte Dezember 2021 die einrichtungsbezogene Impfpflicht beschloss und die Bundesregierung eine allgemeine Impfpflicht anstrebte.
Letztendlich waren die Bundesregierung, die Ministerpräsidenten der Länder und der Bundestag für alle Maßnahmen während der Corona-Zeit verantwortlich. Bereits nach der Veröffentlichung der ersten RKI-Protokolle, die von dem Magazin Multipolar gerichtlich erstritten worden war, kam große Kritik an den jeweils verantwortlichen Entscheidungsträgern auf. So warf der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki den Bundesgesundheitsministern Spahn und Lauterbach vor, das RKI hätte ihnen nur als wissenschaftliche Fassade gedient. Mit der Enthüllung der kompletten Protokolle wird deutlich, dass der RKI-Präsident selbst sich quasi im vorauseilenden Gehorsam dem Diktat der Politik unterworfen hat. Es ist angesichts dieser Erkenntnisse nicht mehr nachvollziehbar, dass sich die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag weiterhin gegen einen Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen stemmt.
Titelbild: Screencapture Phoenix