Wann ist der Mensch ein Mensch? – Dehumanisieren und Humanisieren in der Propaganda

Wann ist der Mensch ein Mensch? – Dehumanisieren und Humanisieren in der Propaganda

Wann ist der Mensch ein Mensch? – Dehumanisieren und Humanisieren in der Propaganda

Maike Gosch
Ein Artikel von Maike Gosch

In der Welt der Propaganda und der psychologischen Kriegsführung spielt die Wirkung von Sprache und von visuellen Darstellungen eine große Rolle. Eine wichtige Methode, die Wahrnehmung und damit die Haltung der Bevölkerung insbesondere im Konflikt- oder Kriegsfall zu beeinflussen, ist der Einsatz von Techniken zur „Humanisierung“ und der „Dehumanisierung“ von Menschen. Ein neuer Beitrag aus der Reihe Propaganda-Taktiken von Maike Gosch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Was bedeuten „Humanisierung“ und „Dehumanisierung“? Wir sind doch alle Menschen. Man könnte sogar von einer „Menschheitsfamilie“ sprechen. Die Technik des Humanisierens dient dazu, uns an diese gemeinsame Menschlichkeit zu erinnern, uns miteinander verbunden zu fühlen. Die Technik des Dehumanisierens dient genau dem Gegenteil: uns die Menschlichkeit eines Gegenübers oder einer Gruppe vergessen zu lassen.

Wie funktioniert Humanisieren?

Die Art und Weise, wie von Menschen und Ereignissen erzählt wird, beeinflusst unsere Gefühle und unsere Identifikation mit den dargestellten Personen.

Die Erzählperspektive spielt hierbei eine zentrale Rolle. Wenn eine Situation nur aus einer bestimmten Perspektive präsentiert wird, identifizieren wir uns automatisch mit dem Erzähler oder der Erzählerin bzw. der Person, die ins Zentrum des Geschehens gestellt wird, an die „herangezoomt“ wird, in deren Erlebniswelt wir eintreten.

Achten Sie einmal darauf, z.B. bei aktuellen geopolitischen Konflikten und Kriegen, von welcher Seite aus erzählt wird, wessen Perspektive das Geschehen formt – von wessen Leid und Verlusten erzählt wird, von wessen Gefühlen, Wahrnehmungen, Hoffnungen und Ängsten erzählt wird. Das ist leider heutzutage immer die Seite, die unsere Regierung aktuell strategisch unterstützt. Verantwortungsvolle Journalisten, die auch an einem Frieden interessiert wären, würden beide Seiten schildern, sowohl die Argumente und Perspektive der Regierenden als auch die Erlebnisse und das Leid der Bevölkerung auf allen Seiten. Wenn das nicht geschieht, haben wir den Bereich des Journalismus verlassen und befinden uns mitten in der Propaganda. Aktuell lässt sich diese Vorgehensweise sehr gut im Rahmen der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg und das militärische Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen beobachten.

Das Humanisieren funktioniert also zunächst über die Wahl der Perspektive.

Das Gemeinsame finden

Eine weitere Technik des „Humanisierens“ ist, das Gemeinsame herauszustellen – das heißt, Menschen so zu schildern, dass diejenigen, an die sich die Kommunikation richtet, Schnittmengen mit diesen Menschen entdecken können und sich ihnen dadurch nah fühlen.

Praktisch bedeutet das: Während eine Seite „entmenschlicht“ wird, indem sie abfällig bezeichnet, dehumanisiert und sehr eindimensional auf eine Tätigkeit, Eigenschaft und Funktion reduziert wird (z.B. „Polizistenschweine“), werden die Menschen, die humanisiert werden sollen, in ihren Kontexten als „Vater“, „Mutter“, „Unternehmer“, „Krebspatient“, „Fußballspielerin“, „Inhaberin eines Nagelstudios“ etc. vorgestellt. Es werden also möglichst viele und möglichst emotionale oder bei der Zielgruppe positiv belegte Eigenschaften geschildert und von den Umständen, Träumen, Plänen, Tätigkeiten, Gefühlen, Äußerungen, Hoffnungen dieser Person erzählt und so der Effekt erzielt, dass Leser oder Zuschauer sie als Mensch wahrnehmen, sogar das Gefühl bekommen, sie zu „kennen“, sich mit ihnen zu identifizieren und mit ihnen mitfühlen zu können. Es entstehen dadurch Gefühle und Gedanken wie: „Ich kenne diesen Menschen jetzt“, „Ich könnte ihre Freundin sein“, „Das könnte mein Kind sein“.

Es ist per se erstmal schön und positiv, die Liebe zwischen den Menschen und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Problematisch wird es aber dort, wo es Teil von Propaganda ist, einseitig eingesetzt wird und dazu dient, z.B. Kriegsverbrechen unkenntlich zu machen (siehe z.B. die Berichterstattungen über IDF-Soldaten im Rahmen des militärischen Vorgehens im Gazastreifen als junge, fröhliche Mädchen, die TikTok-Tanzroutinen machen.)

Vielleicht noch ein Hinweis zur Klarheit: Viele dieser Mechanismen entstehen auch als spontane emotionale Impulse und Reaktionen, ohne dass sie manipulativ gesteuert werden müssen.

Nehmen wir einmal ein sehr banales Beispiel aus dem Alltag: Wir sind gestresst und mit zu wenig Zeit am Flughafen angekommen, haben Angst, unseren Flug zu verpassen, vielleicht schreit auch noch unser kleines Kind, wir haben zu wenig gegessen und gerade vorher auf der Hinfahrt noch mit unserem Partner über die richtige Ausweichroute bei Bauarbeiten gestritten. Wir haben lange in der Schlange zum Check-in gestanden und die Mitarbeiterin der Airline, die uns jetzt einchecken soll, telefoniert in unserer Wahrnehmung extrem lange und würdigt uns dabei keines Blickes.

Wir werden wütend auf sie, fangen an, aggressiv zu werden, sind, wenn sie sich endlich um uns kümmert, kurz angebunden, unhöflich und harsch. Durch den Stress und die Situation sehen wir sie nur in ihrer Funktion als „Personal“ und „Funktion“, nicht als ganzen Menschen mit vielen Dimensionen und Gefühlen, mit dem wir vielleicht viel gemeinsam haben, sondern als eine Art feindliches Objekt. Nehmen wir einmal an, sie würde in diesem Moment plötzlich „aus der Rolle“ fallen, sich etwa den Schweiß von der Stirn wischen und sagen: „Ah, mir ist schwindelig, ich hätte das Frühstück nicht ausfallen lassen sollen.“ oder „Wie alt ist ihr Sohn? Meine Tochter ist fast genau in dem Alter.“ Wenn wir nicht schon völlig aufgebracht sind und einen einigermaßen stabilen Charakter haben, wird sich unser Bild von der Frau völlig ändern und die Stimmung sich schlagartig verbessern. Wir werden daran erinnert, dass sie auch „nur“ ein Mensch ist, der Schwächen hat und sich schlecht fühlt, eine Mutter ist, die kleine Kinder hat, oder an irgendwelche anderen Aspekte erinnert, die uns unsere gemeinsame Menschlichkeit wieder bewusst machen.

Die Rolle der Gefühle

Hier spielt ein großes Thema hinein, das eigentlich einen eigenen Artikel verdient hätte, nämlich die Rolle der Gefühle in der politischen Kommunikation. Gefühle spielen eine große Rolle im Kontext der Techniken von Humanisierung/Dehumanisierung, denn sowohl das Humanisieren als auch das Dehumanisieren funktionieren über das Wecken von Gefühlen. Und unsere Gefühlslage bedingt auch, inwieweit wir selbst andere humanisieren oder dehumanisieren (siehe dazu unten).

Beim Humanisieren werden Gefühle wie Liebe, Sympathie, Empathie geweckt – beim Dehumanisieren Gefühle wie Hass, Angst, Ablehnung und Verachtung. Je stärker die Begriffe emotionalisieren, die Politiker und Journalistinnen verwenden, desto eher befinden wir uns in einer Situation, in der gewollt oder ungewollt humanisiert/dehumanisiert werden soll. Leider dient hier der Einsatz von sehr emotionalen Begriffen, Beschreibungen, aber auch Fotos und Filmen oft der Manipulation der Öffentlichkeit – oder sie sind (im unschuldigsten Fall) ein Zeichen dafür, dass die Berichterstatter selbst so stark von ihren eigenen Gefühlen geleitet sind, dass sie nicht mehr objektiv berichten können.

Gefühle spielen auch deshalb eine Rolle beim Humanisieren oder Dehumanisieren, da die Erhöhung von Stress, Zeitdruck, dem Gefühl von Dringlichkeit, von Krise oder Bedrohung, aber auch eine Traumatisierung oder Retraumatisierung durch die Schilderung von Gräueltaten, Tod, Folter, Gefahr, Verlust, Vernichtung oder die Bedrohung damit Auswirkungen auf die menschliche Wahrnehmung, auf die Informationsverarbeitung und auf unsere emotionalen Reaktionen haben.

Unter Stress neigen wir zum Schwarz-Weiß-Denken und dazu, Menschen klar in Freund oder Feind einzuteilen. Unsere Fähigkeit, zu denken und zu analysieren, leidet ebenso wie unsere Fähigkeit, zu differenzieren, Ambiguitäten auszuhalten und Komplexitäten zu verstehen. Jeder kennt das von Wutanfällen oder hitzigen Streitigkeiten. Wenn negative Gefühle und Stress uns überwältigen, können wir nicht mehr klar denken, wir können uns nicht mehr in die Position des Gegenübers hineindenken oder -fühlen, wir werden ausfällig, simplifizieren, klagen an, beschimpfen etc. Genau dasselbe passiert auch im politischen Diskurs, in den sozialen Medien oder in den traditionellen Medienformen. Wenn wir in Stress, Druck und Angst versetzt werden (ob absichtlich oder nicht), leidet unsere Empathiefähigkeit erheblich.

Menschliche Tiere

Welche Methoden kommen zum Einsatz, wenn die Empathie verringert werden soll? Hier werden einzelnen Menschen oder eine Gruppe als fremd, anders und böse beschrieben. Auffallend ist die mangelnde Differenzierung. Die Menschen, die dehumanisiert werden sollen, haben keine guten Eigenschaften, keine nachvollziehbaren Motive, wir haben keine Gemeinsamkeiten mit ihnen. Sie sind vollkommen fremd. Man spricht auf Englisch auch von „otherizing“, also dem Darstellen eines oder mehrerer Menschen als vollkommen „anders“, mit dem/denen wir nichts gemeinsam haben. Ein sehr gutes Video dazu, wie „otherizing“ überwunden werden kann, ist diese Werbung eines dänischen TV-Senders über die dänische Gesellschaft:

Eine Zeitlang habe ich über die Ausbildung von Menschen zu Folterern recherchiert, weil ich verstehen wollte, wie es möglich war, keine Empathie mit Menschen zu haben, die Schmerzen erleiden. Es gibt natürlich Menschen, die generell sehr wenig Empathie empfinden, aber es gibt zusätzliche Möglichkeiten, unsere Empathiefähigkeit weiter zu reduzieren. Dazu gehören die Erhöhung von Stress und Druck sowie die schrittweise Entmenschlichung des „Opfers“.

Vielleicht erinnern Sie sich an die Szene in dem Film „Das Schweigen der Lämmer“, in der die Mutter der entführten Frau ihren Fernseh-Appell an den psychisch kranken Serienmörder und Entführer ihrer erwachsenen Tochter richtet, dabei mehrfach den Namen der Tochter nennt und persönliche Eigenschaften schildert. Die FBI-Agentin und ihr Kollege, die dabei zuhören, erklären, dass sie das strategisch macht, um es dem Mörder schwerer zu machen, ihre Tochter zu töten, da die Mutter ihn dazu bringen wolle, sie als „Person“ und nicht nur als „Objekt“ oder „Gegenstand“ zu sehen. Dass er das tut, also sie als Gegenstand wahrnimmt, zeigt sich in einer Unterhaltung zwischen ihm und dem Opfer, in der er in der dritten Person von ihr spricht und sie als „Es“ bezeichnet, also z.B. (in der deutschen Synchronisation) sagt: „Es wird die Lotion nehmen und sich damit einreiben.“

Die Nationalsozialisten haben ihre Gegner und Opfer systematisch entmenschlicht. Jüdische Mitbürger wurden als „Parasiten“ und „Ungeziefer“ bezeichnet, Slawen als „Untermenschen“, Menschen mit Behinderungen als „lebensunwertes Leben“ und politische Gegner als „Volksfeinde“, „Verräter“ und „Schädlinge“.

„„Dieses zunehmende Absprechen von menschentypischen Empfindungen und Erfahrungen passt zu der Annahme, dass eine solche Dehumanisierung moralische Bedenken im Vorfeld einer Gewalttat verringert und diese so erleichtert“, erklären Landry und seine Kollegen. Indem die Juden in der Propaganda als „Untermenschen“ dargestellt wurden, sprach man ihnen gewissermaßen die Menschenwürde ab und damit auch die Schutzwürdigkeit ihres Lebens.“
(Quelle: wissenschaft.de)

Den Menschen, mit denen aus strategischen Gründen keine Empathie empfunden werden soll, wird also von der Propaganda ihre Menschlichkeit oft komplett abgesprochen. Dann fallen Worte wie „Monster“, „Tiere“ und „Bestien“. Aber auch das Wort „Terrorist“ dient dieser Entmenschlichung. Für politische Gegner oder Führer feindlicher Staaten fallen Worte wie „Diktator“, „Machthaber“ oder „brutaler Schlächter“ etc.

Der zweite Aspekt – neben der Entmenschlichung – ist der Fokus auf die Bedrohung durch das Gegenüber: Er oder sie werden als durch und durch feindselig und gefährlich beschrieben und als Bedrohung dargestellt.

Nach dem Beginn des Holocausts beobachten wir eine Zunahme bei Begriffen, die die jüdische Bevölkerung mit Bösartigkeit und finsteren Absichten in Verbindung bringen”, berichten die Historiker. Den Juden wurde nun etwa unterstellt, die Weltherrschaft anzustreben, die Volksgesundheit aktiv zu untergraben oder dem „deutschen Volk“ auf andere Weise zu schaden. „Diese Muster entsprechen einer Dämonisierung der Juden”, so Landry und sein Team. Demnach stellten die Juden ihre intellektuellen Fähigkeiten ganz in den Dienst moralisch verwerflicher Ziele – und erwiesen sich so als „untermenschlich“.“
(Quelle: wissenschaft.de)

Sehr beunruhigende aktuelle Beispiele von Entmenschlichung sind die Äußerungen von israelischen Politikern und prominenten Bürgern über die Palästinenser im Gazastreifen und der Westbank („They are human animals“), aber auch im Ukraine-Krieg, in dem die ukrainischen Soldaten und Politiker die russischen Soldaten und generell alle Russen und russenfreundlichen Ukrainer als „Orcs“ (die halbmenschlichen Monster aus der „Herr der Ringe“-Trilogie), die russischen Soldaten wiederum die ukrainischen Soldaten als „Schweine“ oder „Ukronazis“ bezeichnen.

Leider kam es in der Zeit der Coronakrise (ca. 2020 bis 2022) – sicher durch Stress und Angst der Bevölkerung und der Politiker und die allgemeine, extrem aufgeladene Krisenstimmung begünstigt – auch in Deutschland wieder zu der Tendenz, Mitbürger stark zu entwerten und zu entmenschlichen. Bezeichnungen und Beleidigungen wie „Schwurbler“ und „Querdullis“ zeigten, wie wenig Respekt Mitbürgern mit einer anderen Meinung zu bestimmten politischen und wissenschaftlichen Themen entgegengebracht wurde. Insbesondere Menschen, die sich gegen eine Impfung entschieden, bekamen die volle Breitseite des Ärgers und Hasses von Politik, Journalisten, Meinungsmachern und vielen wütenden Bürgern zu spüren. So bezeichnete der CSU-Politiker Markus Söder sie als „gefährliche Spinner“, der SPD-Politiker Stefan Weil sogar als „Sozialschädlinge“ (diese und mehr Beispiele unter: ich-habe-mitgemacht.de).

Einer der Tiefpunkte der Debatte war sicher die Aussage der Autorin und Moderatorin Sarah Bosetti, die den Teil der Bevölkerung, der sich gegen die Impfung entschieden hatte und aussprach, mit einem Blinddarm verglich, der von der Gesellschaft entfernt werden könnte.

Diese Zitate zeigen, wie stark die Rhetorik in der öffentlichen Debatte um Corona-Maßnahmen und Impfungen polarisiert war und wie stark dabei Entmenschlichung und Diskreditierung wieder salonfähig wurden. Leider hat dieser Trend seit dem Ende der Krise, auf die ja der Ukraine-Krieg und dann der Gaza-Krieg und eine Unmenge an anderen Krisen folgten, nicht wirklich wieder abgenommen.

Wie konnte das passieren? Gerade in Deutschland lernt doch jedes Schulkind über die Gefahren von Entwertung und Entmenschlichung und, dass diese die Vorstufen zu physischer und politischer Gewalt sind. Gerade in den letzten Jahren hat sich noch zusätzlich eine große Sensibilität, was „Gewalt in der Sprache“ und „Hassrede“ angeht, entwickelt. Wie kann es sein, dass gerade die Menschen, die sich mit diesen Themen (Minderheitenschutz, Hassrede) beschäftigen, bei der Konfrontation mit Menschen anderer Meinungen oft selbst zu diesen extrem beleidigenden, entwertenden und entmenschlichenden Bezeichnungen greifen? Und wie können sie sich selbst dabei aber immer noch als „Gutmenschen“ und als „die auf der richtigen Seite“ begreifen; in der Überzeugung, sie würden gegen „Nazis“ und „Populisten“ kämpfen? Wie ist dieser innere Widerspruch zu erklären?

Tatsächlich ist die Erklärung viel einfacher, in der Wirkung von Gefühlen auf unsere Sprache und unser Diskursverhalten zu finden als über intellektuelle Konstruktionen. Es ist die simple Dynamik der Eskalation. Je gestresster ein Mensch ist, je mehr Angst er hat, desto stärker sieht er die Welt in Schwarz und Weiß, in Freund und Feind getrennt – desto weniger ist er in der Lage, zu differenzieren, verschiedene, sich widersprechende Thesen parallel im Kopf zu verarbeiten, und desto mehr greift er selbst zu negativen und beleidigenden Bezeichnungen (siehe oben). Das ist mir selbst natürlich auch nicht fremd. Wenn ich zum Beispiel etwas auf Twitter lese oder sehe, was mein Herz bricht und mein Blut zum Kochen bringt (aktuell zum Beispiel die schrecklichen Bilder der getöteten Kinder in Gaza), dann würde ich im ersten Impuls auch am liebsten die schlimmsten und entmenschlichenden Beleidigungen gegen die, die ich für die Verantwortlichen halte, in die Tasten hauen. Wie viel stärker muss dieser Impuls noch sein, wenn jemandem selbst diese Gewalt angetan wurde oder es einen Angehörigen getroffen hat oder jemand durch solche Nachrichten eine Retraumatisierung erlebt?

Als es anfing mit dem Erstarken der AfD (ca. 2016) und damit auch der Angst vor der AfD und infolgedessen mit der Diskreditierung und Entmenschlichung von AfD-Politikern und -Wählern, war ich von dieser Entwicklung entsetzt und habe Bekannte und Kollegen, die am stärksten darauf mit „Hass und Hetze“ reagierten, darüber ausgefragt, woher diese starke emotionale Reaktion kam. Dabei habe ich erfahren, dass viele von ihnen in ihrer Jugend in der Antifa oder als Teil einer alternativen Jugendkultur, oft in Ostdeutschland, selbst Bedrohungen und starke physische Gewalt durch Neonazi-Gruppen erfahren haben. Umgekehrt schildern zum Beispiel viele AfD-Politiker eigene Gewalt- und Bedrohungserfahrungen gegen sich und ihre Familien durch gewalttätige Antifa-Aktivisten, was sicher auch einen Einfluss auf wiederum ihre Wortwahl von „linksgrün versiffter Gesellschaft“ und ähnliche Ausdrücke hat.

Das ist die Entmenschlichung und Entwertung, die im „Eifer des Gefechts“ entsteht und quasi unfreiwillig passiert. Hier heißt es für jeden von uns, achtsam zu sein und nicht selbst in diese Falle zu gehen – egal, wie sehr wir uns auf der „richtigen“ Seite wähnen.

Empathielenkung in der Berichterstattung

Dann gibt es aber auch den Fall der Manipulation. Hier werden diese Effekte, sowohl der verstärkten Empathie wie auch des Abschaltens jeglicher Empathie, bewusst hervorgerufen. Wobei es sicher viele Fälle gibt, in denen sich diese beiden Elemente vermischen (eigene Emotionalität und nicht erkannte Einseitigkeit mit dem Wunsch nach Beeinflussung).

Wir können immer erkennen, auf wessen Seite unsere Politiker und leider inzwischen auch gleichzeitig unsere Journalisten bei einem Konflikt stehen, indem wir darauf achten, wessen Perspektive gewählt wird, aus wessen Sicht von einer Situation erzählt wird, mit wem mitgefühlt werden darf und soll und mit wem nicht. Beste Beispiele liefern aktuell der Ukraine-Krieg und der Konflikt in Gaza. Die Bundesregierung und damit die gesamte Presselandschaft sind, wie immer in den letzten Jahren, zu 100 Prozent auf der Seite der USA und damit der ihrer Verbündeten in der Ukraine und Israel.

Das heißt, bei den Berichten über den Krieg in der Ukraine wurde über Jahre in allen Medien die Sichtweise der ukrainischen Bevölkerung und des ukrainischen Militärs vollkommen in den Vordergrund gerückt und fast ausschließlich über diese berichtet. Es wurde von ihrem Leid, ihren Hoffnungen, ihren Wahrnehmungen, ihrer Sichtweise berichtet. Ihnen wurde ein Gesicht gegeben, sie wurden dargestellt mit ihren Hobbies, Interessen, Berufen, persönlichen Eigenschaften etc. Das Leiden etwa der russischsprachigen und russlandfreundlichen Bevölkerung im Osten der Ukraine und auch im gesamten Land, ihre Verfolgung, die teilweise schrecklichen Menschenrechtsverletzungen, die sie erlitten haben, der Bombenterror in den Jahren vor dem Krieg und im Krieg wurden nur von alternativen Journalisten geschildert. Ebenso haben russische Soldaten, Journalisten und die russische Zivilbevölkerung kein Gesicht und keine Stimme in unseren Medien, es sei denn, sie sind Dissidenten und Feinde Russlands wie der US-amerikanische Journalist Evan Gershkovich, der wegen Spionage gerade zu 16 Jahren Haft verurteilt wurde, oder der inzwischen verstorbene russische Oppositionspolitiker Alexey Nawalny. Um diese wird ein regelrechter Personenkult betrieben, und sie bekommen mehr Titelseiten und Homestorys als Taylor Swift.

Es werden also nicht beide Seiten eines Konflikts geschildert, sodass sich die deutschen Leser/Bürger selbst ein Bild der Situation verschaffen könnten, sondern die deutschen Politiker und Medien verhalten sich so, als wäre Deutschland selbst im Krieg gegen einen Feind. Der Konflikt wird entsprechend einseitig vermittelt, und es ist absolut klar, welcher Seite die Solidarität der Bevölkerung zu gelten hat. Die Maßnahmen gehen hier sogar bis zur strafrechtlichen Sanktionierung (Unter-Strafe-Stellung) von abweichenden Einschätzungen. Inzwischen ist es strafbar, z.B. durch Nennung des Buchstabens „Z“ die Unterstützung für den russischen Militäreinsatz zu deklarieren, während das Zeigen der ukrainischen Flagge zur Unterstützung der ukrainischen Seite auf Social-Media-Profilen und sogar vor fast allen offiziellen Gebäuden, Rathäusern, Regierungsgebäuden, Ministerien etc. zum guten Ton gehört.

Was damit erreicht wird, ist, dass der Eindruck entsteht, eine eigene Meinungsbildung dürfe nicht mehr stattfinden. Sie findet natürlich dennoch in den Köpfen der Menschen statt, darf aber nur noch ganz beschränkt öffentlich diskutiert und ausgetauscht werden. Dadurch wird erreicht, dass über die Medien kein Verstärkungseffekt stattfindet. Durch die strafrechtlichen Verbote sowie die sozialen und beruflichen Sanktionierungen und Verunglimpfungen wird zusätzlich ein starker „freeze“-Effekt erreicht, das heißt Menschen zensieren sich selbst und sagen nicht mehr frei und offen ihre Meinung – was auch wieder den erwünschten Effekt hat, dass die Gruppe von Menschen, die eine von der offiziellen Linie abweichende Meinung haben, sich nicht gut untereinander vernetzen können und sie nur schwer einschätzen können, wie viele sie eigentlich schon sind.

Das Gute, Wahre, Schöne

Eine wichtige Rolle hier spielen auch Bilder und Videos bei der Empathielenkung. Alle aus der Kommunikationspsychologie und dem Marketing bekannten Tricks und Kniffe werden angewendet, um die eine Seite als schön, edel, liebevoll etc. darzustellen, die „Gegenseite“ als hässlich, böse, hinterhältig usw. Besonders interessant ist der Einsatz von Schönheit, also schöner Gesichter und Körper als Argument für „Gutsein“ und Hässlichkeit oder ein Abweichen von ästhetischen Normen als Argument für die Ablehnung einer Person und ihrer politischen Haltung oder Nation.

Ein gutes Beispiel ist hier das dehumanisierende „Fat Shaming“ der Grünen-Politikerin Ricarda Lang durch Kritiker, meist aus dem politisch rechtskonservativen Lager, die immer wieder ihr Gewicht und ihre Körperform als Argument nutzen, anstatt ihre politische Position anzugreifen oder um einem solchen Angriff „Gewicht zu verleihen“.

Sei wachsam

Was für eine Gefahr das Dehumanisieren darstellt, brauche ich nicht zu wiederholen. Es ist bekannt, dass das Dehumanisieren bestimmter Menschen immer eine (bewusste oder unbewusste) Vorstufe davon ist, diesen etwas anzutun – sei es Genozid, Krieg oder staatliche bzw. nichtstaatliche Repression oder Gewalt.

Wichtig ist es, sensibilisiert dafür zu sein, wenn es passiert. Seid aufmerksam! Immer, wenn ein Mensch oder eine Gruppe dehumanisiert wird, befinden wir uns auf Abwegen in eine falsche Richtung oder werden manipuliert. Und es ist auch wichtig, bei sich selbst darauf zu achten, nicht in eigener Wut und Aufregung das Gegenüber zu dehumanisieren – selbst wenn es in der Überzeugung des eigenen Rechthabens und Auf-der-richtigen-Seite-Stehens geschieht („AfDler töten“). Werde nicht, was du bekämpfst. Oder, wie Friedrich Nietzsche es so schön formulierte:

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Dies also das Fazit aus meinen Überlegungen:

  • Achten Sie darauf, wenn selektiv „humanisiert“ und „dehumanisiert“ wird, und überlegen Sie, in welche Richtung Ihre Empathie in einer solchen Situation gelenkt werden soll.
  • Achten Sie auf Ihre eigene Sprache im Eifer des Gefechtes in diesen unseren aufgewühlten und spannungsreichen Zeiten.
  • Atmen Sie ruhig durch, versuchen Sie (auch auf Twitter), aus dem Kampfmodus herauszukommen, und denken Sie daran, dass wir alle Menschen sind und gemeinsam in diesem Land und auf diesem Planeten miteinander auskommen müssen.

Titelbild: Shutterstock / Dmitry Kovalchuk