Michel Rocard / Pierre Larrouturou, „Warum sollen Staaten 600-mal mehr als Banken zahlen?“
Kann es sein, dass Privatbanken, die sich üblicherweise zu 1% bei Zentralbanken refinanzieren, in Krisenzeiten in den Genuss eines Zinssatzes von 0,01% kommen, während in der gleichen Krise einige Staaten gezwungen werden, 600 bis 800 mal höhere Zinssätze zu zahlen?
Inhalte eines in der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 3.1.2012 (S.20) erschienen Artikels übertragen von Gerhard Kilper
Originaltitel: „Pourquoi faut-il que les Etats payent 600 fois plus que les banques?“
Originalquelle: Le Monde
Autoren: Michel Rocard, Ökonom, 1988-1991 unter Mitterand französischer Ministerpräsident, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des sozialdemokratisch orientierten, französischen Think-thanks Terra Nova
Pierre Latourrurou, Ökonom, ehemaliges PS-Mitglied, sitzt im politischen Beraterstab der frz. Grünen (Europe-Ecologie), Autor des Buches „Pour éviter le krach ultime“ (Maßnahmen zur Vermeidung des allerletzten Crashs).
Warum sollen Staaten 600-mal mehr als Banken zahlen?
Das sind unglaubliche Zahlen. Man wusste zwar schon, dass George W. Bush und Henry Paulson Ende 2008 zur Rettung amerikanischer Banken 700 Milliarden Dollar (540 Milliarden Euro) auf den Tisch legten. Doch jetzt gab ein amerikanischer Richter Journalisten des Hauses Bloomberg Recht, die von der amerikanischen Zentralbank Fed die Offenlegung aller an das amerikanische Bankensystem gewährten Hilfen verlangten. Nach eingehender Durchsicht von rund 20 000 Seiten unterschiedlicher Dokumente enthüllte Bloomberg, dass die amerikanische Zentralbank heimlich Kredite von über 1.200 Milliarden Dollar an Not leidende Banken zum unglaublichen Zinssatz von 0,01% gewährt hatte.
Zur gleichen Zeit leiden in zahlreichen Ländern die Menschen unter den ihnen von ihren Regierungen auferlegten Spar- und Kürzungsprogrammen (Austeritätsmaßnahmen). Die Finanzmärkte waren nicht mehr bereit gewesen, diesen Ländern Kredite von auch nur einigen Milliarden zu Zinssätzen unter 6, 7 oder 9% zu gewähren!
Erstickt unter solchen Zinssätzen waren die Regierungen „gezwungen“, Renten, Familiensozialleistungen oder Beamtengehälter einzufrieren und Investitionen zu kürzen. Unmittelbare Folge dieser Maßnahmen ist steigende Arbeitslosigkeit und sie werden uns bald eine schwere Rezession bringen.
Kann es sein, dass Privatbanken, die sich üblicherweise zu 1% bei Zentralbanken refinanzieren, in Krisenzeiten in den Genuss eines Zinssatzes von 0,01% kommen, während in der gleichen Krise einige Staaten gezwungen werden, 600- bis 800-mal höhere Zinssätze zu zahlen?
Der ehemalige amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt stellte die Behauptung auf
„Vom organisierten Geld regiert zu werden ist genauso schlimm wie vom organisierten Verbrechen regiert zu werden.“
Er hatte Recht. Wir erleben zurzeit eine Krise des deregulierten Kapitalismus, die für unsere Zivilisation selbstmörderisch sein kann. Wie Stéphane Hessel und Edgar Morin in ihrem Buch „Der Weg der Hoffnung“ (Le chemin de l’espérance, Verlag Fayard 2011) schreiben, unsere Gesellschaften haben die Wahl: Metamorphose oder Untergang?
Werden wir warten, bis es zu spät ist, endlich die Augen auf zu machen? Werden wir warten, bis es zu spät ist, die Schwere der Krise zu begreifen oder werden wir vor dem Auseinanderbrechen unserer Gesellschaften gemeinsam eine Metamorphose schaffen? Hier ist nicht der Platz, die 10 oder 15 konkreten Reformen genauer zu beschreiben, die einen grundlegenden Wandel ermöglichen könnten. Wir wollen nur zeigen, dass ein solcher möglich ist und dass Paul Krugman mit seiner Meinung (hoffentlich G.K.) Unrecht hat, Europa schließe sich in eine “Spirale des Todes“ ein.
Wie könnte man unseren öffentlichen Finanzen etwas Luft verschaffen? Welche Handlungsmöglichkeiten verbleiben, ohne dass bestehende Verträge geändert werden müssen? An einer solchen Änderung müsste monatelang gearbeitet werden und geänderte Verträge könnten nicht in Kraft gesetzt werden, solange Europa von seinen Bürgern immer mehr gehasst wird.
Angela Merkel hat Recht mit ihrer Aussage, man müsse die Flucht nach vorne antreten. Aber: der Großteil der Gelder, die sich unsere Staaten auf den Finanzmärkten besorgen, bedient Altschulden. Im Jahr 2012 werden sich die von Frankreich an den Finanzmärkten aufgenommenen Kredite auf ca. 400 Milliarden Euro belaufen. 100 Milliarden davon sind für unser aktuelles Haushaltsdefizit (bei Streichung der Steuersenkungen der letzten 10 Jahre wäre dies heute quasi null) und 300 Milliarden sind für unsere Altschulden. Diese Altschulden werden zur Tilgung anfallen, die jedoch nur durch Aufnahme neuer Kredite in gleicher Höhe möglich ist.
Die Zahlung enorm hoher Zinssätze für Schulden, die 5 oder 10 Jahre lang akkumuliert wurden, kann nicht der Entwicklung des Verantwortungsbewusstseins der Regierungen dienen. Die enorm hohen Zinssätze ersticken nur unsere Volkswirtschaften zugunsten der Profite einiger Privatbanken. Unter dem Vorwand von Risiken werden von Privatbanken Hochzins-Kredite an Eurozonen-Staaten vergeben, obwohl die Banken genau wissen, dass wahrscheinlich kein reales Risiko besteht, da zur Garantie staatlicher Zahlungsfähigkeit der europäische Finanzstabilitätsfonds FESF eingerichtet wurde …
Das Anlegen von zweierlei Maßen und Gewichten muss jetzt ein Ende haben. Angeregt durch die Praxis der amerikanischen Zentralbank schlagen wir zur Rettung des europäischen Finanzsystems vor, dass die Altschulden der Eurozonen-Staaten mit einem 0%-Zinssatz refinanziert werden.
Zur Umsetzung dieses Vorschlags brauchen die europäischen Verträge nicht geändert zu werden. Zwar kann nach den EU-Verträgen die EZB nicht direkt Kredite an Staaten vergeben, doch die EZB kann nach Artikel 21.3 der Satzung des „Systems europäischer Zentralbanken“ ohne Beschränkung Kredite an öffentliche Kreditinstitutionen und nach Artikel 23 dieser Satzung auch an internationale Organisationen vergeben.
Das heißt praktisch: die EZB kann Kredite an die Europäische Investitionsbank oder an öffentliche Depositenkassen zu einem Zinssatz von 0,01% gewähren. Diese wiederum könnten Kredite an Staaten zur Tilgung ihrer Altschulden zu einem Zinssatz von 0,02% geben.
Es gibt kein Hindernis für die Etablierung solcher Finanzierungsregelungen schon ab dem Januar 2012! Man kann nicht genug betonen: der italienische Haushalt hat einen grundsätzlichen Überschuss. Das italienische Budget wäre daher im Gleichgewicht, wenn nicht immer höhere Zinsen bezahlt werden müssten. Soll man Italien in die Rezession und in eine politische Krise hinein treiben oder ist man bereit, das Ende der bisherigen Profitmargen der Privatbanken zu akzeptieren? Für den, der Gemeinwohl orientiert politisch denkt und handelt, müsste die Antwort klar sein.
Die europäischen Verträge weisen der EZB die Wächterrolle über die Preisstabilität zu. Wie kann es sein, dass die EZB nicht reagiert, wenn sich in einigen Ländern die (Zinsen als) Preise für Staatspapiere in wenigen Monaten verdoppeln oder verdreifachen?
Die EZB hat auch die Aufgabe, über die Stabilität unserer Volkswirtschaften zu wachen. Wie kann sie dann überhaupt nicht reagieren, wenn der (hohe) Preis für die Staatsschulden dafür verantwortlich ist, dass unsere Volkswirtschaften in eine Rezession abzugleiten drohen (nach Einschätzung des Gouverneurs der Bank von England in eine schlimmere Rezession als die 1930er Krise)?
Wenn man sich strikt an die europäischen Verträge hält, kann nichts die EZB daran hindern, mit Nachdruck für die Senkung des Preises staatlicher Schulden aktiv zu werden bzw. wenn die EZB vertragstreu ist, wird sie alle ihr zur Verfügung stehenden Hebel zur Senkung des Preises der öffentlichen Schuld in Bewegung setzen. Insgesamt macht doch genau die Inflation (dieser Preise) am meisten Sorge!
1989 nach dem Fall der Mauer benötigten Helmut Kohl, François Mitterand und die anderen Staatschefs nur einen Monat Zeit, um sich auf die Schaffung einer europäischen Einheitswährung zu verständigen. Worauf warten unsere Regierenden nach jetzt vier Jahren Krise noch, um unseren öffentlichen Finanzen Luft zu verschaffen?
Unser oben vorgeschlagener Mechanismus kann umgehend in die Tat umgesetzt werden. Er kann sowohl zur Senkung der Kosten staatlicher Altschulden, als auch zur Finanzierung fundamentaler europäischer Zukunftsinvestitionen – etwa bei der Energieeinsparung – heran gezogen werden.
Auch diejenigen haben Recht, die Verhandlungen über einen neuen europäischen Vertrag fordern. Ein politisches Europa als handlungsfähige politische Einheit in der globalisierten Welt könnte von Ländern gebildet werden, die das ausdrücklich wollen. Ein solcher Vertrag müsste ein wahrhaft demokratisches Europa begründen – wie es schon 1994 Wolfgang Schäuble und Karl Lamers oder auch Joschka Fischer im Jahr 2000 vorschlugen. Begleitend dazu wäre auch ein Vertrag zur Konvergenz im sozialen Bereich und zur Etablierung einer echten Wirtschaftsregierung erforderlich.
Alles oben Dargelegte ist unverzichtbar. Sollte jedoch unser Kontinent in der „Spirale des Todes“ versinken und die europäischen Bürger weiter alles, was aus Brüssel kommt, hassen, kann es auch keinen neuen europäischen Vertrag geben.
Es ist daher höchste Zeit, den Europäern ein klares Signal zu geben: Europa befindet sich nicht in den Händen der Finanzlobby, Europa ist für seine Bürger da!