Ostdeutschland: Die „bleibende Unterschiedlichkeit“

Ostdeutschland: Die „bleibende Unterschiedlichkeit“

Ostdeutschland: Die „bleibende Unterschiedlichkeit“

Ein Artikel von Irmtraud Gutschke

(Wieder-)Vereinigung? Es war ein Beitritt, der die Ostdeutschen zu Neuankömmlingen machte und sie in die Mühlen einer rabiaten Transformation stürzte. Entgegen der Vorstellung, dass es mittelfristig zu einer Angleichung kommen würde, stellt der Soziologe Steffen Mau in seinem neuen Buch eine „bleibende Unterschiedlichkeit“ fest. Von Irmtraud Gutschke.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Den Westen zur Norm zu machen und den Osten lediglich als Abweichung davon, würde der Tatsache nicht gerecht, dass es „einen eigenen ostdeutschen Entwicklungspfad gibt“, von dem womöglich gar der Westen profitieren könnte, so Steffen Mau.

Der Autor des neuen Buches „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ ist 1968 in Rostock geboren und einer der ganz wenigen Ostdeutschen, die es zu einer Berufung als Professor an einer deutschen Universität geschafft haben. Soziologie und Politikwissenschaften hat er von 1991 bis 1997 freilich schon an der Freien Universität Berlin studiert und hat von 1998 bis 2001 als erster ostdeutscher Doktorand am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz zum Thema Wohlfahrtsstaat promoviert.

Er hat seinen Weg gemacht, bei dem das Ost-Sein erst einmal keine Rolle spielen sollte. So wie es nach 1990 viele junge Leute versuchten, denen mehr Chancen als den Älteren (deutlicher DDR-Sozialisierten) zugesprochen waren. Auch Dirk Oschmann, Literatur-Professor in Leipzig, gehört zu dieser Altersgruppe. Zwar hat er noch an der Friedrich-Schiller-Universität Jena studiert, ist 1992/93 aber mit einem Fulbright-Stipendium in die USA gegangen. Dass ihm dennoch die Zuschreibung als Ostdeutscher blieb, war wohl ein persönlicher Anstoß für sein Buch „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung.“ [1]

Seiner These, dass der Westen sich dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer als Norm definiert und den Osten als Abweichung, könnte Steffen Mau eigentlich zustimmen. In ihrem ost-westdeutschen Erfahrungshintergrund lassen sich beide Professoren zusammendenken. Nur dass der eine als Literaturwissenschaftler mehr zum Essay tendiert, der andere aber als Soziologe auf akribische Analysen setzt. Was Mau für kontraproduktiv hält, ist Oschmanns polemischer Ton. Dem will er die Vorstellung von einem gelingenden innerdeutschen Diskurs entgegensetzen. Gleich zu Beginn seines Buches kündigt er an, dass er das Thema aus einer „dünkelhaften und selbstgewissen Ecke herausholen“ will, „in Ost wie in West“. [2] Dass er im Januar 2021 durch die Bundesregierung in den Sachverständigenrat für Integration und Migration berufen wurde, passt dazu.

Wobei er mit seinen nüchternen Feststellungen an die mediale Aufmerksamkeit anknüpfen kann, die Oschmann mit seinem Buch anfachte. Das Thema ist „in“, umso mehr vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg in diesem Herbst. Die These, dass „der Osten anders bleibt“, wird sich in den Ergebnissen bestätigen.

Dennoch ist sie provokant, weil sie gegen die verbreitete Vorstellung gerichtet ist, dass die „neuen Bundesländer“ den alten nur ordentlich hinterherlaufen müssten, die „Ossis“ das Jammern sein lassen und stattdessen die Ärmel hochkrempeln sollten. Zufrieden sein sollten über die viel größeren Konsum- und Reisemöglichkeiten, die ihnen als Bundesbürger offenstanden.

„Wir haben nach 1945 auch klein angefangen“ – noch heute habe ich diesen Satz einer Westberliner Verwandten im Ohr. Und wie oft habe ich erlebt, dass mir mein Leben in der DDR erklärt wurde von Leuten, die davon nur sehr oberflächliche Vorstellungen hatten. Die auch früher schon auf uns herabblickten, verächtlich von „der Zone“ sprachen und sich nun im Gedanken sonnten, dass es mit dieser Anomalie endlich vorbei sein sollte.

„Feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen“, so hat Daniela Dahn den Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes genannt, der eben von vornherein nicht als Vereinigung unter einer neuen Verfassung gedacht war. [3] Dass viele DDR-Bürger dann bekamen, was sie so nicht erwartet hatten, nämlich Neoliberalismus statt sozialer Marktwirtschaft, führte zu anhaltendem Groll, zumal wenn es ihre Wahlentscheidung gewesen war.

Viel emotional Polemisches hätte ich Steffen Mau beim Lesen hinzufügen mögen, dann aber freute es mich doch, wie er sich diesbezüglich zurückhält. Die nüchterne Sachlichkeit ist ein großer Vorzug des Buches, um es öffentlichkeitswirksam zu machen und um vielleicht sogar in politische Strukturen hineinzuwirken, wo man sich am liebsten mit einem „Weiter so“ durch Konflikte hindurchwursteln würde. Mit den Landtagswahlen im September 2024 könnte es, wie gesagt, dafür eine Quittung geben, die auch dem Autor dieses Buches nicht gefällt, die er aber in ihren Ursachen und möglichen Folgen analysieren will.

Tatsächlich ist es ja der erwartbare Stimmenzuwachs für die AfD, der im Hintergrund dieser Recherchen steht und diese Wortmeldung gerade jetzt so wichtig werden lässt. Was im Osten evident wird, kann auch den Westen nicht unberührt lassen. Da wird es nicht helfen, jene Wähler zu verunglimpfen, indem man sie mit „zwei deutschen Diktaturen“ in Zusammenhang bringt. Medial wird es wahrscheinlich dennoch geschehen, auch wenn es so unsachlich wie beleidigend ist, die DDR mit der NS-Diktatur gleichzusetzen.

Vorwürfe, Unsicherheit, Missverstehen

„Das Sprechen über Ostdeutschland ist jedenfalls bis heute von Vorwürfen, Unsicherheit und Missverstehen geprägt: Auf mediale Kollektivschelte an den Ostdeutschen folgt Trotzreaktion. Kritik am Einigungsprozess wird mit dem Hinweis auf die Alternativlosigkeit der Entscheidungen und Maßnahmen retourniert.“ [4]. Von der Tatsache „zweier unterschiedlicher Deutungskulturen“ [5] ausgehend, bleibt für Steffen Mau unbestritten, dass sich die ursprüngliche Erwartung „einer Angleichung oder Anverwandlung des Ostens an den Westen im Lichte jüngerer Entwicklungen als Schimäre erweist“. Stattdessen stellt er einen „einen eigenen ostdeutschen Entwicklungspfad“ fest. „Erst wenn man diese unterschiedliche Verfasstheit (an)-erkennt, kann man politisch angemessen agieren und nach neuen Lösungen suchen.“ [6]

Wenn ich mit einem Lächeln bemerke, wie Steffen Mau einer „westdeutsch-dominierten Öffentlichkeit“ etwas verständlich machen will, bei dem ich mitunter gar weiter gehen würde, muss ich als ostdeutsche Leserin doch einsehen, dass ich zu einer Minderheit gehöre. Nur 16,7 Prozent der Deutschen leben im Osten, 83,3 Prozent im Westen. Aber auch innerhalb des riesigen sowjetischen Imperiums hat es ein starkes DDR-Selbstbewusstsein gegeben. Es kursierte sogar ein Witz, dass eine Paprika ins Staatswappen gehöre: klein, aber scharf. Das mag man heute „Osttrotz“ nennen, bei dem, so Mau, „auf Grund von Unterlegenheitserfahrungen eine Selbstaufwertung stattfindet“. [7] Aber gibt es in gewissem Sinne nicht gar eine Überlegenheit?

Was die materielle Lage betrifft, keinesfalls, und politisch fühlen sich viele nicht gehört, ja abgehängt. Aber sie haben Erfahrungen mit Machtsystemen und Ideologie, sind geübt, dialektisch in politischen und vor allem auch ökonomischen Zusammenhängen zu denken. Die enorme Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus anzuerkennen, zu der die DDR nicht aufholen konnte, hindert sie nicht daran, die enorm ungerechten Verteilungsverhältnisse zu kritisieren. Sie wissen um das Oben und Unten. Also musste es nach dem Ende der DDR im Sinne der bestehenden Macht notwendig gewesen sein, in Institutionen, Universitäten, Schulen rigoros „aufzuräumen“, weil es sich um die Besetzung eines politischen Feindeslandes gehandelt hat, das die DDR ja während des Kalten Krieges gewesen war.

So zugespitzt würde das Steffen Mau keinesfalls formulieren, und das kommt, wie gesagt, dem Buch auch zugute. Dass bis zu zwei Drittel der Ostdeutschen sich als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen, habe „vermutlich weniger mit konkreten Diskriminierungserfahrungen“ als mit einer „sozialstrukturellen Unterprivilegierung“ zu tun. [8] „Das Vermögen der Haushalte ist in Westdeutschland doppelt so hoch, nur zwei Prozent der deutschen Erbschaftssteuer werden in Ostdeutschland (ohne Berlin) gezahlt“.

„Flurschäden der Transformation“ stecken Vielen in den Knochen: massenhafte Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung in der Fläche, weitverbreitete Übergänge in die biografische Haltebucht des Vorruhestands sowie der Eintritt in das Maßnahmenkarussell der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik sind nur abstrakte Beschreibungen einer tiefgehenden Kränkungserfahrung. [9]

Entgegenhalten könnte man, dass es auch im Westen abgehängte Regionen gibt, zu niedrige Löhne, Arbeitslose und solche, die sich keine lohnabhängige Tätigkeit mehr zutrauen. Im wohlhabenden Freiburg erstaunten mich die bettelnden Menschen, welche wohl schon ihre angestammten Plätze im Stadtbild hatten. Mit Gleichheitsvorstellungen aufgewachsen, kann ich mich allerdings nicht an die strukturelle Ungleichheit gewöhnen. Es ist ein Blick von außen auf Verhältnisse, die vielen im Westen als das Normale erscheinen. Die Frage ist, ob diese Sicht sich in kommenden Generationen verliert.

Ossifikation“ statt Angleichung

Steffen Mau bemüht einen Begriff aus der Medizin: „Ossifikation“. Dabei handelt es sich um eine bleibende, unter Umständen pathologische „Verknöcherung wie auch die Regeneration nach einem Bruch, nämlich durch die Bildung von Narbengewebe“. In seinem lesenswerten Band „Lütten Klein“, mit dem ihm vor dem Hintergrund dieses Rostocker Neubaugebiets eine persönliche Sozialgeschichte Ostdeutschlands gelang, hatte er ja schon von „Frakturen“ gesprochen. [10]

Zusammen mit seinen Kollegen Julian Heide und Thomas Lux hat er nun eine bundesweite repräsentative Umfrage zur Wahrnehmung von Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen ausgewertet. Dabei stellten sie fest, dass Westdeutsche Konflikte viel weniger stark wahrnehmen als Ostdeutsche. Wobei bei Letzteren, entgegen aller Erwartung, die „Empfindung von Andersheit“ nicht etwa nur bei Älteren, sondern auch bei den viel Jüngeren zu beobachten ist, die die DDR gar nicht erlebt haben. „Auch hier kennen wir ähnliche Phänomene von migrantischen Gruppen, die in der zweiten oder dritten Generation eine stärkere Herkunftsvergewisserung und eine ausgeprägte Sensibilität für Nachteilslagen entwickeln als ihre Eltern oder Großeltern, was in der Summe zu einer Rekulturalisierung oder einem selbstbewussteren Auftreten im öffentlichen Raum führen kann.“ [11]

„Gerade jüngere Menschen formulieren einen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Unter den nach 1989 Geborenen sind es schon 78 Prozent, die für Gleichstellungsmaßnahmen votieren.“ [12] Dem sollte allerdings hinzugefügt werden, dass sich, wie oft in derlei Anerkennungsdebatten, hinter der Klage über Nachteile der Wunsch nach günstigeren persönlichen Startbedingungen in dieser Konkurrenzgesellschaft versteckt. Es ist ein Kampf um bessere Plätze, von denen es durch Ost-Quoten viel mehr geben würde.

Dass eine „Überschichtung der ostdeutschen Gesellschaft durch westdeutsches Führungspersonal“ stattgefunden hat, steht außer Zweifel. Als zentralen Akteuren des Wandels konnten den Westdeutschen dann alle Folgeprobleme überantwortet werden. Anders als in anderen Staaten Ostmitteleuropas, wo es sehr junge Nachrückeeliten gab.[13] Dieser Vergleich ist insofern interessant, weil man gerade dort deutlich sehen kann, wie politische Aufsteigerinnen und Aufsteiger sehr schnell durch fremden Einfluss korrumpiert werden können. Und wenn nicht das, meine ich, so müssen sie sich doch an bestehende Machtstrukturen anpassen.

Wenn die meisten der herausgehobenen Positionen westdeutsch besetzt sind, hat das freilich „Auswirkungen auf die lokale politische Kultur“. [14] Schon aus diesem Grund müsste sich das ändern.

Dass Ostdeutschland zu einem „Katalonien 2.0“ tendieren könnte, auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen. Steffen Mau hat recht, wenn er dem widerspricht: „Es handelt sich eher um einen Anerkennungs- als um einen Spaltungskonflikt“, bei dem es um „gleichberechtigte Teilhabe in ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht“ geht. [15] Gleichberechtigte Teilhabe gibt es indes für viele auch im Westen nicht, muss man sagen. Vielleicht finden sich Ostdeutsche nur schwerer mit den Grenzen des politisch Gegebenen ab. Mir jedenfalls scheint immer ein Anderes auf, auch wenn es erst einmal unmöglich ist.

Veränderungserschöpfte Teilgesellschaft

Eine „Parteienpolitikverdrossenheit“ sei nicht zu übersehen, so Steffen Mau:

Während die Bejahung der Demokratie als Idee im Osten recht stark ist (über 90 Prozent), rauschen die Werte in den Keller, wenn man fragt, ob die Demokratie in der Bundesrepublik gegenwärtig gut funktioniert (nur noch knapp 40 Prozent Zustimmung). Viele haben ein ganz eigenes Politikverständnis ausgebildet, bei dem Vorstellungen des ursprünglichen und direkten ‚Volkswillens‘ im Zentrum stehen. Dieser (nur) imaginierte Gesamtwille soll die Politik bestimmen, nicht das Parteienkarussell samt den ihm eigenen Formen der Personalauswahl, der innerparteilichen Austarierung von Interessen und der strategischen Positionierung. Politikerinnen und Politiker sollen das tun, was die Bevölkerung verlangt.“ [16]

Zum Gefühl der Nichteinbezogenheit in die Politik käme eine „allgemeine Veränderungsmüdigkeit“. Der „Turbowandel der 1990er Jahre“ habe die Bereitschaft zu weiteren Veränderungen unterhöhlt:

Nachdem man sich schon einmal grundlegend umstellen musste und biografische Halterungen wegbrachen, stemmen sich nun größere Bevölkerungsgruppen stark gegen neue Zumutungen, seien es wachsende Diversität oder die sozialökologische Transformation. Insbesondere Migration wird als kulturelle Irritation wahrgenommen.“ [17]

Wobei die Diagnose einer „veränderungserschöpften Teilgesellschaft“ zweifellos populistisch ausgenutzt werden kann, was im Resultat nur zu weiteren Frustrationen führen muss. Aber wenn Wählerinnen und Wähler ihre „Unzufriedenheiten, Enttäuschungen und negativen Erfahrungen allgemein auf das Konto der Rechtspopulisten einzahlen“, worauf diese auch spekulieren, könnte die AfD bei den anstehenden Landtagswahlen der Macht sehr nahe kommen. „Sie würde in vielen Bereichen über die Besetzung von Posten mitbestimmen, beispielsweise bei den Landeszentralen für politische Bildung. Noch können wir uns kaum vorstellen, was das für Kultur, Schulen, Universitäten oder die öffentlich-rechtliche Medienlandschaft bedeuten würde.“

Schritt für Schritt könnte es geschehen, dass „eine liberale Demokratie in eine Wahlautokratie“ verwandelt würde. [18] Da kann ich meinerseits nur auf das Bündnis Sahra Wagenknecht hoffen. Steffen Mau meint, dass „Minderheitsregierungen sowie bunte – erzwungene Koalitionen jenseits von Zweier- oder Dreierbündnissen“ in den neuen Bundesländern „zum Standard werden“ könnten. [19]

Gefragt sind neue Formen der Demokratie

Erst einmal interessant klingt da die Idee, die ostdeutschen Länder (regionale Unterschiede erkennt der Autor sehr wohl) zu einem „Labor der Partizipation“ zu machen. Aber wenn es eine veränderungserschöpfte Teilgesellschaft ist (freilich gibt es auch im Westen Beharrungswillen), wird es dann die Bereitschaft geben, neue Formen der Demokratie zu erproben?

Gern wird ja von einem Demokratiedefizit in den neuen Bundesländern gesprochen, ohne zu sagen, dass es sich um ein Unbehagen an der gegenwärtigen simulativen Praxis handelt. Ein Kreuzchen bei einer Partei bedeutet ja überhaupt nicht, dass deren Vertreter dann entsprechend ihren Versprechungen handeln. Im Eigeninteresse wohl, eingebunden in vielerlei Abhängigkeiten. Wenn Bürger dann etwas ändern wollen, müssen sie bis zur nächsten Wahl warten.

Gegenüber denen „da oben“ waberte in der DDR immer schon Kritik, wenn auch oft nur privat. 1989/90 hat es dann Erfahrungen demokratischer Selbstermächtigung gegeben, welche in heutigen Ansprüchen fortwirken. „Eine Revitalisierung der Parteiendemokratie alter Form ist vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich“, meint Steffen Mau. Ein starker Satz, ein hartes Urteil. Denn ein „Weiter so“ sei riskant. Speziell für Ostdeutschland müsse es darum gehen, „die Gesellschaft enger mit der Politik zu verbinden und Entscheidungs- und Partizipationsmöglichkeiten jenseits der klassischen Parteien zu vergrößern.“

Eine Möglichkeit dazu sieht er in Bürgerräten, die über Losverfahren oder Beteiligungslotterie zufällig zusammengesetzt eine Art „Mikrokosmos der Bevölkerung“ darstellen würden. Sie würden sich über politische Fragen intensiv austauschen und zu einer gemeinsamen Position finden. [20] In einem internationalen Forschungsteam hat der Autor sowas sogar schon mal ausprobiert und erlebt, wie divergierende Meinungen in der Interaktion mit anderen auch ge- und überformt werden. Die „Runden Tische“ von Abgeordneten der DDR-Regierung und Oppositionsgruppen vom Dezember 1989 bis März 1990 haben es ja vorgemacht. Aber das sind politisch Aktive gewesen, die sich ganz in diese Debatten über einstige Versäumnisse und notwendige Veränderungen in der DDR eingebracht haben. Wenn das unter heutigen Bedingungen ehrenamtlich neben der Berufstätigkeit betrieben werden sollte, dürfte das für viele Leute schwierig sein. Und werden Diäten gezahlt, leidet die Unabhängigkeit.

Es stimmt schon: Gegen „Unzufriedenheit, Protest und Radikalisierung“ müssen politische Lösungen gefunden werden. „Selbstanpassung und Selbsttransformation sind Stärken der liberalen Demokratie, sonst gäbe es bis heute kein Frauenwahlrecht und keinen Minderheitenschutz.“ [21]

Aber wären Bürgerräte nicht doch bloß Ablenkungsmanöver im Sinne der bestehenden Macht und könnten gar zu einer Instanz der Bevormundung werden? Würde ich mich von solch einem zufällig zusammengewürfelten Gremium vertreten fühlen, das im Übrigen jeglicher Instrumentalisierung offensteht?

Es mag ein interessantes Gedankenspiel sein, was solche Räte zu Flüssiggas-Terminals auf der Insel Rügen oder zum Ausbau des Tesla-Werks in Grünheide empfehlen würden oder wie sie über den Abriss des Palastes der Republik entschieden hätten, wie Steffen Mau schreibt. Allerdings kommt mir dabei auch der Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh in den Sinn, wo in einem brandenburgischen Dorf persönliche Interessen aufeinanderprallen, als eine Investorenfirma einen Windpark bauen will. [22] Wie soll es auch anders sein unter Privateigentümern? Der Gedanke des Gemeinwohls ist in dieser Gesellschaft sehr weit in den Hintergrund getreten, abgesehen davon, dass man im Einzelnen auch darüber streiten könnte.

Zur Frage der Waffenlieferung an die Ukraine und der Sanktionspolitik gegen Russland lässt es der Autor nicht kommen. Dabei dürfte er genau wissen, dass der Wunsch nach Frieden gerade in Ostdeutschland vorrangig ist. Aber die einstige Systemgrenze quer durch Deutschland hat ihre Spuren hinterlassen. Ängste aus Zeiten des Kalten Krieges und Vasallentreue zur USA bestimmen bis heute die deutsche Politik, die eben von Westdeutschen dominiert ist.

Aber wäre denn eine ostdeutsche Verteidigungsministerin willens und in der Lage, sich gegen transatlantische Interessen zu stellen? Man möchte den Kopf schütteln, sollte indes nie „nie“ sagen. Kommt vielleicht auf die Person und ihr Umfeld an. Wenn im Außenministerium gleichzeitig Verhandlungen zur europäischen, Russland einschließenden, Sicherheitsarchitektur auf der Tagesordnung stünden, brauchte nicht über Kriegstauglichkeit palavert zu werden. Parteien, die sich diesbezüglich klar positionieren, werden zumindest im Osten im Vorteil sein.

Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Edition Suhrkamp, 168 S., br., 18 €

Titelbild: DesignRage / Shutterstock


[«1] Dirk Oschmann: Der Osten eine westdeutsche Erfindung. Ullstein Verlag 2023, 222 S., geb., 19,99 €.

[«2] Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Edition Suhrkamp, 168 S., br., 18 €, S.9

[«3] Daniela Dahn: Auf Wunsch. In: Ossietzky, 5/2002

[«4] Steffen Mau, S. 8

[«5] Steffen Mau, S. 9

[«6] Steffen Mau, S.11

[«7] ebenda, 75

[«8] ebenda, S. 22

[«9] ebenda, S. 23

[«10] Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp 2019, 285 S., geb., 22 €.

[«11] Steffen Mau: Ungleich vereint, S. S. 79

[«12] ebenda, S. 83

[«13] ebenda, S. 44 f

[«14] ebenda, S. 25

[«15] ebenda, S. 91

[«16] ebenda, S. 94

[«17] ebenda, S. 103

[«18] ebenda, S. 120 ff

[«19] ebenda, S, 130 f

[«20] ebenda, 132 f

[«21] ebenda, S. 144

[«22] Juli Zeh: Unterleuten. Roman. Luchterhand 2016, 640 S., geb., 26 €.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!