Schwerverletzte palästinensische Kinder und die „Mir egal“-Haltung des Innenministeriums

Schwerverletzte palästinensische Kinder und die „Mir egal“-Haltung des Innenministeriums

Schwerverletzte palästinensische Kinder und die „Mir egal“-Haltung des Innenministeriums

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Die NachDenkSeiten hatten bereits am 3. Juli auf der Bundespressekonferenz Innenministerin Nancy Faeser gefragt, wie diese es rechtfertigt, dass ihr Ministerium das Einfliegen von 32 schwerverletzten Kindern aus Gaza für lebenserhaltende Operationen verhindert. Ein Großteil der Kinder ist mittlerweile verstorben oder nicht mehr lokalisierbar. Der Vorgang war nun erneut Thema. Die Reaktion des Sprechers des Innenministeriums zeugt von völliger Indifferenz gegenüber dem Schicksal dieser Kinder. Von Florian Warweg .

Hintergrund

In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 2. Juli mit dem Titel „Pingpong bis zum Tod“ wurde erstmals detailliert dargelegt, wie es der Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, Kerstin van Ark, gelungen war, innerhalb weniger Wochen Klinikbetten für schwerverletzte Kinder aus Gaza zu organisieren. 40 Chefärzte und Chirurgen in ganz Deutschland hatten sich bis März 2024 bereit erklärt, insgesamt 40 Kinder aufzunehmen und kostenlos zu behandeln. Für alle Kinder ist ein Platz in einem deutschen Krankenhaus und die Kostenübernahme für Behandlung und Flug garantiert.

Der Bericht führt weiter aus, dass die für die Rettungsflüge nach Deutschland ausgesuchten Kinder, bis März umfasst die Liste 32, zumeist „so gravierende Verletzungen (haben), dass es primär um lebensrettende Maßnahmen geht, etwa bei Verletzungen des Zwerchfells oder der Eingeweide“. Ein Großteil der Verletzungen seien durch Explosionen entstanden, die sowohl zu Verbrennungswunden als auch zu ausgeprägten Schäden an Weichteilgeweben, inneren Organen oder zu Verletzungen der Gliedmaßen führen, bei denen nur noch bei zeitnaher Behandlung außerhalb von Gaza Arme und Beine gerettet werden könnten.

Zunächst suchen die Organisatoren der Rettungsaktion das Gespräch mit der deutschen Botschaft in Kairo, da die Kinder über Ägypten ausgeflogen werden sollen. Mehrfach sei das Thema nach Informationen der SZ auch zwischen Kabinettsmitgliedern der Ampel diskutiert worden – ergebnislos. Das Auswärtige Amt rät, die schwerverletzten Kinder ohne familiäre Begleitperson auszufliegen. 

Dies wird angesichts der akuten Notlage dann auch tatsächlich in Erwägung gezogen. Doch kontaktierte Kinder-Hilfsorganisationen wie „Save a Child“ raten vehement davon ab. Die betroffenen Kinder seien akut traumatisiert, es müssten lebensverändernde medizinische Entscheidungen getroffen werden, für die nur Familienangehörige die Verantwortung übernehmen könnten. Auch erfahrene Kinderärzte wie etwa die stellvertretende Chefärztin der Kinderchirurgie in Hannover, Mechthild Sinnig, teilen diese Einschätzung: 

Wir halten es für unabdingbar, dass die schwer verletzten Kinder mit einer Begleitperson ausgeflogen werden, unabhängig vom Alter. Wir haben es in der Vergangenheit immer wieder erlebt, dass über andere Hilfsorganisationen Kinder ohne einen Angehörigen in ein deutsches Krankenhaus verbracht wurden und dort maximal sekundär traumatisiert wurden (bedingt durch Heimweh, Kulturschocks und Einsamkeit).

Drei Monate nach Beginn der geplanten Rettungsaktion, am 10. Juni, räumt ihnen das BMI erstmals ein Gespräch ein. Die Organisatoren hoffen endlich auf einen Durchbruch in der Visa-Frage. Doch es kommt anders. Das Ergebnis schildert die SZ als „niederschmetternd“ und führt weiter aus: 

Die Position des Ministeriums bleibt hart: Man müsse Sicherheitsrisiken bei Begleitpersonen beachten, hinzu käme eine unklare Rückkehrperspektive – man fürchtet also, Terroristen oder Asylbewerber ins Land zu holen. Auf Anfrage der SZ schreiben Innen- und Außenministerium, eine Einreise von Kindern unter zwölf Jahren zur Behandlung sei „grundsätzlich möglich“. Im Weiteren seien die Häuser in Abstimmung, „unter welchen Voraussetzungen die Einreise von Begleitpersonen realisiert werden kann, die für die Heilungsprozesse der schwer verletzten Kinder wichtig“ sind. Die Abstimmung dauert offensichtlich immer noch an.“

Frank Peter, Gründer der ebenfalls an der Aktion beteiligten Organisation Placet, die mittels Einsatz von plastischen Chirurgen weltweiten Terror- und Gewaltopfern hilft, zeigt sich im höchsten Maße verwundert über die Haltung des Innenministeriums unter Leitung von Nancy Faeser:

Wie kann es sein, dass derweil über 100 Kinder nach Italien, mehrere verletzte Kinder in die USA, nach Abu Dhabi, Algerien, Oman und Kuwait verbracht wurden und es nicht gelingt, die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen, wo doch alles organisiert ist.“

Auch die Tagesschau hat, wenn auch mit zweiwöchiger Verspätung, unter der Überschrift „Medizinische Hilfe für Kinder aus Gaza gescheitert“ über den Fall berichtet:

Mittlerweile sind von den 32 Kindern, die bis März auf der Rettungsliste für die Notfall-Behandlung in Deutschland standen, ein Großteil tot oder nicht mehr in Gaza lokalisierbar. Die Organisatorin van Ark macht sich deswegen schwere Vorwürfe: 

Hätten wir geahnt, dass es nichts wird, hätten wir viel eher gesagt: Verteilt die Kinder anders. Das ist eine Last, die wir nun tragen müssen. Dadurch, dass wir so lange warten mussten, sind jetzt Kinder gestorben, die auf unsere Hilfe warteten.“

Und was macht, wie im BPK-Video vom 3. Juli sicht- und hörbar, die verantwortliche deutsche Innenministerin? Sie hinterfragt erstmal die Anzahl der schwerverletzten Kinder aus Gaza und lehnt auch sonst jegliche Verantwortung für die Situation ab:

Wohlgemerkt, dies bei Kindern, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch mit von Deutschland nach Israel gelieferten Angriffswaffen schwerverletzt worden sind:

Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 10. Juli 2024

Frage Jäckels (Neues Deutschland)
Kerstin van Ark , eine Chirurgin, hat versucht, schwer verletzte Kinder aus Gaza nach Deutschland zu bringen. Ihre Bemühungen sind allerdings an bürokratischen Hürden gescheitert. Man wollte den Kindern und ihren Begleitpersonen die Einreise nicht gewähren. Herr Wagner, von welcher Stelle aus wurde denn diese Entscheidung getroffen, dass man die schwer verletzten Kindern eben nicht hierherholt? Welche Begründung gab es für diese Entscheidung?

Wagner (AA)
Vielen Dank, Frau Jäckels, für die Frage. – Es ist ja so, dass wir seit April mit diesen Hilfsorganisationen in engem Austausch stehen, und natürlich ist das oberste Ziel von allen Beteiligten, diesen schwer verletzten Kindern schnellstmöglich zu helfen.

Einmal vorneweg: Es ist ja heute schon so, dass die Einreise zur Behandlung für Kinder unter zwölf Jahren ohne Begleitpersonen möglich ist. Sie wissen auch, dass es ja leider seit dem 6. Mai de facto wegen der Schließung des Grenzübergangs in Rafah nicht möglich ist, aus Gaza auszureisen.

Aber natürlich verstehen wir den Frust über diese Situation, und sind da ja auch weiter dran. Wir befinden uns da in enger Abstimmung mit den Kollegen vom BMI und schauen, dass wir einen Weg finden, diesen Kindern zu helfen.

Zusatzfrage Jäckels
Könnte ich vielleicht noch einmal das BMI dazu hören? Warum wurde diese Entscheidung getroffen, den Kindern und ihren Begleitpersonen die Einreise zu verwehren?

Funke (BMI)
Ich kann den Ausführungen von Herrn Wagner hier nichts hinzufügen. Er hat umfassend dargelegt, wie sich die Situation darstellt, und die Bemühungen der Bundesregierung, da zu helfen, aufgezeigt.

Allgemein, in Bezug auf die humanitären Hilfen, die die Bundesregierung ja in Gaza leistet, haben die Kollegen des Auswärtigen Amts hier auch quasi ständig aufgezeigt, was wir da tun. Dazu kann ich nicht mehr beitragen.

Frage Warweg
Ich hatte ja letzte Woche schon an dieser Stelle nachgefragt. Da saß hier allerdings Frau Faeser, die Bundesinnenministerin. In dem vorgetragenen Fall ist von insgesamt 40 Kindern die Rede. Sie hat gesagt, ihr sei maximal eine Handvoll bekannt, und hat auch erklärt, dass sie Deutschland eigentlich nicht als zuständig ansehe, sondern eher Italien, als darauf verwiesen wurde, dass selbst Meloni, Italien, in der Lage war, 100 schwer verletzte Kinder einzufliegen. Das führt mich – – –

Vorsitzende Buschow
Erneut, Herr Warweg: Jetzt wäre eine Frage gut!

Zusatz Warweg
Ja, aber zwei Sätze der Ausführung kann man sich, glaube ich, leisten. Das machen Sie jetzt echt – – – Gerade bei dem Thema kann man ein bisschen sensibler sein!

Meine Frage ist: Bleibt die Bundesinnenministerin bei ihrer Behauptung, dass es nicht um 40 Kinder geht, sondern nur um eine Handvoll? Bleibt sie auch dabei, dass Deutschland in diesem Fall in der internen EU-Aufteilung für schwer verletzte palästinensische Kinder nicht zuständig ist, sondern hauptsächlich Italien?

Funke (BMI)
Ich habe gerade gesagt bzw. der Kollege Wagner hat gesagt, was die Bundesregierung tut, um zu helfen. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Auch dem, was die Ministerin hier gesagt hat, habe ich nichts hinzuzufügen.

Wagner (AA)
Ich kann aber vielleicht noch einmal etwas ergänzen, Herr Warweg, weil Sie in Ihrer Frage ja sozusagen sagen, wir fühlten uns nicht zuständig für Kinder in Gaza. Das ist ja mitnichten so. In der – – –

Zuruf Warweg
Ich habe die Ministerin zitiert!

Wagner (AA)
Ja, Sie haben es aufgenommen, und deshalb habe ich jetzt Ihre Frage zitiert. – Es ist ja so, dass wir mit der humanitären Hilfe, die Herr Hauck in seiner Frage schon angesprochen hatte, Organisationen wie zum Beispiel die WHO in Gaza unterstützen. Sie haben vielleicht auch davon gehört, dass es nach intensiven Bemühungen im März gelungen war, 68 palästinensische Kinder aus dem SOS-Kinderdorf in Rafah nach Bethlehem zu evakuieren. Wir messen also sozusagen der Frage, wie wir den Vulnerabelsten, und Kinder sind natürlich die Vulnerabelsten in diesem Konflikt, helfen können, wirklich viel Aufmerksamkeit zu und probieren jeden Tag, weiter Wege zu finden, denen zu helfen.

Frage Jäckels
Sie sagten jetzt mehrfach, Sie seien darum bemüht, diesen Kindern auf der Liste der Chirurgin zu helfen. Dann bleibt aber trotzdem die Frage offen, sowohl an das Auswärtige Amt als auch an das BMI, woran es denn hakt. Warum kann man denen also nicht die Einreise gewähren?

Wagner (AA)
Frau Jäckels, einen Grund habe ich ja eben schon genannt: Es ist im Moment leider so, dass man über den Grenzübergang Rafah nicht aus Gaza ausreisen kann. Allein das ist schon eine faktische Hürde, was nicht heißt, dass man vielleicht Wege findet, darum herumzukommen. Aber es ist halt einfach wahnsinnig komplex.

Zusatz Jäckels
Hier wäre die Ausreise ja möglich gewesen, und man hat von behördlicher Seite – vonseiten des BMI, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe – die Ausreise mit der Begründung verwehrt, man könne eben nicht sicherstellen, dass die Begleitpersonen überhaupt in Deutschland bleiben dürfen oder ob irgendeine Gefahr von diesen Personen ausgeht.

Funke (BMI)
Ich kann zu diesem konkreten Fall nichts weiter beitragen. Mir sind auch die Einzelheiten dazu nicht bekannt. Deswegen kann ich dazu hier nichts weiter sagen.

Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 10.07.2024