Die Militäroperation Israels im Gazastreifen geht mittlerweile in den neunten Monat und kostete bisher 40.000 Palästinensern, in der Mehrheit Frauen und Kindern, das Leben. Trotz zahlreicher, von internationalen Menschenrechtsorganisationen und den Vereinten Nationen dokumentierten Völkerrechtsverbrechen in Gaza blieb Bundeskanzler Olaf Scholz bisher bei Nachfragen unumstößlich bei seiner Haltung, Israel hielte sich „vollumfänglich“ an das Völkerrecht. Vor dem Hintergrund der neuesten Einschätzung von UN-Experten, die von einer „vorsätzlichen und gezielten“ Aushungerungskampagne Israels gegen die Einwohner von Gaza sprechen, wollten die NachDenkSeiten wissen, ob der Kanzler weiterhin bei seiner diesbezüglichen Einschätzung bleibt. Von Florian Warweg.
Hintergrund
In einer gemeinsamen Erklärung hatten zehn unabhängige UN-Experten am 9. Juli in Genf Israel die Durchführung einer „gezielten Hungerkampagne gegen das palästinensische Volk“ vorgeworfen. Darin hieß es unter anderem:
„Israels vorsätzliche und gezielte Hungerkampagne gegen das palästinensische Volk ist eine Form von völkermörderischer Gewalt und hat zu einer Hungersnot im gesamten Gazastreifen geführt.“
Der Hungertod eines kaum sechs Monate alten Babys, eines neunjährigen Jungen und eines dreizehnjährigen Jungen seit dem 30. Mai zeige, so die Experten weiter, „dass sich die Hungersnot zweifellos vom nördlichen Gazastreifen in den mittleren und südlichen Gazastreifen ausgebreitet hat“.
Die diplomatische Vertretung Israels bei den Vereinten Nationen in Genf wies die Erklärung in üblicher Weise zurück und beschuldigte die Experten, „Fehlinformationen“ zu verbreiten und „Hamas-Propaganda“ zu unterstützen.
Die widersprüchliche Haltung der Bundesregierung
Sowohl der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Christian Wagner, als auch Vizeregierungssprecherin Christiane Hoffmann gaben beide auf Nachfrage auf der Regierungspressekonferenz zu verstehen, dass sie keinen Zweifel an den Ausführungen der UN-Experten hegten. UN-Experten, die wohlgemerkt von einer „vorsätzlichen und gezielten Hungerkampagne“ sowie von „völkermörderischer Gewalt“ sprachen.
Dass die Bundesregierung einerseits verkündet, sie würde die Ausführungen der UN-Experten nicht anzweifeln, und gleichzeitig aber bei der Haltung bleibt, Israel würde sich weiterhin an das Völkerrecht halten – spricht für ein hochgradiges Maß an politischer Schizophrenie. Ob die heilbar ist?
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 10. Juli 2024
Frage Jessen (freier Journalist, Mitarbeit bei Jung & Naiv)
Herr Wagner, gestern haben die Vereinten Nationen oder Ernährungsexperten darauf hingewiesen, dass in Gaza mehrere Kinder trotz medizinischer Behandlung verhungert seien. Die UN-Experten bewerten das als eine gezielte Aushungerungskampagne Israels. Wie sieht die deutsche Hilfe in diesem Fall aus?
Wagner (AA)
Sie haben wahrscheinlich auch diesen IPC-Bericht von Ende Juni gesehen, der ja Verbesserungen im Norden Gazas festgestellt hatte, aber natürlich auch klar gewarnt hatte, dass fast eine halbe Million Menschen in Gaza von katastrophalem Hunger betroffen sind und das Risiko für eine Hungersnot in ganz Gaza sehr hoch ist.
Die Expertengruppe, die Sie jetzt ansprechen, hat sich ja vor allen Dingen, wenn ich es richtig verstehe, die Todesfälle unter den Kindern in Gaza angesehen und ist zu dem Schluss gekommen, dass sich die Hungersnot in ganz Gaza ausweitet. Sie merken schon an meinen Ausführungen, dass es da jetzt nur in Nuancen um Unterschiede gehen mag, aber wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, dass diese Angaben der Expertinnen richtig sind. Insofern ist ja unser Bemühen und das Bemühen vieler internationaler Partner, dass die Versorgungslage in Gaza dringend viel besser werden muss und diese Hilfe dort dringend ankommen muss. Das betrifft eben vor allem die vulnerablen Gruppen wie Kinder, wie stillende Mütter, wie Menschen mit Vorerkrankungen. Da stehen natürlich vor allen Dingen Israel und die israelische Regierung, aber eben auch die Hamas in der Verantwortung, humanitäre Hilfslieferungen nach Gaza zu ermöglichen.
Zusatzfrage Jessen
Wenn Sie keinen Zweifel daran haben, dass die Berichte über Hungertote – nicht im Norden Gazas, sondern jetzt auch in der Mitte und im Süden – in der Tat zutreffen, ist dann nach Ihrer Auffassung die Beschreibung der Experten korrekt, dass es sich um eine Kampagne der gezielten Aushungerung handelt?
Wagner (AA)
Nein, das mache ich mir ausdrücklich nicht zu eigen. Ich habe beschrieben, wie die humanitäre Lage in Gaza ist. Es ist natürlich so, dass es da zwei entscheidende Akteure gibt, die dazu beitragen können, diese humanitäre Lage zu verbessern. Das ist die israelische Regierung, und das ist die Hamas. Wir setzen uns, wie gesagt, mit Nachdruck dafür ein, dass das passiert, dass mehr humanitäre Hilfe hereinkommt. Ich habe, wie gesagt, den IPC-Bericht erwähnt, der ja festgestellt hatte, dass es im Norden Gazas tatsächlich zu ein paar Verbesserungen gekommen ist. Aber es ist nach wie vor so, dass die Lage katastrophal ist und dass mehr humanitäre Hilfslieferungen nach Gaza kommen müssen.
Frage Warweg
Herr Wagner hat noch einmal betont, dass es aus Sicht des Auswärtigen Amtes keinen Grund gibt, an den Ausführungen der UN-Experten zu zweifeln. Frau Hoffmann, bisher war ja die Haltung von Herrn Scholz, dass sich Israel bei seiner Operation in Gaza nach wie vor und auch nach acht Monaten Krieg voll und umfassend an das Völkerrecht hält. Bleibt denn der Kanzler auch angesichts der Ausführungen von Herrn Wagner und des neuen UN-Berichts bei dieser Einschätzung?
Vize-Regierungssprecherin Hoffmann
Wir haben ja oft geäußert, dass es sehr wichtig ist, dass humanitäre Hilfe nach Gaza kommt und dass wir uns dafür einsetzen. Das gilt selbstverständlich auch für den Bundeskanzler. Wir fordern seit längerer Zeit, dass humanitäre Hilfe in viel größeren Umfang nach Gaza hineingelassen wird. Wir teilen die Ansicht, dass es dort mittlerweile ein katastrophales Ausmaß von Hunger gibt und dass Abhilfe geschaffen werden muss. Ansonsten habe ich den Worten meines Kollegen nichts hinzuzufügen.
Zusatz Warweg
Meine Frage war allerdings: Bis vor Kurzem – bis vor zwei Wochen, wenn ich mich richtig erinnere – gab es hier auf Nachfrage die Äußerung oder die Darlegung, dass der Kanzler davon überzeugt ist, dass sich Israel nach wie vor voll und umfassend an das Völkerrecht hält. Das war meine Frage. Die haben Sie bisher noch nicht beantwortet. Wenn Sie das noch kurz beantworten könnten!
Hoffmann
Ja. Es ist klar, dass die Kriegsparteien aufgefordert sind, sich an das Völkerrecht zu halten. Das ist absolut klar. Das ist die Forderung. Die gilt.
Zusatz Warweg
(ohne Mikrofon; akustisch unverständlich)
Hoffmann
Ich habe dazu gesagt, was ich dazu sagen kann.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 10.07.2024