Der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump entging nur knapp dem Tod. Auch wenn die Hintergründe noch weitestgehend offen sind, so kam das Attentat für politisch Interessierte nicht wirklich überraschend. Vor allem deutsche Kommentatoren machten in ihren ersten Reaktionen die immer tiefere Spaltung der amerikanischen Gesellschaft für den Gewaltakt verantwortlich – natürlich nicht, ohne zwischen den Zeilen in einer lupenreinen Opfer-Täter-Umkehr Trump selbst für die Zustände verantwortlich zu machen, die sich nun in einem Gewaltakt gegen ihn entluden. Ist die dramatische Spaltung der Gesellschaft und die politische Verrohung tatsächlich nur ein amerikanisches Phänomen? Sicher nicht. Wenn sich die Entwicklung in Deutschland nicht bald wieder einfangen lässt, könnten auch deutsche Politiker schon bald Opfer derartiger Attentate werden – und zwar von allen Parteien, denn die Hetze kommt ebenfalls von allen Seiten. Ein Kommentar von Jens Berger.
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Natürlich ist es einfach, jetzt von den „Verrohten Staaten von Amerika“ zu schreiben, wie es der SPIEGEL in einem Leitartikel macht. Die USA sind ein gewalttätiges Land – nach außen wie nach innen. Die amerikanische Kultur fußt auf Gewalt, liberale Waffengesetze tun ihr Übriges. Auch die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft ist sehr real, sie kommt jedoch nicht – wie vielfach vor allem in Deutschland behauptet wird – nur von rechts und ist beileibe keine reine Folge von Trumps in der Tat häufig gewalttätiger Rhetorik. Auch die großen, sich selbst als linksliberal oder progressiv bezeichnenden Medien, tragen ihren Teil zur Spaltung und Verrohung bei. Wer Trump immer wieder als möglichen zweiten Hitler darstellt, muss sich nicht wundern, wenn er damit einen selbsternannten zweiten Elser oder Stauffenberg produziert. Zu einer Spaltung gehören immer zwei Seiten und die Analyse, wer wieviel zu dieser Spaltung beigetragen hat, ist äußerst komplex; zu komplex für das infantile Gut-Böse-Schema, auf das Medien und Meinungsmacher gerne zurückgreifen.
Aber ist das in Deutschland wirklich so großartig anders? Im letzten Jahr hat es laut BKA-Statistik schließlich auch ganze 234 Gewaltdelikte gegen Politiker der großen Parteien gegeben – Tendenz stark steigend. Mit 86 Gewaltdelikten ist übrigens die AfD am stärksten davon betroffen, was die sowohl für die USA als auch für Deutschland gern vorgebrachte These, Spaltung, Verrohung und Gewalt gingen immer nur von rechts aus, ad absurdum führt. Gehetzt wird von überall und im Ergebnis macht es keinen großen Unterschied, ob die Hetze von rechten Wutbürgern auf X oder Telegram oder von linksliberalen Leitartiklern und öffentlich-rechtlichen „Satirikern“ kommt.
Wer würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass nicht demnächst ein verwirrter Rechter die Welt vor der „linksgrünen Ökodiktatur“ retten will, indem er einen Anschlag auf Annalena Baerbock oder Robert Habeck verübt? Und wer würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass nicht auch ein verwirrter Linker die Welt vor einer „zweiten Machtergreifung der Nazis“ retten will, indem er Björn Höcke oder Alice Weidel erschießt? Wer sich den allgegenwärtigen Hass – nicht nur – in den (a)sozialen Netzwerken anschaut, dem fehlt hier sicher nicht die nötige Fantasie.
Verrohung und Spaltung von rechts sind allgegenwärtige Themen im politischen Diskurs. Geschenkt. Doch dass die sogenannte politische Mitte mit ihrem Extremismus da keinen Deut besser ist, spielt offenbar keine Rolle. Oskar Lafontaine hatte heute morgen auf den NachDenkSeiten erst darauf hingewiesen. Man muss die AfD – um Himmels Willen – ja nicht mögen, aber das ewige Gerede von einer Machtübernahme mit Anleihen aus der Weimarer Republik ist nicht nur unterkomplex, sondern auch eine hysterische Übertreibung. Wer dieses Spiel mitmacht, darf sich auch nicht beschweren, wenn einer der „Millionen“ Menschen, die in unregelmäßigen Abständen „gegen rechts“ auf die Straße gehen, in die Geschichte eingehen will, indem er die prophezeite zweite Nazi-Diktatur mit einem Gewaltakt verhindert. Einzig das vergleichsweise restriktive deutsche Waffengesetz mag hier noch eine Hürde darstellen.
Ja, auch in Deutschland müssen wir diese Spaltung bekämpfen und nicht nur verbal abrüsten. Aber das gilt für beide Seiten, auch die, die in ihren gediegenen Redaktionsbüros sitzen, heute die Verrohung und Spaltung der amerikanischen Gesellschaft beklagen und morgen schon den nächsten Leitartikel schreiben, mit dem sie Benzin ins Feuer gießen und ihren Teil zur Verrohung und Spaltung der deutschen Gesellschaft beitragen. Und letzten Endes sind hier allen voran auch die Politiker selbst gefragt, die in Wort und Tat als Biedermann und Brandstifter das politische Klima vergiften. Das Trump-Attentat war der – vielleicht letzte – Warnschuss.
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Titelbild: Screenshot Tagesthemen