Chronischer Rechtsbruch: Das BAföG geht nach ewiger Magerkur an die Existenz

Chronischer Rechtsbruch: Das BAföG geht nach ewiger Magerkur an die Existenz

Chronischer Rechtsbruch: Das BAföG geht nach ewiger Magerkur an die Existenz

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Das Berliner Verwaltungsgericht hält die Leistungen der Bundesausbildungsförderung für „evident zu niedrig“ und rügt einen doppelten Verfassungsverstoß. Sowohl dem Regelsatz als auch dem Unterkunftsbedarf fehle der Realitätsbezug. Für Abhilfe sollte laut Beschluss die Gleichstellung des BAföG mit dem Bürgergeld sorgen – ein Paukenschlag. Final entscheiden müssen darüber die „Hüter des Grundgesetzes“ in Karlsruhe. Die lassen sich allerhand Zeit. Von Ralf Wurzbacher.

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Vor einem Monat beschloss der Bundestag die 29. Novelle des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG), die zum kommenden Wintersemester in Kraft treten wird. Für Kritiker fällt die Reform kümmerlich aus – wieder einmal. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) musste sich förmlich dazu prügeln lassen, wenigstens ein kleines Plus bei den Bedarfssätzen im Umfang von fünf Prozent zu gewähren. Das ist nicht nur angesichts der über zweijährigen Hochinflationsphase ungenügend. Womöglich sind die BAföG-Leistungen schon in sehr viel längerer Rückschau zu gering kalkuliert. So lange, dass womöglich sogar ein chronischer Rechtsbruch vorliegt.

Mit einem am Dienstag der Vorwoche veröffentlichten Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts (VG) erhärtet sich dieser Verdacht. Der Gesetzgeber habe sowohl mit der konkreten Festlegung des Grundbedarfs als auch des Unterkunftsbedarfs „die Gewährleistung eines ausbildungsbezogenen Existenzminimums verfehlt“, heißt es in einer begleitenden Presseerklärung. Der fragliche Entscheid war bereits Anfang Juni ergangen und bezieht sich auf einen Streitfall, bei dem es um die Höhe der BAföG-Zuwendungen im Zeitraum von Oktober 2021 bis September 2022 geht. Geklagt hatte eine Medizinstudentin der Charité, die die seinerzeit bewilligten Bedarfssätze „in verfassungswidriger Weise“ als zu niedrig bemessen erachtet. Dennoch geht es um mehr als nur „Vergangenheitsbewältigung“. Vielmehr steht die Frage im Raum, ob die staatliche Ausbildungshilfe im Allgemeinen, also auch heute, hinter den Erforderlichkeiten zurückbleibt.

Nicht unters Existenzminimum

Die Brisanz der Angelegenheit offenbart die Überschrift, mit der die VG-Mitteilung überschrieben ist. „BAföG für Studierende darf nicht geringer sein als Bürgergeld.“ Damit folgen die Richter dem Antrag der Klägerin, wonach das BAföG in der Höhe mit der Grundsicherung für Arbeitssuchende, dem heutigen Bürgergeld, gleichzustellen ist. Rekurrierend auf den 2021 geltenden BAföG-Grundbedarf von 427 Euro halten sie in ihrem Beschluss fest, dieser sei „signifikant niedriger als der Satz für den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts, den das Zweite Buch Sozialgesetzbuch für die hier maßgebliche Regelbedarfsstufe 1 vorsieht“. Und weiter: „Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es verfassungsrechtlich geboten, die Untergrenze eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zu unterschreiten (…).“

Das ist eine krachende Ansage. Aber keine, auf die die Politik unmittelbar reagieren müsste. Das Gericht ist nämlich „nicht befugt, die Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes selbst festzustellen“. Das obliegt dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG), wohin die 18. VG-Kammer die Streitsache dann auch zur finalen Klärung verwiesen hat. Dabei wartet in Karlsruhe bereits ein ganz ähnlich gelagerter Fall seit über drei Jahren auf eine Entscheidung. Den entsprechenden Vorlagebeschluss hatte im Mai 2021 sogar das Bundesverwaltungsgericht (BVervG) mit Sitz in Leipzig gefasst. Dabei ging es um den Fall einer Psychologiestudentin aus Osnabrück, die den BAföG-Bedarfssatz im Studienjahr 2014 (373 Euro) als grundgesetzwidrig angefochten hatte.

Nachhaltig entwertet

Zwar verneinten die Leipziger Richter seinerzeit einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dafür argumentierten sie mit der verfassungsmäßig verpflichtenden Gewährleistung eines „ausbildungsbezogenen Existenzminimums“, wie es sich aus den Grundgesetzartikeln 12 (freie Wahl der Ausbildungsstätte), 3 (Gleichheitsgrundsatz) und 20 (Sozialstaatsprinzip) ableiten würde. Bei der konkreten Festlegung des strittigen Bedarfssatzes sei der Gesetzgeber „hinter den verfassungsrechtlichen Anforderungen (…) zurückgeblieben“, heißt es im Entscheid. Dabei lasse das gewählte Berechnungsverfahren im „Unklaren“ (…), zu welchen Anteilen der Pauschalbetrag auf den Lebensunterhalt einerseits und die Ausbildungskosten andererseits entfällt und diese abdecken soll“. Zudem fehle es an einer „zeitnahen Ermittlung des entsprechenden studentischen Bedarfs“, weil „der Festsetzung aus dem Jahre 2010, die bis 2016 galt, eine Erhebung aus dem Jahr 2006 zugrunde(lag)“.

Die Einwände lassen sich so übersetzen: Die Politik rechnet den studentischen Bedarf seit bestimmt zwei Jahrzehnten systematisch klein und hat das BAföG damit nachhaltig entwertet. Joachim Schaller, der die beiden Klägerinnen anwaltlich vertritt, hat den Substanzverlust anhand der Inflationsentwicklung innerhalb eines halben Jahrhunderts nachgezeichnet. Ausgehend von einem Preisindex von 100 im Jahr 1970 kletterten die Preise demnach bis 2019 auf einen Wert von 341, während der BAföG-Satz mit 273 weit hinterherhinkt. Faktisch hat sich die Kaufkraft von BAföG-Beziehern mit jeder Reform weiter verflüchtigt. Die Folge: Die Zuwendungen reichen längst nicht mehr zum Leben, obwohl es einmal der Anspruch war, mit der Förderung frei von finanziellen Sorgen studieren zu können. Vor allem deshalb, verbunden mit dem Verschuldungsrisiko (BAföG wird zur Hälfte als Darlehen ausgezahlt), ist die Förderquote massiv eingebrochen. Heute nutzen das Instrument gerade noch zwölf Prozent der Studierenden.

Arm studiert es sich schwer

Das alles in kein Versehen, sondern „Absicht“, wie der studentische Dachverband fzs anlässlich des VG-Beschlusses beklagte. Auch die Ampelkoalition wolle „keinen realistischen Etat unter Berücksichtigung eines existenzsichernden BAföGs festsetzen, stattdessen profiliert man sich lieber mit einem scheinbar schlanken Haushalt“, monierte Vorstandsmitglied Rahel Schüssler. Tatsächlich beanstandet das Verwaltungsgericht eine ganze Reihe an „schwerwiegenden methodischen Fehlern“ bei der Ermittlung der Fördersätze. Zum Beispiel würden „fehlerhaft als Referenzgruppe solche Studierendenhaushalte miteinbezogen, die lediglich über ein Einkommen in Höhe der BAföG-Leistungen verfügten“. Es fehle zudem an einer Differenzierung verschiedener Kostenarten, etwa denen für den Lebensunterhalt und denen für die Ausbildung. Außerdem versäume es die Regierung, die Bedarfssätze „zeitnah an sich ändernde wirtschaftliche Verhältnisse“ anzupassen. Es sei „unglaublich, dass zwei verschiedene Gerichte in unterschiedlichen Fällen Verfassungswidrigkeit erkennen, ein Handeln auf Bundesebene jedoch ausbleibt“, befand Rahel Schüssler vom fzs.

In der öffentlichen Diskussion hört man häufig, ein Studium sei Sprungbrett zu einer lukrativen Karriere und ein Leben auf Sparflamme für wenige Jahre daher durchaus zumutbar. Aber: Wer in Armut leben muss – nach einer neueren Untersuchung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes trifft dies auf 36 Prozent aller Hochschüler in Deutschland zu –, studiert nicht sorgenfrei, muss in aller Regel jobben gehen, um über die Runden zu kommen, und kann sich vieles nicht leisten, was für ein gedeihliches Studieren nötig ist (Technik, Bücher, gesunde Ernährung). Dass heute fast 30 Prozent ihr Studium vorzeitig abbrechen und immer mehr unter psychischen Problemen leiden, hat fraglos auch mit dem gestiegenen materiellen Druck zu tun. Das ist nicht nur im Einzelfall bedauerlich, sondern verursacht obendrein erhebliche volkswirtschaftliche Schäden: Jeder Studienplatz kostet Geld, die Gescheiterten rutschen mithin in die soziale Bedürftigkeit ab und vielerorts herrscht Fachkräftemangel.

Bürger dritter Klasse

Deshalb sollte man die Ampelregierung beim Wort nehmen. Die definiert das von ihr eingeführte Bürgergeld, vormals Hartz IV, als soziokulturelles Existenzminimum. Aktuell beläuft sich der Grundbedarf auf 563 Euro, der beim BAföG auf bloß 452 Euro. Das ist ein Abstand von 111 Euro. Wenn im Herbst die Reform greift, werden es immer noch satte 88 Euro sein. Dabei stuft das Berliner VG schon eine Lücke von 19 Euro als nicht mehr rechtens ein. 2021 betrug der Hartz-IV-Satz 446 Euro, während es beim BAföG 427 Euro waren. Die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II sind den BAföG-Hilfen binnen nur drei Jahren in Riesenschritten enteilt. Es ist nicht einzusehen, dass man Studenten geringere Bedürfnisse unterstellt, obwohl sie wie jeder andere Mensch essen, trinken und ein Recht haben müssen, zumindest in Grenzen am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Um diese Ansprüche ist es schon bei Bürgergeld-Empfängern nicht gut bestellt.

Ungleich und ungerecht geht es auch in puncto Wohnen zu. Zwar soll die BAföG-Mietpauschale für außerhalb des Elternhauses lebende Studierende demnächst von 360 Euro auf auf 380 Euro steigen. Aber auch das deckt die realen Kosten in den seltensten Fällen. Die VG-Richter hatten die Lage im Sommersemester 2021 zu prüfen, als der Zuschuss bei 325 Euro lag. Auch das, so ihre Einschätzung, wäre „evident zu niedrig gewesen, weil seinerzeit „bereits 53 Prozent der Studierenden monatliche Mietausgaben von 351 Euro aufwärts gehabt hätten, dabei knapp 20 Prozent zwischen 400 Euro und 500 Euro sowie weitere rund 20 Prozent mehr als 500 Euro“.

760 Euro für WG-Zimmerchen

Inzwischen haben sich die Dinge weiter zugespitzt. In München zahlt ein Student gegenwärtig im Schnitt 760 Euro für ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft, im bundesweiten Mittel sind es 479 Euro. Wer sich das als BAföG-Empfänger leisten muss, da die städtischen Wohnungsmärkte praktisch überall komplett überhitzt sind, knapst im Durchschnitt vorneweg 100 Euro von seinem Regelsatz ab, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber die amtlichen BAföG-Berechner interessiert das nicht. Der Berliner Richterbeschluss könnte hier wegweisend sein oder, laut Anwalt Schaller, „bedeutsam werden“. Wie er im Gespräch mit den NachDenkSeiten hervorhob, „ist erstmals auch die Höhe beziehungsweise die Bemessung des Unterkunftsbedarfs als verfassungswidrig erkannt worden“. So beziffere die Düsseldorfer Tabelle, die in Fragen des Unterhaltsrechts von Studierenden herangezogen wird, den Wohnkostenaufwand mit 410 Euro. Das sind immerhin 30 Euro mehr als das, was demnächst BAföG-Geförderten zusteht.

Kritiker fordern schon sehr lange, die BAföG-Wohnzulage an den Bedingungen der örtlichen Wohnungsmärkte auszurichten. Das VG liefert dafür eine Steilvorlage. „Die Pauschalierungsbefugnis des Gesetzgebers finde bei der Gewährleistung des existenziellen und ausbildungsbezogenen Unterkunftsbedarfs (…) jedenfalls dann eine verfassungsrechtliche Grenze, wenn – wie 2021 – die durchschnittlichen Unterkunftskosten Studierender im Vergleich der Bundesländer bis zu 140 Euro differieren“, heißt es in besagter Mitteilung. Zuversichtlich macht das Schaller mit Blick auf ein kommendes höchstrichterliches Urteil. „Unter Gleichheitsgesichtspunkten ist es geboten, dass es im BAföG, ähnlich wie beim Wohngeld, unterschiedliche Mietenstufen gibt und je nach Wohnort angemessene Mieten berücksichtigt werden.“

Hängepartie

Höchste Zeit zu handeln, sieht auch das Deutsche Studierendenwerk (DSW). „Zwei Gerichte bestätigen, was leider seit tatsächlich Jahrzehnten klar ist. Das BAföG hinkt heillos hinter der Entwicklung von Preisen, Inflation, Mieten und Einkommen hinterher“, gab Verbandschef Matthias Anbuhl in einem Pressestatement zu bedenken. Das BAföG werde schon viel zu lange „vernachlässigt und viel zu wenig gestärkt. Es ist und bleibt aber eine kulturelle Errungenschaft unseres Sozialstaats und das wichtigste Instrument für mehr Chancengleichheit im sozial nach wie vor stark selektiven Hochschulsystem.“

Wann sich allerdings das Bundesverfassungsgericht des Themas annimmt, steht in den Sternen. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Planmäßig hätte die Vorlage aus Leipzig schon 2023 behandelt werden sollen, woraus nichts wurde. Rechtsanwalt Schaller hegt trotzdem leise Hoffnungen, dass es noch in diesem Jahr klappt. Auch Andreas Keller, Vizevorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), baut auf baldigen höchstrichterlichen Beistand. „Die Ampel steuert mit ihrer knausrigen Reform auf eine Klatsche aus Karlsruhe zu“, sagte er den NachDenkSeiten. „Diese kann sie nur vermeiden, wenn sie schnellstmöglich eine 30. Novelle auf den Weg bringt und so für eine kräftige Erhöhung von Bedarfssätzen und Wohnpauschale sorgt. Alles andere wäre ein bildungs- und sozialpolitisches Armutszeugnis.“

Und wie geht man im zuständigen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem „blauen Brief“ vom Berliner VG um? Keine Reaktion! Eine Anfrage der NachDenkSeiten blieb unbeantwortet.

Titelbild: Shutterstock / M. Schuppich

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