Reiner Braun zum NATO-Gipfeltreffen: „Das alles ist Kriegsvorbereitung pur“

Reiner Braun zum NATO-Gipfeltreffen: „Das alles ist Kriegsvorbereitung pur“

Reiner Braun zum NATO-Gipfeltreffen: „Das alles ist Kriegsvorbereitung pur“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Was in der militaristischen Begeisterung vergessen wird: Raketen sind auch Magneten. Je mehr Deutschland in ein Waffenarsenal verwandelt wird, umso mehr wird es strategisches Angriffsziel“ – das sagt Reiner Braun im Interview mit den NachDenkSeiten. Braun, ein Urgestein der Friedensbewegung, war beim aktuellen NATO-Gipfel in den USA vor Ort, um gegen das Bündnis zu demonstrieren. Im Interview rechnet Braun schonungslos mit dem „Kriegsbündnis“, wie er es nennt, ab. „Für die Rüstungsindustrie“, so Braun, sei die NATO „natürlich ein Erfolg, ein Elixier der Selbsterhaltung“. Für alle aber, die Frieden wollten, „ist das militaristische NATO-Militärbündnis eine Gefahr“. Auch deshalb müsse Deutschland „politisch der Friedenslogik und nicht der Kriegslogik folgen“ und die NATO verlassen. Ein Interview von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Marcus Klöckner: Herr Braun, gerade wurde bekannt, dass die USA Langstreckenwaffen in Deutschland stationieren wollen. Was sind Ihre Gedanken?

Reiner Braun: Die Eskalationsdynamik per se ist dieser Beschluss, bringt er doch Europa zurück zur brandgefährlichen Situation von 1983. In fünf bis sieben Minuten können diese landgestützten Mittelstreckenraketen Moskau erreichen, sie sind konventionell und atomar bestückt für den Erstschlag geeignet, ebenso wie die neu zu stationierenden Dark Eagle und die Hyperschallflugzeuge. Gemeinsam mit Frankreich und Spanien sollen die Mittelstreckenraketen weiter- bzw. neu entwickelt werden, für Jahrzehnte ist eine hemmungslose Aufrüstung geplant. Mit der Entwicklung eines gemeinsamen militärisch-industriellen Komplexes beiderseits des Atlantiks zur Produktion von neuen und mehr Waffen und Munition wird ein weiterer Schritt der umfassenden militärischen Zusammenarbeit gegen Russland und China geplant. Das alles ist Kriegsvorbereitung pur. Dieser Gipfel war ein Kriegsgipfel und bringt uns der Katastrophe ein ganzes Stück näher. Die militärische Antwort Russlands und Chinas wird erfolgen. Die Eskalationsspirale dreht sich. Die Friedensbewegung ist gefordert, eine umfassende politische Antwort auf den Straßen und Plätzen der Republik zu geben, umfassend in der Ablehnung des Gesamtprogramms der Kriegsvorbereitung. Die bundesweite Demonstration am 3. Oktober bekommt eine noch größere Bedeutung, aber auch die Aktionen am 6. August und am 1. September, dem Antikriegstag. Aber mehr ist notwendig! Diese Beschlüsse sind verheerend und eine Provokation für jede und jeden, der ein Friedensherz hat.

Wie verhält sich die deutsche Politik in Anbetracht dieser Entwicklung?

Die Zustimmung zur Stationierung von Langstreckenraketen, die weit nach Russland hinreichen, und die hemmungslose Aufrüstung, die den deutschen Kriegsetat auf weit über 90 Milliarden ansteigen lässt, zeigen, wes Kind die deutsche Politik ist. Sie kann nur als kriegsfördernd und militaristisch bezeichnet werden. Die Bundesregierung treibt mit der Entwicklung neuer Waffensysteme bei Panzern und Flugzeugen die technologische Aufrüstung weiter voran. Innenpolitisch werden von Bildung über Wissenschaft bis Gesundheit und Infrastruktur gesellschaftliche Bereiche militarisiert. Diplomatie ist für diese Regierung, aber auch für die Mehrheit der Opposition ein Fremdwort, Abrüstung geradezu ein Schimpfwort.

Diese Regierung muss so schnell wie möglich abgelöst werden! Eine andere Politik kann aber nur durch ein weit größeres Engagement der Betroffenen und engagierter Teile der Bevölkerung erreicht werden.

Gerade hat der NATO-Gipfel in den USA stattgefunden. Wie ordnen Sie das Treffen ein?

Es war der Gipfel zum 75. Geburtstag der NATO, schon das zeigt seine Bedeutung. Es ist aber besonders ein Gipfel, der die neue, die „GLOBALE NATO“, das mächtigste Militärbündnis in der Geschichte der Menschheit präsentiert. NATO als ‚nordatlantischer Militärzusammenschluss‘ ist lange vorbei, das Wort ist eigentlich schon länger eine Lüge.

Wie meinen Sie das?

Bei diesem Gipfel ging es um die militaristische Kriegspräsentation der 32 Euroatlantischen NATO-Länder mit ihren globalen Partnern: Japan, Südkorea, Philippinen, Singapur, Australien und Neuseeland. Mit all diesen Ländern gibt es kooperative Partnerschaftsabkommen oder auch regionale Militärallianzen (wie AUKUS, Japan/Südkorea/US-Bündnis), die gemeinsame Aufrüstung, gemeinsame Kriegsmanöver und gemeinsame Feindbilder beinhalten. Die Namen der Länder zeigen schon, worum es der NATO geht – um die Einkreisung Russlands und Chinas. Die aggressive Politik gegenüber China steht neben dem Ukrainekrieg auch im Mittelpunkt der Diskussionen. Die Präsidenten oder Premierminister der genannten Länder nahmen an dem Gipfel teil.

Zum Ende des Treffens gab es ein Schlussdokument.

Ein Schlussdokument, das meines Erachtens geprägt ist von einer aggressiven Kriegssprache. Das ist bezeichnend und unterstreicht die Rolle der NATO.

Nämlich?

Hemmungslose und immer gefährlichere Aufrüstung in Europa mit neuen, auch atomar nutzbaren Mittelstrecken und Hyperschallwaffen, das Setzen auf „Sieg in der Ukraine“, die Formulierungen zum (noch) kalten Krieg zu China. Auffallend ist die immer wiederkehrende Forderung, dass die Gesellschaften der NATO-Länder kriegstüchtig und kriegswillig gemacht werden sollen – durch Feindbildpropaganda bisher ungekannten Ausmaßes und durch eine umfassende innere Militarisierung. Das Eigenlob der NATO stinkt zum Himmel, vergessen ist das Afghanistan-Fiasko.

Die Politik aller NATO-Staaten und -Verbündeten eint eine wahnsinnige Aufrüstungspolitik. Salopp gesagt, die zwei Prozent des NATO-Gipfels von Wales 2014 sind perdu, es geht mit rasanter Geschwindigkeit in immer mehr Ländern Richtung drei Prozent. 1,34 Billionen Dollar Rüstungsausgaben 2023 sind nur ein Zwischenschritt. Es geht um die umfassende Modernisierung, besser: Neuausrichtung der Atomwaffen, bei der diese immer kleiner und zielgenauer werden sollen. Es geht, um es in einem Satz zu sagen, um weitere umfassendere Kriegsvorbereitung. Das Wort, das auf diesem Gipfel keine Rolle und keinen Platz hat, ist Diplomatie. Alles ist erschreckend und wirklich hochdramatisch gefährlich.

Die NATO selbst ist das größte Sicherheitsrisiko!

Sie waren vor Ort. Warum? Was haben Sie gemacht?

Wann wenn nicht jetzt ist Protest und Widerstand notwendig. Mit anderen internationalen Kolleginnen und Kollegen habe ich an dem Gegengipfel „No to NATO – yes to peace“, an der Kundgebung vor dem Weißen Haus und an Aktionen vor den Tagungsgebäuden der NATO teilgenommen. Das internationale Netzwerk „No to war – no to NATO“ war ein wesentlicher Organisator zusammen mit vielen US-Organisationen. Besonders „World beyond war“ und „codepink“. Die Aktionen waren inhaltsreich, vielfältig und spannend, aber – auch das muss gesagt werden – bei der Größe der Teilnehmerzahlen bei Weitem nicht den Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, entsprechend. Sie waren, dies gilt besonders für die Kundgebung, viel zu klein. Hier stehen wir als internationale Friedensbewegung noch vor großen Herausforderungen. Wir müssen mehr, intensiver und besser mobilisieren – dies gilt – auch das ist ein Ergebnis unserer Diskussionen für fast überall auf der Welt. Deutlich war, dass Protest gegen einzelne Kriege und Verbrechen wie den Krieg Israels mit Unterstützung der USA und Deutschlands gegen die Palästinenser noch keine umfassende Mobilisierung gegen das verantwortliche Kriegsbündnis NATO bedeutet. Hier haben wir noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, sicher gerade auch in Deutschland. Nach Umfragen haben immer noch 72 Prozent der Bundesbürger eine positive Meinung zu dem Kriegsbündnis.

Was ist das für ein Weg, den die NATO im Hinblick auf Russland eingeschlagen hat?

Das Schlussdokument von Washington ist da ganz eindeutig: neue, auch atomar einsetzbare Mittelstreckenraketen nach Europa. Wir erinnern uns an die Situation 1983: Auch atomar nutzbare Erstschlagswaffen werden in Deutschland stationiert. Russische Gegenmaßnahmen sind angekündigt. Hyperschallwaffen sollen das Arsenal schneller Kriegführung ebenso ergänzen wie erneut US-Atomwaffen in Großbritannien. Weitere umfassende Aufrüstung, bis zu 50 neue Brigaden, Vervierfachung der Luftabwehr, Truppenstationierung an der russischen Grenze, siehe 5000 deutsche Soldaten in Litauen, neue Militärbasen besonders in Rumänien sind weitere vereinbarte bzw. bestätigte Maßnahmen der NATO.

Es ist ein Weg, der mindestens eine atomare Eskalation nicht ausschließt.

Was bedeutet die Aufrüstung für Deutschland seine Bürger?

Butter und Kanonen sind noch nie zusammengegangen! So auch jetzt. Die deutsche Industrie fordert ein Investitionsprogramm von 400 Milliarden Euro, die Gewerkschaften treten schon lange dafür ein. Wir alle wissen, die Deutsche Bahn ist kaputtsaniert worden, der öffentliche Nahverkehr vor allem auf dem Land ein Fiasko. Das Gesundheitswesen ist mehr eine Krankenverwaltungsinstitution, überall fehlt das Geld. Die berühmten stinkenden Toiletten in den Schulen sind nur ein Sinnbild für fehlendes Geld in der Bildung, Universitäten und Hochschulen bedürfen dringend einer Grundrenovierung. Umwelt und Klima verlangen nach gewaltigen Investitionen, die nicht auf dem Rücken der arbeitenden Menschen beschafft werden dürfen. Kitas, Altenpflege, alle sozialen Bereiche erfordern eine massive finanzielle Verbesserung – nicht zuletzt für die, die dort täglich arbeiten. Dies geht nur durch die Kürzung des 90 bis 100 Milliarden schweren Rüstungsetats – auch, weil durch eine weniger militaristische Politik wieder Kraft und Wille für die zivile Gestaltung der Zukunft eröffnet wird. Dann kann eine Debatte über die sozial-ökologische Transformation bestimmend wirken und nicht hemmungsloser Militarismus. Es geht also um eine prinzipielle Weichenstellung: Bildung statt Bomben, Soziales statt Rüstung. Deshalb auch die große bundesweite Demonstration am 3. Oktober in Berlin.

Von NATO-Befürwortern heißt es, die NATO sei eine Erfolgsgeschichte. Mehr Mitglieder, der Militarismus tritt in den Vordergrund. Darüber freuen sich einige. Wie sehen Sie das?

Für alle, die glauben, dass mehr Waffen Frieden schaffen, ist die NATO mit nun 32 Mitgliedsorganisationen und einem massiven Einfluss in reaktionären Ländern Asiens erst einmal oberflächlich ein Erfolg. Für die Rüstungsindustrie ist die NATO natürlich ein Erfolg, ein Elixier der Selbsterhaltung. Für alle, die Frieden wollen, ist das militaristische NATO-Militärbündnis eine Gefahr, weil NATO immer mit Krieg verbunden ist. Wir haben zurzeit 20 Kriege und ungefähr 200 bewaffnete Konflikte. Viele sind verbunden (direkt oder indirekt) mit Interventionen von NATO-Staaten oder kolonialen Erben, die mit NATO-Staaten eng verbunden sind. Geflüchtete sind oft die Opfer und Folgen dieser Kriege und Interventionen. Alle, die soziale Gerechtigkeit anstreben, müssen der NATO kritisch gegenüberstehen. Die ca. 1,5 Billionen Euro, die die NATO-Staaten für Rüstung ausgeben, fehlen bei der sozialen Entwicklung, fehlen bei Bildung und Gesundheit. Vergessen werden sollte niemals, dass die NATO auch ein immenser Klimakiller ist, und zwar durch die vielen Manöver, die ganze Fliegerei, die Aufrüstung auch schon im Frieden. Wäre die NATO ein Staat, läge er an sechster Stelle der größten Klimasünder. Also eine Erfolgsgeschichte, die sich an humanistischen idealen orientiert, ist die NATO sicher nicht, eher das Gegenteil, und das wirft immer wieder die Frage auf: Müssen wir diesen hoch aggressiven Dinosaurier nicht schnell loswerden?

Soll Deutschland überhaupt noch länger Mitglied in der NATO sein?

In der Konsequenz, dass wir politisch der Friedenslogik und nicht der Kriegslogik folgen sollten, müssen wir die NATO als Institution überwinden, und ein Austritt Deutschlands aus der NATO würde dieses sicher fördern. Möglich ist dieses – Frankreich hat es mit dem Austritt aus den militärischen Strukturen in den 60er-Jahren bewiesen. Der Deutsche Bundestag müsste diesen Austritt beschließen, und ein Jahr, nachdem dieser Beschluss der Regierung der Vereinigten Staaten mitgeteilt würde, tritt er in Kraft, und Deutschland würde die Vertragsorganisation verlassen.

Wachsende Teile der Friedensbewegung fordern dieses entsprechend der Friedenslogik, der sie sich verbunden fühlt. Einfach ist dieses nicht, 72 Prozent der Bevölkerung unterstützen nach den Umfragen die NATO, eine Mehrheit im Parlament ist nicht in Sicht (vorsichtig formuliert). Deswegen scheint mir die Hauptaufgabe zurzeit zu sein, die NATO-Politik mit allen ihren – in der Bevölkerung weitgehend unbekannten – kriegerischen und sozialen Konsequenzen immer wieder zu delegitimieren, um eine wirkliche Anti-NATO-Stimmung in der Bevölkerung zu schaffen. Ohne dass wir die berühmte kulturelle Hegemonie gemäß Gramsci in dieser Frage haben, werden wir den Austritt sicher nicht durchsetzen.

Leider denkt ein wesentlicher Teil der Bevölkerung (auch viele Linke) immer noch, die NATO würde unsere Sicherheit gewährleisten. Dabei wird vergessen: Zentraleuropa ist industriell strukturell nicht zu verteidigen, die Zerstörungen würden die Infrastruktur und die Umwelt absolut „un-lebenswert“ machen – auch ohne Atomwaffen. Dazu reichen die Zerstörungen der Kernkraftwerke und der Chemiewerke vollständig aus. Was in der militaristischen Begeisterung vergessen wird: Raketen sind auch Magneten. Je mehr Deutschland in ein Waffenarsenal verwandelt wird, umso mehr wird es strategisches Angriffsziel. Alles, was wir anderen antun, kommt auf uns zurück und zerstört, was verteidigt werden sollte. Atomwaffen würden das Ende in Europa, den atomaren Holocaust bedeuten. Europa kann nicht militärisch, sondern nur politisch gemeinsam „verteidigt“ werden. Deshalb ist die Politik der gemeinsamen Sicherheit die Überlebensgarantie für eine friedliche Zukunft.

Angenommen, Donald Trump wird wieder US-Präsident. Wie sieht es dann mit der NATO aus?

Ein Präsident Donald Trump ist alles, nur kein Friedenspräsident. Er hat eine klare Prioritätensetzung, und diese heißt, mit aller politischen, ökonomischen und militärischen Kraft einen Krieg gegen China, das er für die Hauptgefahr der US-Hegemonie hält, aktiv vorzubereiten, ja führen zu können. In diesem Sinne möchte er die USA aus dem Krieg in der Ukraine rausziehen und diesen entweder beenden oder ihn den Europäern überlassen. Diese sollen viel stärker aufrüsten als jetzt. Dazu benutzt er die NATO – wie schon in seiner ersten Amtszeit – und einen angeblichen NATO-Rückzug als Erpressungsinstrument. Sein Ziel – formuliert von ihm und seinen wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Beratern – ist mindestens drei Prozent Bruttosozialprodukt für Rüstung und aktive Kriegsbeteiligung unter autoritärer US-Führung. Die Schimäre, dass die Europäer in der NATO mitreden können, wird abgestreift.

Einen zweiten Krieg hat Trump fest im Auge: gegen den Iran und alle ihn unterstützenden Kräfte des Widerstandes gegen die israelische Okkupation von Palästina. Kritische Bemerkungen oder Rüstungskürzungen für Israel wird es unter ihm nicht geben. Dieser regionale Krieg kann schnell zu einem nuklearen Weltbrand werden. Nicht zu vergessen: Donald Trump ist ein aktiver Unterstützer des Genozids Israels, auch aus offensichtlich rassistischen Motiven. NATO ist eine Donald Trumps Befehle entgegennehmende Organisation, und zwar so brutal und eindeutig, dass selbst die Unterwerfung gewohnten europäischen politischen Führer zaghaft aufmucken. In den strategischen Zielen sind sie sich einig, verbale Absetzungsrhetorik ist ein Ablenkungsmanöver. Deals, die Trump immer wieder propagiert, dienen Donald Trump nur dazu, diese Hauptrichtungen seiner Kriegspolitik politisch abzusichern, nicht um Friedensprozesse einzuleiten und zu organisieren. Selbstverständlich sollten wir dieses – ohne Illusionen – für eine Beendigung des Ukrainekrieges nutzen. Wir sollten niemals vergessen, auch Trump ist ein Mann des militärisch-industriellen Komplexes der USA, was man auch an seinen Wahlkampfspenden unschwer erkennen kann.

Weiter zur aktuellen Situation. Orbán war gerade in Russland und hat mit Putin gesprochen. Und er war in China. Wie bewerten Sie diese Initiative?

Die Zerstörung des Kinderkrankenhauses – ganz gleich durch welchen Verursacher – zeigt, dass wir dazu kommen müssen, den Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich durch Waffenstillstand, Verhandlungen und Diplomatie zu beenden. Das Töten, das Leid und die Zerstörung müssen aufhören. Diese humanistische Zielstellung bedeutet auch, dass alle Initiativen von Persönlichkeiten, Regierungen, und internationalen Zusammenschlüssen in Richtung Frieden unterstützt werden müssen – so auch die hoch zu schätzende Initiative und Reisetätigkeit von Orbán. Man kann nur hoffen, dass die Vielfalt dieser Initiativen – besonders der aktuellen von China/Brasilien – das Verhandlungsklima und das Kräfteverhältnis schnell so verändern wird, dass wieder Frieden in der Region einzieht oder wenigstens ein Friedensprozess eröffnet werden kann. Es ist eine Binsenweisheit, dass Friedensprozesse alle kriegsführenden Parteien zusammenführen müssen. Separatistische Unternehmen wie der Bürgenstock-Gipfel in der Schweiz sind (gescheiterte) Propagandamanöver, aber kein Friedensprozess. Notwendig ist allerdings eine eigene Aktivität der Bundesregierung in Richtung Verhandlungen. Waffen lösen kein Problem. Es wäre hundertmal sinnvoller, wenn Kanzler Scholz zu Putin reisen würde, um mit ihm in dieser so gefährlichen Situation Wege aus den Krisen zu finden. Nur wer miteinander redet – so der Altkanzler Schmidt –, kann Frieden entwickeln.

Westliche Politiker nahmen Anstoß an der Initiative Orbáns. Wie erklären Sie sich das?

Diese Kritik ist absurd und soll davon ablenken, dass die NATO und auch die Bundesregierung gegen jedes realistische Verständnis von Kräftekonstellation und Kriegsführung immer noch glauben, den Krieg militärisch gewinnen zu können, und nur eine politische Richtung kennen: mehr Waffen, also mehr Tod und Verderben und Ausweitung des Krieges hin zu einem direkten NATO-Krieg gegen Russland. Es ist fast zum Verzweifeln, mit was für einer Unvernunft ja sehenden Auges ein großer Krieg in Kauf genommen wird. Man muss die Angebote Putins ja nicht teilen, aber sie eröffnen wie viele andere Initiativen – übrigens auch einige Bemerkungen von Selenskyj, u.a. bei dem Treffen in der Schweiz – die Möglichkeit, sich an den Verhandlungstisch zu begeben. NATOs nein dazu ist unverantwortlich.

Sie wollen nicht wissen, was sie wissen müssten, aber offenkundig nicht wissen wollen: Nur Diplomatie und eine Politik der gemeinsamen Sicherheit, bei der die Sicherheitsinteressen aller Staaten gleichgewichtig berücksichtigt werden, können einen Weg zum Besseren und gegen die dramatische Kriegsgefahr schaffen. Dafür zu wirken, bleibt Aufgabe der Friedensbewegung.

Wie sieht aus Ihrer Sicht ein sinnvoller Weg in Richtung Frieden in der Ukraine aus? Was muss getan werden?

Frieden ist aus meiner Sicht mehr als ein Ende des Krieges. Aber ohne dass die Waffen schweigen, wird es keinen Friedensprozess geben. Deswegen sind Waffenstillstand und Verhandlungen unabdingbar. Es ist aus meiner Sicht müßig, über die konkreten Details von Verhandlungen zu spekulieren. Beide Seiten haben ihre Ansichten unterbreitet, sie liegen naturgegeben weit auseinander. Der Verhandlungsprozess kann aber auf ein schon einmal erzieltes Ergebnis aufbauen. Das sind besonders die Ergebnisse der Gespräche von Istanbul vom März/April 2022. Sicher wird auch der aktuelle Verlauf des Krieges und der Frontlinie mit in die Verhandlungen einbezogen.

Verhandelt werden sicher auch zwei Grundprinzipen der UN-Charta: die Souveränität eines Staates und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Beides könnte in international abgesicherten Volksbefragungen bei gegenseitiger Zustimmung in Übereinstimmung gebracht werden. Dieser Krieg ist durch die NATO internationalisiert worden, und auch das tiefe Misstrauen beider Seiten erfordert eine internationale Absicherung der Friedensvereinbarung: Garantiemächte, besonders auch aus dem Globalen Süden, werden sicher eine Rolle spielen. Wahrscheinlich werden UN-Blauhelmtruppen neutraler und Staaten des Globalen Südens in der ersten Phase eine wichtige Rolle bei der Demilitarisierung spielen müssen.

Besonders wichtig scheint mir – und das ist sicher ein längerer Prozess und bedingt eine Absage der NATO-Länder an die Konfrontation mit Russland –, dass ein Prozess für die Entwicklung einer neuen Friedensarchitektur für Europa eröffnet wird, also so etwas wie ein KSZE-2-Prozess unter den neuen Rahmenbedingungen in Europa. Dieser Prozess muss unbedingt Abrüstungsschritte in dem völlig überrüsteten Europa beinhalten – damit würden auch finanzielle Ressourcen für die Lösung sozialer Herausforderungen und globaler Probleme möglich. Notwendig ist des Weiteren ein Versöhnungsprozess, bei dem zivilgesellschaftliche Kräfte aktiv miteinbezogen werden, Feindbilder überwunden und demokratische Prozesse wieder ermöglicht werden.

Titelbild: Von Ferran Cornellà – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0 commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=141438379