In Deutschland ist neuerdings von „Kriegstüchtigkeit“ und „Wehrfähigkeit“ die Rede. Im Trash-TV laufen Serien, die sich um den Alltag bei der Bundeswehr drehen. In den Nachrichtenprogrammen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens werden Jugendliche interviewt, die mit ernster Miene beteuern, dass sie ihr Land auf jeden Fall mit der Waffe verteidigen würden. Der Krieg ist en vogue, zumindest dem öffentlichen Narrativ nach. Wer sich für Frieden ausspricht oder gegen Waffenlieferungen, gilt hingegen als Lumpenpazifist. Pazifistisches Denken scheint veraltet sein. Dieses Gefühl hat auch der Ökonom und Soziologe Heinz Klippert, der ein Buch vorgelegt hat, mit dem er es wieder stärken möchte. „Frieden? Sichern!“ heißt es und kommt als „Anleitung zur Belebung pazifistischen Denkens“ daher. Eine Rezension von Eugen Zentner.
Schauen Sie sich bitte dazu auch die beiden Teile (Teil 1 und Teil 2) des Gesprächs zwischen Heinz Klippert und dem NachDenkSeiten-Herausgeber Albrecht Müller an.
Bis Klippert diesen Leitfaden präsentiert, sind knapp 200 Seiten zu lesen. Der Autor liefert zunächst einen geschichtlichen Abriss, um zu zeigen, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg pazifistisches Denken zunächst ausbreitete und schließlich durch Kriegstreiberei ersetzt wurde. Er skizziert die Verdienste Gandhis oder die Entspannungspolitik Willy Brandts, er erinnert an das Credo der in den 1960er-Jahren entstandenen Friedensbewegung, er zitiert aus der UN-Charta und kritisiert die Vereinten Nationen dafür, dass sie Anspruch und Wirklichkeit nur selten überzeugend zusammenbringen. Als Kontext zu der gegenwärtigen Stimmung ist dieser erste Teil durchaus lesenswert. Allerdings zeigen sich schon hier Schwächen, die sich durch das ganze Buch ziehen.
Nicht nur, dass Klippert durchgehend in allen verfügbaren Formen gendert und beinahe in jedem Satz zahlreiche Substantive aneinanderreiht, er übernimmt auch das Mainstream-Wording. So spricht er unter anderem von „Russlands Krim-Annexion“. Das ist die westliche Sicht, in der unterschlagen wird, dass sich die Bevölkerung auf der Insel damals per Referendum für einen Beitritt zur Russischen Föderation aussprach. Das Buch schwankt zwischen Machtkritik und Übernahme offizieller Narrative. Es prangert die Propaganda aus den Röhren staatlicher Apparate und Leitmedien an, gibt aber zugleich zu erkennen, dass dessen Autor ihr teils selbst aufgesessen ist. Das verdeutlichen Passagen wie diese: „Einzig die heraufziehende Klima- und Umweltkatastrophe sorgt in den letzten Jahren wieder für ernsthafte Demonstrationen und andere Formen des zivilen Ungehorsams. Eine neue Friedensbewegung ist daraus allerdings nicht erwachsen.“
Das hört sich ein wenig an, als schreibt Klippert im Hysteriemodus der Leitmedien, die auch nur die Fridays-for-Future-Aktionen als einzige „ernsthafte“ Demonstrationen sehen bzw. sehen wollen. Objektiv betrachtet waren die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen um einiges ernsthafter und größer. Und es gab auch schon nicht wenige Friedensdemonstrationen, die wohl größte im Februar 2023, als Sahra Wagenknecht in Berlin mehrere Tausend Menschen mobilisierte. Wer nicht teilnahm, waren jene Fridays-for-Future-Aktivisten. Sie waren die Gegendemonstranten, eben weil sie sich an offiziellen Regierungsnarrativen rund um die „Klima- und Umweltkatastrophe“ oder „Russlands Krim-Annexion“ orientieren – so wie Klippert, der deswegen auch nicht sehen kann, dass abseits der medialen Hofberichterstattung über die Fridays-for-Future-Demonstrationen sich sehr wohl eine Friedensbewegung herausgebildet hat. In der Hauptstadt vergeht kaum ein Monat, ohne dass eine Friedensdemonstration stattfindet. Es gibt Schweigemärsche, Friedensfeste, Friedenskonzerte und Ausstellungen wie „Make Art not War“.
Eine andere Schwäche des Buches zeigt sich vor allem im zweiten Kapitel, wo Klippert die Quellen menschlicher Destruktivität und Feindseligkeiten zu benennen versucht, dabei aber den Blick für das Wesentliche verliert. Er stellt humanethologische, individualpsychologische und behavioristische Erklärungsansätze vor, rekurriert auf Konrad Lorenz, Sigmund Freud und Erich Fromm. In einem wissenschaftlichen Stil fasst er lediglich die theoretischen Modelle zusammen, ohne eine befriedigende Antwort darauf zu liefern, was nun wirklich die Quellen menschlicher Feindseligkeit sind. Schon überzeugender klingen seine Erklärungen, wenn er soziologische Faktoren heranzieht. Klippert geht in diesem Zusammenhang auf den gesteigerten Inszenierungsdrang in den sozialen Medien ein, auf die wettbewerbsgeprägte Arbeitswelt, auf den Verlust sozialer Kompetenzen oder auf die verrohten Umgangsformen in Talkshows oder Parlamenten. All das trägt tatsächlich dazu bei, dass pazifistisches Denken zunehmend verkümmert.
Allerdings irritiert Klippert dann wieder mit Passagen, in denen er ausgerechnet Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz als Autoritäten heranzieht. Dieser habe die skizzierte Fehlentwicklung in seiner Regierungserklärung vom 16. Dezember 2021 „mit klaren Worten“ moniert, heißt es: „Darin ermahnte er alle Politiker- und Bundesbürger:innen, dass unsere Gesellschaft mehr Respekt brauche.“ Gerade den Sonntagsredner Scholz für einen Beleg der gegenwärtigen Fehlentwicklung heranzuziehen, ist so naiv wie erschütternd. Was dieser verlautbart, hat absolut keine Relevanz, weil es sich überwiegend um nichtssagende und oftmals heuchlerische Floskeln handelt. Scholz, der zu mehr Respekt aufruft, war es doch, der zusammen mit anderen Politik-Protagonisten Maßnahmenkritiker und Ungeimpfte nicht nur diffamierte, sondern auch vom öffentlichen Leben ausgrenzte. Er scheut sich auch nicht, politische Gegner scharf anzugreifen, ohne dem eigenen Aufruf zu mehr Respekt zu folgen.
Hier liegt auch der Kern der Sache. Gesellschaftliche Spannungen und Kriege sind politisch gewollt, eben weil es sich um ein großes Geschäft handelt. Erinnert sei an Scholz‘ Auftritt beim Spatenstich für eine neue Munitionsfabrik des Rüstungskonzerns Rheinmetall. Dieser erhält jetzt üppige Summen aus der Steuergeldkasse und kann seine Profite steigern. Begründet wird dies mit dem Krieg in der Ukraine, den auch die Bundesregierung am Laufen hält, indem sie Kiew fortwährend neue Waffen liefert. Und wer sind die Haupteigner von Rüstungskonzernen wie Rheinmetall? Institutionelle Anleger, allen voran Vermögensverwalter wie BlackRock und Vanguard. Diese halten auch die meisten Anteile an Medienkonzernen und PR-Agenturen, mit denen die Kriegsstimmung geschürt wird. Wenn man also nach den Quellen menschlicher Feindseligkeit sucht, sind sie eher hier zu finden.
Die Kriegsprofiteure vom Schlage BlackRock und Vanguard dürften sich ins Fäustchen lachen, wenn ihnen ein solcher Leitfaden für pazifistisches Denken präsentiert wird, wie ihn Klippert in seinem Hauptteil vorstellt. Dort rät er zur Empathie, zum Perspektivenwechsel, „anderen aufmerksam zuzuhören“, „andere Sichtweisen zu akzeptieren, verständnissuchend nachzufragen“, „Vorurteile abbauen“. Das klingt nicht nur banal, sondern auch wie ein schnödes Ratgeberbuch im Ramschsegment. Mit bahnbrechenden Erkenntnissen kann das Buch jedenfalls nicht aufwarten, dafür mit sehr viel Idealismus. „Reflektierter Pazifismus“, schreibt Klippert, „verlangt (…) möglichst tiefgreifende Reflexions- und Klärungsprozesse in Sachen Kriegsvermeidung, Entspannungspolitik, Diplomatie, Interessenausgleich und internationale Völkerverständigung. Von daher muss es Lehrende, Lernende und Lernsituationen geben, die eine derartige Reflexions- und Klärungsarbeit ermöglichen beziehungsweise sicherstellen.“
Dieser Impetus ist zwar löblich, macht den Brei aber nicht fett. Da hilft es auch nicht, Lehrern einen Leitfaden für den Schulunterricht zu geben, wie es der Autor tut. Diese müssen sich an Lehrpläne halten, die wiederum von staatlicher Propaganda und offiziellen Narrativen durchtränkt sind. Schulen gehören nicht erst seit Louis Althusser zu den ideologischen Staatsapparaten, genauso wie die Universitäten, wo bereits jene Lehrer indoktriniert worden sind, auf die Klippert abzielt. Zunächst müsste man also sie zum pazifistischen Denken anleiten. Um dieses schließlich auch allgemein zu etablieren, bedarf es eines Eingriffs an der Wurzel – also am System. Dem Krieg muss die kommerzielle Grundlage entzogen werden. Dann würde er seinen Reiz ganz schnell verlieren.