Unterhält man sich mit Anhängern einer – nennen wie es mal – „robusten Außen- und Sicherheitspolitik“, denn den Begriff „Kriegspolitik“ würden die Angesprochenen brüsk von sich weisen, stößt man auf immer die gleichen Argumentationsbilder: Wir verteidigen unsere Werte! Wir stehen für Demokratie und Freiheit! Und wir sind bereit, diese Werte zu verteidigen – zur Not auch vorwärts. Wir sind schließlich die Guten, unsere Motive sind ehrenhaft. Das mögen diese Menschen so sehen. Ihre Ahnen sahen es genauso. Tauscht man ein paar Begriffe aus, stößt man auf den immergleichen, universellen Selbstbetrug. Ein Essay von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Mit den Werten ist das immer so eine Sache. Natürlich gibt es Werte, die weltweit und kulturübergreifend als moralisch gut gesehen werden. Doch um diese universellen Werte geht es bei Konflikten zwischen Staaten eigentlich nie, stehen sie doch für Verständigung und friedliches Miteinanderleben. Wenn Kriegstreiber Werte anführen, die es zu verteidigen gilt, handelt es sich in der Regel um Werte, die eben nicht universell sind, sondern die Völkergruppen voneinander trennen.
Seit der grauen Vorzeit war dies beispielsweise die Religion. Hätte ein Bischof des Mittelalters schon einen Leitartikel für den SPIEGEL schreiben können, hätte der sich wohl abseits anderer Formulierungen gar nicht so großartig von dem unterschieden, was heute die Experten der Think Tanks so schreiben. Auch damals ging es um Werte – die christlichen Werte oder besser das, was die Hüter dieser Werte aus ihnen machten. Wer sich diesem Wertekanon als Individuum oder Staat verpflichtete, gehörte in der zeitgenössischen Sicht zu den Guten. Nicht dazu gehörten Angehörige anderer Religionen, allen voran die Muslime. Verständlich, wer sich selbst als das „Gute“ definiert, braucht auch eine Inkarnation des „Bösen“, gegen das dann das „Gute“ verteidigt werden muss – wobei man es mit dem „Verteidigen“ nicht wörtlich nehmen sollte. Deus lo vult! Weil Gott dies so wollte, zog man mit dem Kreuz ins Heilige Land. Hätten Sie damals einen Kreuzzügler gefragt, für was er kämpft und tötet, hätte er wohl die Verteidigung seiner Werte genannt.
Das Christentum von heute ist die liberale Demokratie, die Heiden und Ungläubigen sind die sogenannten Autokraten. Wobei es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, dass gerade wir Deutschen in Sachen „liberale Demokratie“ eher als Konvertiten gelten können. Noch Annalena Baerbocks Großvater hätte die These, dem Deutschen läge die liberale Demokratie in den Genen, sie bilde den Kern unserer Werte, sicher weit von sich gewiesen. Auch das Verteidigen dieser liberalen Demokratie ist ein vergleichsweise junger Gedanke. Noch vor nicht allzu langer Zeit war „das deutsche Wesen“ der Wertekanon, an dem „die Welt“ nach Ansicht unserer Ahnen „genesen“ solle. Auch die Spanier, Briten und Franzosen kolonisierten die Welt in ihrem damaligen Selbstverständnis, um ihre eigenen Werte global zu verbreiten.
Aber zurück zu Demokraten und Autokraten. Schaut man sich die Atlanten und Geschichtsbücher an, erkennt man schnell, dass die liberale Demokratie ein westliches Konzept ist. Fragt man beispielsweise einen Araber oder einen Chinesen, so werden sie die Aussage, nach der die liberale Demokratie die beste aller denkbaren Staatsformen ist, mit Inbrunst bestreiten; so wie ihre Ahnen bestritten hätten, dass das Christentum die beste aller denkbaren Religionen ist. Und wer sich heute die nackten sozioökonomischen Zahlen anschaut, wird ja auch nicht unbedingt Belege für die Überlegenheit liberaler Demokratien finden – im Gegenteil. Natürlich, wir sehen uns als „die Guten“. Aber auch die Russen, die Chinesen, die Araber oder die Inder sehen sich selbstverständlich nicht als „die Bösen“, sondern auch als „die Guten“ und sind ebenfalls davon überzeugt, dass ihr System für ihr Land das Beste ist.
Was sich wie ein unauflöslicher Konflikt anhört, ist in Wirklichkeit ziemlich banal. Aufgelöst wurde dieser Konflikt durch die Toleranz. In unserer westlichen Welt war es die Aufklärung, die Licht ins Dunkel brachte. Hätte man beispielsweise den Ostpreußen Kant gefragt, was „westliche Werte“ sind, hätte er wohl erstaunt mit den Schultern gezuckt. Paradoxerweise wird die Toleranz auch von den Wertekriegern unserer Zeit gerne ins Feld geführt – jedoch nur im Sinne einer Toleranz gegenüber den eigenen Werten; man fordert Toleranz ein, ist jedoch selbst zutiefst intolerant, wenn es um andere Länder, um andere Wertekanons geht.
Und da haben wir ihn, den modernen Wertekrieger. Er sieht sich selbst als den Guten und ist von der Mission getrieben, seine Werte zur Not mit Gewalt denen nahezubringen, die sie nicht teilen. Und da unterscheidet sich ein moderner Grünen-Politiker nur unwesentlich von einem Bischof zu Zeiten der Kreuzzüge. Der eine predigt die Überlegenheit der eigenen Werte vom Talkshowsessel bei Markus Lanz, der andere predigte sie von der Kanzel.
Die bittere Ironie ist, dass die Wertekrieger damals wie heute selbst zu den Getäuschten gehören. In Kriegen geht es nie um Werte, es geht um Interessen – um Einflusssphären, um Rohstoffe, um Handelswege, um Geld. Doch welcher Gemeine würde schon freiwillig für solch weltliche Dinge, von denen ohnehin nicht er, sondern die Eliten seines Landes profitieren, sein Leben opfern? Hinzu kommt, dass der Respekt vor fremdem Leben und fremdem Eigentum sehr wohl zu den universellen Werten gehören, die jeder Mensch teilt. Um diese universellen Werte in den Hintergrund zu rücken, braucht es „unsere Werte“ – egal welche das im Einzelfall sind. Dieser Trick funktionierte schon immer und wie es aussieht, funktioniert er auch heute noch.
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
Titelbild: Monarch Art/shutterstock.com