Die Zeiten, in denen sich die SPD für Sozialabbau verbiegen musste, sind lange vorbei. Die Partei ist kaum weniger beschäftigtenfeindlich als FDP und Grüne und als Anwalt des „kleinen Mannes“ bestenfalls noch beim Wählerfang unterwegs. Mit dem Kürzungshaushalt 2025 beweist sie einmal mehr, dass sie beim Regieren keine Zumutung scheut. Von Ralf Wurzbacher.
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Es gibt immer noch diese nette Erzählung von den Verbiegungsfertigkeiten der SPD. Sie besagt: Beim Mitregieren blutet dann und wann das soziale Herz der Partei, gleichwohl zählt am Ende immer das Mitregieren – aus Verantwortung für das Große und Ganze oder, um Schlimmeres zu verhindern, etwa eine schwarz-gelbe Koalition der Kaltherzigkeit. Das mag nicht allen Wählern schmecken, manche auch abschrecken oder vergraulen (so ziemlich alle), aber bei allen Enttäuschungen ist die Vorstellung irgendwie nicht aus den Köpfen zu kriegen, dass die SPD eigentlich viel sozialer wäre, wenn man sie nur ließe. Wie sonst hätte Olaf Scholz Bundeskanzler werden können?
Dass ausgerechnet Saskia Esken dies möglich gemacht hat, war kein Zufall. Man erinnert sich: Sie war einst angetreten, Scholz als Parteichef zu verhindern, wurde mit diesem Ansatz von den Mitgliedern zur Parteichefin gewählt und ebnete dem Geschlagenen so den Weg ins Kanzleramt. Eine Hand wäscht die andere. Esken war es auch, die vor Wochen, als sich die Ampelkoalitionäre in den Beratungen zum Bundeshaushalt 2025 in den Haaren lagen, auf Radau machte und Finanzminister Christian Lindner (FDP) wegen seiner Kürzungspläne im Sozialbereich und des Festhaltens an der „Schuldenbremse“ vor einem „historischen Fehler“ warnte.
Gut gebrüllt!
Als sich aber die SPD-Linke anschickte, ein Mitgliederbegehren auf die Beine zu stellen mit dem Ziel einer verbindlichen Ablehnung von Kürzungen in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie, Bildung, Demokratie und Entwicklungszusammenarbeit durch die Bundestagsfraktion, würgte der Parteivorstand die Initiative mit „wackligen Argumenten“ ab. Das dürfte den Bestand der Regierung gesichert haben, denn natürlich kam es, wie es kommen musste. Ende der Vorwoche verständigten sich die Spitzen von SPD, Grünen und FDP auf Eckpunkte für den 2025er-Etat, und siehe da: Es wird natürlich Kürzungen in besagten Feldern geben, und natürlich bleibt die Schuldenbremse unangetastet. Gut gebrüllt, Frau Esken!
Bei so viel Verschlagenheit braucht es ein Maximum an Augenwischerei. Bei der Vorstellung der Ergebnisse der Einigung sagte Scholz: „Wer sich anstrengt, der hat selbstverständlich Anspruch auf eine stabile Rente und eine verlässliche Gesundheitsversorgung, auf Pflege im Alter, auf gute Bildungschancen und auf die Unterstützung für seine Familie.“ Diese Sicherheiten seien „kein verzichtbares Extra aus alter Zeit, sondern unverzichtbare Grundlage für ein gutes Miteinander, für den Zusammenhalt und Vertrauen in die Zukunft, kurz: für Zuversicht“. Von welchen sozialen Wohltaten redete der Mann? Tatsächlich gibt es zwei sozialpolitische Richtungsentscheidungen, die die Vereinbarung prägen: Hartz IV wird quasi reaktiviert und die Kindergrundsicherung praktisch abgeblasen.
Schock für Familien
Letztere galt bisher als das „zentrale sozialpolitische Projekt“ der Koalition. Mit ihm sollten die bisherigen Familienleistungen – etwa Kindergeld, Kinderzuschlag, Kinderfreibeträge, Bildungs- und Teilhabeangebote – zusammengefasst und aus einer Hand offeriert werden. Der Kern der Änderungen zielt darauf, die Betroffenen per Automatismus zur Einlösung ihrer Ansprüche zu bringen, während heutzutage viele die ihnen zustehenden Hilfen aus Unwissenheit oder Scham nicht abrufen. Weil so jeder zu seinem Recht käme, müssten die staatlichen Ausgaben deutlich steigen. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) hatte die Mehrkosten einst auf zwölf Milliarden Euro jährlich taxiert, holte sich dafür aber bei den Beratungen für den Bundeshaushalt 2024 eine heftige Abfuhr. Nach langem Hickhack wurden im Finanzplan bis 2027 ab 2025 lediglich zwei Milliarden Euro pro Jahr dafür veranschlagt. Schon damit wäre von dem an sich fortschrittlichen Projekt kaum etwas übrig geblieben.
Und jetzt das: Die Ampel will dessen Start offenbar auf unbestimmte Zeit verschieben, den Scherbenhaufen also der Nachfolgeregierung hinterlassen. Eigentlich sollte der Einstieg am 1. Januar 2025 erfolgen, auf Sparflamme zwar, aber immerhin. Stattdessen soll es jetzt lediglich eine Erhöhung beim Kindergeld und Kindersofortzuschlag um fünf Euro geben, „ein Tropfen auf den heißen Stein“, wie der Sozialverband VdK findet. „Arme Kinder brauchen einen echten Wandel, den die Kindergrundsicherung versprochen hatte einzuläuten“, erklärte die Verbandsvorsitzende Verena Bentele und beklagte einen „Schock für arme Familien“. Die Tageszeitung (taz) hat die Reste der vier wesentlichen Versprechen der Reform aufgeklaubt – Bündelung der Maßnahmen, stetig wachsende Leistungen, automatisierte Auszahlung, Aufbau eines „Kinderchancenportals“ – und schloss daraus: „Nur noch ein Grundsicherungchen.“
Heil macht kaputt
Viel mehr Substanz hat auch das neu geschaffene Bürgergeld nicht, aber dafür das Zeug, zum „Sparschwein der Nation“ zu werden. Beim von AfD, Union und FDP angestimmten Chor, das Instrument lade Menschen zur Faulheit ein, mischt inzwischen auch die SPD kräftig mit. Dabei war der Verzicht auf das menschenunwürdige Sanktionsregime das treibende Motiv zur Abschaffung von Hartz IV. Aber nicht einmal zwei Jahre danach feiert selbiges fröhliche Urständ. Dass der Wegbereiter des Bürgergelds, Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), selbst die Abbrucharbeiten übernimmt, passt nur zu gut ins Bild. Schon seit 1. März dieses Jahres sind auf seine Initiative Leistungskürzungen bis hin zur Komplettstreichung wieder möglich.
Die im Verbund mit den Eckpunkten zum 2025er-Bundeshaushalt verabschiedete „Wachstumsinitiative – neue wirtschaftliche Dynamik für Deutschland“ sieht nun weitere Verschärfungen bei der Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten vor. So solle „eine tägliche Pendelzeit von zweieinhalb Stunden bei einer Arbeitszeit von bis zu sechs Stunden und von drei Stunden bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden in Kauf genommen werden müssen“. Bei Ablehnung würden Mittelkürzungen fällig, ebenso in Fällen von Schwarzarbeit. Betroffene sollen außerdem vorhandenes Vermögen aufbrauchen und verstärkt Ein-Euro-Jobs zugewiesen bekommen.
Spaltung geht vor
„Einmal mehr wird bei denen gekürzt, die ohnehin schon zu wenig haben”, kommentierte Joachim Rock vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Verhaltenen Fortschritten der Vergangenheit stünden nun drohende Rückschritte gegenüber, während der notwendige Ausbau der Arbeitsförderung weiterhin ausbleibe. Die weitgehend faktenfrei geführte Sanktionsdebatte drohe vor allem Ressentiments zu stärken. „Bei einer sehr geringen Zahl von Verstößen wird das höchstens Kleingeld in den Bundeshaushalt spülen“, so Rock. Für eine „Illusion“ hält es auch der Bremer Politikwissenschaftler Frank Nullmeier, dass beim Bürgergeld „viel Geld zu holen“ sei. Die Empfänger seien vor allem Ältere, Kranke und Kinder und allenfalls in sehr geringer Zahl Leistungserschleicher. Im Deutschlandfunk bescheinigte Nullmeier der SPD ein „Stück zurück“ zu Hartz IV und „Keine Ideen für den Sozialstaat“.
Im Zeichen der „Zeitenwende“ setzt die Ampel finanzpolitisch ungebremst auf Spaltung. Arme Menschen werden gegen weniger arme Menschen ausgespielt und Ausländer gegen Einheimische. Besonders perfide ist der Plan, Fachkräfte aus der Fremde mit Steuererleichterungen nach Deutschland zu locken. Die Personalnöte in vielen Bereichen der Arbeitswelt sind vor allem Folge schlechter Bezahlung und Arbeitsbedingungen. Gerade Berufe im öffentlichen und halböffentlichen Sektor – in Kitas, Schulen, Krankenhäusern, Pflegeheimen – könnten bei entsprechender politischer Steuerung deutlich aufgewertet werden. Zumal es mögliche Kandidaten zuhauf gibt – bei über zwei Millionen Erwerbslosen im Land.
Futter für die AfD
Aber nein, die Regierung lotst lieber noch mehr billige Arbeitskräfte über die Grenze, indem sie diese sogar besser als ihre prekären Kollegen stellt, befördert damit gespaltene Belegschaften und treibt das Lohndumping noch auf die Spitze. Und das alles soll mit dem Segen der „Arbeiterpartei“ SPD geschehen, die damit eine Steilvorlage mehr für Populisten wie etwa Alexander Dobrindt von der CSU liefert. „Das ist ein echtes Inländer-Benachteiligungsprogramm, das sich die Ampel da ausgedacht hat“, meint er, womit er nicht unrecht hat. Allerdings ist Dobrindt keiner, der im nächsten Satz eine allgemeine Lohnoffensive für Alten- und Krankenpflegerinnen fordern würde, eine Stärkung der gesetzlichen Rente oder bezahlbaren Wohnraum für alle.
Man fragt sich ja, was die Ampel noch so an Ideen parat hat, um der AfD noch mehr Wähler in die Arme zu treiben. Dabei kann man schon fast sicher sein, dass auch dieser Vorstoß am Ende zum Scheitern verurteilt ist. Damit werde der Gleichbehandlungsgrundsatz im Arbeitsrecht verletzt, haben bereits Gewerkschafter und Juristen angemerkt. Als hätte die Koalition nicht schon viel zu viel Unausgegorenes aufgetischt und schlussendlich wieder abgeräumt, droht schon der nächste Rohrkrepierer. Und wenn dereinst auch der Plan mit den Steueranreizen für Ausländer vor die Wand gefahren sein wird, wem würde das abermals in die Karten spielen? Richtig: der AfD.
Länger arbeiten
Man könnte glauben, dahinter steckte System. Aber vielleicht sollte man der Ampel so viel „Plan“ gar nicht unterstellen. Es geht schlicht darum, die Verteilung im Zeichen von „Zeitenwende“ und „Kriegsertüchtigung“ neu zu justieren, das heißt noch weniger für die Interessen der einfachen Menschen übrig zu haben. Rheinmetall zieht dieser Tage Milliardenaufträge in Serie an Land, aber der deutsche Wehretat steigt nur kleinlich auf 53 Milliarden Euro. Prompt mosert „Verteidigungsminister“ Boris Pistorius, noch so ein waschechter SPD-Arbeiterführer. Der geringe Aufwuchs gegenüber dem laufenden Jahr sei „ärgerlich“ und werde der „Bedrohungslage“ nicht gerecht.
Aber Rettung naht. Bis 2028 soll die Bundeswehr 80 Milliarden Euro jährlich erhalten. Dafür darf der „kleine Mann“ dann gerne länger arbeiten. Die FDP will nämlich den Acht-Stunden-Tag kippen, und mit besagtem „Wachstumspapier“ geht die Ampel erste Schritte in diese Richtung. Man schaffe eine „begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit“, heißt es da. Zur Erinnerung: Der Acht-Stunden-Tag wurde vor über hundert Jahren durchgesetzt – zum Schutz vor Ausbeutung und für ein geregeltes Arbeits- und Familienleben. Das ist lange her und der Abschied davon für die SPD bestimmt kein Grund, sich zu verbiegen.
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