Michel Rocard, Hilflose Reflexe einer von der Angst beherrschten Gesellschaft
Zusammenfassende Übertragung der Hauptpunkte eines in der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 30.3.2006 erschienen Artikels von Michel Rocard, ehemaliger französischer Premierminister unter Mitterand und PS-Europaabgeordneter; Originaltitel „Mauvais réflexes d’une société qui a peur“, von Gerhard Kilper.
Frankreich bietet zurzeit das Bild einer Gesellschaft, in der die Politik in einem verzweifelten Aktionismus immer neue Baustellen anfängt, stehen lässt oder gleich wieder in den Sand setzt. So die übereilt von der Regierung Villepin in Gang gesetzte Fusion zwischen den Energieriesen GdF und Suez, das Gezerre um die Stahlriesen Mittal und Arcelor, die zu einer gesellschaftlichen Revolte angewachsene Zurückweisung des Einstiegsarbeitsvertrags CPE oder die einhellige Ablehnung der Bolkestein-Direktive durch Regierung und Bevölkerung.
Alle diese Abwehr-Aktivitäten richten sich gegen Projekte, die als drohende Gefahr und Unsicherheit angesehen werden und die man deshalb vehement zurückweist – wir leben heute in einer umfassend von Angst erfassten und dominierten Gesellschaft. Letzter Zufluchtspunkt der, in unserer Wahrnehmung „von außen“ bedrohten Sicherheit ist die Nation geworden – im eigenen Haus kennt man sich aus und da will man sich auch gut und verlässlich einrichten. Nur so lässt sich das plötzliche Wiederaufleben unseres ökonomischen Nationalismus beim Übernahmepoker um die Stahl- und Energieriesen erklären.
Aus ökonomischer Sicht – von den Grundlagen der Marktwirtschaft her also – halte ich das den Wettbewerb einschränkende Zusammengehen der beiden Stahlkonzerne für wenig sinnvoll. Und was das Zusammengehen des privatwirtschaftlich agierenden Suez mit unserem Staatsunternehmen Gaz de France unserem „nationalen Interesse“ bringen soll, weiß ich auch nicht. Gegenüber den extremen US-amerikanischen, chinesischen, indischen oder japanischen Nationalismen halte ich zwar ein europäisches Dagegenhalten nicht für ungesund, aber dann müsste es innerhalb der EU im Bereich der Wirtschaft ein ausgeprägtes Europabewusstsein geben, was zumindest bei uns in Frankreich nicht der Fall ist.
Ähnlich sehe ich die tieferen Ursachen des aktuellen Aufbegehrens gegen die drohende Verarmung von nachwachsender Generation und Arbeitnehmern im weltweiten Wandel des Kapitalismus der letzten 30 Jahren: dem massiv- aggressiven Auftreten von Aktionärs-pressure-groupes als Fonds, in den offen geäußerten, maßlosen Kapital-Verzinsungszielen, die keinen Bezug mehr zur Realität haben, sowie im weltweit verbreiteten Druck der Konzerne auf ihre Zulieferer. Die geben diesen Druck brutal an ihre Arbeitnehmer weiter, die sich einer Lohndrückerei gegenübersehen, die an die schlimmsten Zeiten des 19. Jahrhunderts erinnert und die sie zum Erhalt ihrer Arbeitsplätze wohl oder übel akzeptieren müssen. Völlig neu aber ist die Schamlosigkeit und Unverfrorenheit, mit der sich jetzt das Kapital anschickt, auch den Öffentlichen Dienst und die sozialen Sicherungssysteme in Europa anzugreifen, mit dem Ziel diese zu zerschlagen.
In der Strategie dieses neuen Aktionärs-Kapitalismus verkommt Arbeit zu einer beliebigen Ware, deren Kosten es immer weiter zu drücken gilt. Die sozialen Sicherungssysteme der Arbeitnehmer werden nur noch als ärgerliches Hindernis für weitere Steigerungen der Profitraten angesehen, diese neue Kapitalismus-Realität kennt keinen partnerschaftlichen Kapitalismus mehr! Das zurzeit weltweit in Gang befindliche, perverse Spiel des entfesselten Kapitalismus muss politisch gestoppt werden, was aber nicht mehr mit nationalen Alleingängen zu schaffen ist. Nationale Alleingänge können sich weder Frankreich noch andere Industrienationen erlauben, da sie nach wirtschaftlicher Logik dazu führen müssen, dass der Export allein agierender Staaten spürbar zurückgehen wird, dass internationale Finanzmärkte feindlich gegen die Volkswirtschaften dieser Länder spekulieren und dass am Ende deren Wachstum und Beschäftigung einbrechen werden.
Wegweisende Lösungen versprechen langfristig – europa- und weltweit – nur zu internationalem Recht erhobene Regularien, die mit wirksamen Kontrollmaßnahmen auch durchgesetzt werden können. Fiskal-Paradiese müssen im Rahmen des neuen Rechts abgeschafft oder weitgehend eingeschränkt werden, Übernahmen von Großunternehmen erheblich erschwert und den Belegschaften bzw. den Gewerkschaften sollten echte Mitbestimmungsrechte auch in wichtigen Unternehmens-Angelegenheiten eingeräumt werden.
Schließlich sollten in der EU als Sofortmaßnahmen destruktiv-feindliche Spekulationen bzw. Finanztransaktionen umgehend verboten und die Wachstumsschwäche durch ein umfangreiches, ganz bewusst zeitlich beschränktes EU-Kreditprogramm wirksam bekämpft werden. Eine solche Verschuldung kann sich die EU als hoch entwickelter und eigenständiger Wirtschaftsraum leisten, da sie gegenüber dem Rest der Welt nicht – wie etwa die USA- verschuldet ist.
Wirkliche Lösungen unserer gesellschaftlichen Krise kann es in unserer globalisierten Welt heute nur noch im größeren Rahmen geben und wir müssen als Europäer überlegen, wie wir dabei die Stärken der Wirtschafts- und Finanzkraft unserer EU nutzbar machen können, die wir ja zumindest potentiell besitzen.
Damit kehre ich zum gescheiterten Projekt einer EU-Verfassung zurück. Durch ihre Ablehnung des alten EU-Verfassungsentwurfs haben französische und holländische Wähler – die deutschen Wähler wurden ja nicht gefragt – gezeigt, dass sie ein wirtschaftlich-gesellschaftliches „weiter so“ der Politik nicht wollen. Das zeigen auch Wählerumfragen in Italien und Schweden und das europaweite Aufkommen einer neuen Europa-Feindschaft. Wenn wir aber dem aktuellen Kapitalismus die Zähne ziehen wollen, geht das nicht ohne eine EU-Verfassung.
Zu einem solchen politischen Weg des Wandels – über eine soziale EU-Verfassung und eine wirklich beschäftigungsorientierte, neue EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik – gibt es aus meiner Sicht keine strategische Alternative. Auch angesichts der weltwirtschaftlichen Gefahren, die amerikanische Zahlungsbilanz- und Verschuldungsprobleme für uns in sich bergen, ist ein Rückfall in den nationalen Protektionismus nicht nur ineffizient, sondern langfristig auch keine reale Perspektive zur Bekämpfung der um sich greifenden Angst und Unsicherheit der Europäer.
Ich sehe daher den politischen Kampf in der EU zur Erhaltung und Weiterentwicklung von Arbeitnehmerrechten, Sozialstaatlichkeit und für eine neue Beschäftigungspolitik eng verbunden mit dem Kampf für eine EU-Verfassung. Der oben skizzierte Weg ist aus meiner Sicht die einzig erfolgreiche politische Langzeit-Strategie und sollte umgehend mit vereinten Kräften in der EU in Angriff genommen werden!
Anmerkung WL: Die Frage ist allerdings, wo sich die politische Mehrheit für eine solche Europäische Verfassung finden und organisieren könnten?