Im Jahre 1986 führte die israelische Armeeführung eine bis heute hoch kontroverse geheime Militärdoktrin ein. Die „Hannibal-Direktive“ erlaubt es israelischen Militärs, im Falle der Verschleppung eines Militärangehörigen alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um eine erfolgreiche Geiselnahme zu verhindern – darunter auch die Tötung des entführten Soldaten. Offiziell wurde die Direktive 2016 ausgesetzt, doch Recherchen der israelischen Zeitung Haaretz deckten nun auf, dass während des Hamas-Überfalls am 7. Oktober in mindestens drei Fällen die Hannibal-Direktive ausgerufen wurde und damit ein Teil der israelischen Opfer durch den Beschuss der eigenen Armee getötet wurde. Für die israelische Kriegsregierung, die ohnehin bereits unter innenpolitischem Druck steht, da ihre grausame Kriegsführung die sichere Rückkehr der noch lebenden Geiseln gefährdet, könnte diese Recherche noch sehr gefährlich werden. Von Jens Berger.
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Was ist die Hannibal-Direktive?
Seit der Besetzung von Teilen des Südlibanons in den frühen 1980ern durch israelische Truppen kam es immer wieder zu Geiselnahmen israelischer Soldaten durch die Hisbollah. Diese Geiselnahmen waren der israelischen Regierung ein Dorn im Auge, da sie einerseits die Kriegsbereitschaft der eigenen Bevölkerung unterminierten und andererseits oft Jahre später zu einem Austausch der Geiseln gegen teils hochrangige arabische Gefangene der Israelis führten. In der Militärführung setzte sich daher 1986 eine Gruppe von Falken durch, die die Verhinderung dieser Geiselnahmen auch zu dem Preis durchsetzen, dass dabei die gefangenen eigenen Soldaten gefährdet und im Extremfall sogar durch eigenen Beschuss getötet wurden. Benannt wurde diese Direktive nach dem karthagischen Feldherren Hannibal, der sich der Sage nach lieber vergiftete, als in römische Gefangenschaft zu geraten.
Konkret besagt diese Direktive, dass israelische Militärs im Falle einer Gefangennahme eines israelischen Soldaten – wenn keine sanfteren Mittel zur Verfügung stehen – verpflichtet sind, die Verschleppung bzw. Geiselnahme mit allen Mitteln zu beenden, auch wenn sie dabei das Leben ihres Kameraden gefährden; also z.B. durch Beschuss von Fahrzeugen oder Gebäuden, in denen der Verschleppte vermutet wird. Die Begründung: Die nationale Gefahr durch eine erfolgreiche Geiselnahme sei höher zu bewerten als der Verlust eines Soldaten.
In der jüngeren Geschichte wurde die Hannibal-Direktive zwar mehrfach angewendet, gilt aber selbst innerhalb Israels als hoch kontrovers, zumal die vorsätzliche Tötung eigener Bürger durch die israelische Verfassung nicht gedeckt ist. Vor allem unter Reservisten und Wehrpflichtigen samt deren Angehörigen gab es immer Kritik an dieser Direktive. Doch diese Kritik lief lange ins Leere, da die Hannibal-Direktive über Jahre hinweg von der Militärführung schlichtweg geleugnet wurde. Zwar gab es eine schriftliche Form dieser Direktive, die jedoch einer Geheimhaltung unterlag und offenbar nur ausgesuchten Kommandeuren vorlag. Auf den unteren und mittleren Befehlsebenen existiert die Hannibal-Direktive nur als mündliche Überlieferung.
Zeitweilig wurde die Direktive immer wieder ausgesetzt und umdefiniert. 2011 wurde sie in ihrer vermeintlich letztgültigen Form von niemand anderem als Benny Ganz wieder eingeführt – damals war Ganz Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, bis vor kurzem war er Verteidigungsminister im Kriegskabinett von Benjamin Netanjahu.
Zu harscher Kritik an der Hannibal-Direktive auch innerhalb der Militärführung kam es 2014 nach dem „Schwarzen Freitag“, als das israelische Militär die Geiselnahme eines ihrer Soldaten während des Gaza-Kriegs durch eine massive Bombardierung eines Viertels von Rafah „beenden“ wollte. Dabei starben nicht nur der entführte israelische Soldat, sondern auch rund 200 palästinensische Zivilisten – darunter 75 Kinder. Funksprüche, die später von der Medienplattform Ynet veröffentlicht wurden, belegten, dass die Militärführung an diesem Tag die Hannibal-Direktive ausgerufen hatte. Das Massaker wurde später unter anderem von der UN als Kriegsverbrechen gewertet, führte jedoch vor allem durch internen Protest dazu, dass sich die Regierung gezwungen sah, die Direktive 2016 zumindest offiziell auszusetzen. Bis zum 7. Oktober 2023.
Der 7. Oktober
Der 7. Oktober 2023 wird von vielen politischen Kommentatoren als Israels 9/11 bezeichnet. An zahlreichen Stellen überquerten Hamas-Kämpfer die als sicher geltenden Grenzanlagen des Gaza-Streifens, drangen in israelisches Gebiet ein, verübten Massaker an Zivilisten, töteten Soldaten. Mit 1.139 Todesopfern – darunter 695 israelischen Zivilisten – war der Blutzoll gewaltig. Rund 240 Menschen wurden an diesem Tag von der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppt.
Schon früh behaupteten alternative Medien, allen voran Max Blumenthal von Grayzone, dass an diesem Tag die Hannibal-Direktive ausgerufen wurde. So sollen vor allem bei den Kämpfen auf dem Gelände des Nova-Festivals nahe des Kibbuz Re´im israelische Kampfhubschrauber durch den Beschuss von Fahrzeugen, in denen Geiseln verschleppt wurden, maßgeblich dazu beigetragen haben, dass am Ende 364 Festivalbesucher den Tod fanden. Diese Berichte wurden auch von Haaretz seinerzeit als Verschwörungstheorie gebrandmarkt.
Dabei gab es bereits im Dezember 2023 auch von Haaretz selbst erste Recherchen, die die These untermauerten, dass am 7. Oktober die Hannibal-Direktive ausgerufen wurde. Ein Oberst der israelischen Luftwaffe sprach gegenüber Haaretz gar von einem „Massen-Hannibal“. Im Januar ergaben Recherchen der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth, dass am Mittag des 7. Oktober die Hannibal-Direktive ausgerufen und der Befehl ausgesprochen wurde, es „mit allen Mitteln“ (englisch: „at all costs“) zu verhindern, dass „Terroristen der Hamas mit Geiseln in den Gaza-Streifen zurückkehren“. Spätere Untersuchungen ergaben, dass rund 70 Fahrzeuge auf der Straße nach Gaza durch Helikopter, Drohnen oder Panzer der Israelis zerstört wurden, wobei oft alle Insassen – inklusive der Geiseln – getötet wurden.
Am 13. Juni stellte auch die UN in ihrem Sonderbericht fest, dass mindestens 14 israelische Zivilisten, darunter zwei 12-jährige Zwillinge und ihre 68-jährige Großmutter, am 7. Oktober durch den Beschuss der israelischen Armee starben. Die israelische Armee und das Kriegskabinett weisen diese Anschuldigungen bis heute zurück. Es mag in der unübersichtlichen Lage zwar zu Fällen von „friendly fire“ gekommen sein, aber einen Befehl oder gar eine Direktive dazu habe es nie gegeben.
Diese Position sollte seit Sonntag nicht mehr haltbar sein. Nun hat ausgerechnet Haaretz – die Zeitung also, die Blumenthal zuvor als Verschwörungstheoretiker bezeichnet hat – eine Recherche veröffentlicht, die belegt, dass in mindestens drei konkreten Fällen die Hannibal-Direktive von Kommandeuren ausgegeben wurde – darunter unter anderem auf dem Armee-Stützpunkt Re´im, dem Hauptquartier der Gaza-Division in unmittelbarer Nähe des Nova-Festivalgeländes.
Was belegen die Enthüllungen und was belegen sind nicht?
Haben Blumenthal und Co. also doch recht? Das ist trotz allem nicht belegt, aber dennoch sehr wahrscheinlich. Zunächst: Die Hannibal-Direktive sagt nichts über Zivilisten. Selbst nach Ausrufung dieser Direktive wäre das israelische Militär nicht durch die eigenen Verfahrensregeln dazu legitimiert, fahrlässig oder gar vorsätzlich die eigenen Zivilisten zu töten, damit sie nicht von der Hamas als Geiseln verschleppt werden können. Hannibal bezog sich stets nur auf Soldaten. Die Enthüllungen belegen auch nicht, dass gezielt Israelis vom eigenen Militär ermordet wurden, oder gar, dass die Hamas nicht für die Massaker verantwortlich ist.
Belegt ist damit jedoch, dass die Hannibal-Direktive trotz gegenteiliger Behauptungen der Regierung nicht ausgesetzt wurde, sondern immer noch in Kraft ist und am 7. Oktober ausgerufen wurde. Belegt ist auch, dass das israelische Militär für einen Teil der am 7. Oktober gestorbenen Israelis verantwortlich ist. Wie viele Israelis – egal ob Zivilist oder Soldat – durch eigenen Beschuss starben, werden wir jedoch sicher nie erfahren, da die offiziellen Untersuchungen dies von Anfang an vertuschen wollten.
Welche Auswirkungen haben die Enthüllungen?
Hannibal wurde eingeführt, um zu verhindern, dass der Staat Israel wegen eines oder mehrerer entführter Soldaten erpresst wird. Das ist auf die großangelegten Geiselnahmen vom 7. Oktober aber nicht übertragbar. Ob die Hamas nun 150, 250 oder 450 israelische Zivilisten in den Gaza-Streifen verschleppt hätte, spielt eigentlich für die strategische Situation des Staates Israel in diesem Krieg keine Rolle. In jedem Fall hat die Hamas ein gewaltiges Faustpfand in der Hand, in jedem Fall steht die israelische Regierung unter dem massiven Druck ihrer eigenen Bevölkerung, die Massengeiselnahme möglichst glimpflich zu beenden.
Im Ausland schaut man vor allem auf die grausamen Kriegsverbrechen der Israelis im Gazastreifen. Im Inland spielt dieser Aspekt zwar auch eine Rolle, doch hier steht der Krieg – vor allem bei den Anhängern der Regierung – auch immer noch unter dem Motto, der Staat Israel müsse alles tun, um die Geiseln zu befreien oder auf diplomatischem Wege zurückzubekommen. Das Leben der Geiseln nimmt in der innenpolitischen Debatte eine gewichtige Rolle ein und gerade von rechts ist die Kritik am Kriegskabinett weniger auf die Kriegsverbrechen, sondern mehr auf die Unfähigkeit der Regierung gerichtet, die Geiseln lebendig zurückzubekommen.
Es ist wahrscheinlich, dass der Rückhalt des Kriegskabinetts bei seinen bisherigen Unterstützern durch die Hannibal-Enthüllungen einen herben Dämpfer bekommt. Eine Staats- und Armeeführung, die nicht nur bei der Befreiung der Geiseln versagt, sondern sogar aktiv – fahrlässig oder vorsätzlich – den Tod zahlreicher Geiseln in Kauf genommen hat, hat ihre Legitimation verspielt. Es ist zu hoffen, dass dadurch auch der Druck auf Netanjahu zunimmt, dem Krieg und damit dem massenhaften Morden in Gaza ein Ende zu machen.
Diese Gedanken sind wohlgemerkt einzig auf die inner-israelische Debatte gerichtet. Für die Betrachtung des Krieges von außen macht dies alles keinen großen Unterschied. Die Frage, ob Israel – fahrlässig oder vorsätzlich – für einen Teil der Opfer vom 7. Oktober verantwortlich ist, ändert nichts daran, dass die Hamas der Hauptverantwortliche für die Massaker am 7. Oktober ist. Es ändert jedoch auch nichts daran, dass der Staat Israel hauptverantwortlich für die rund 40.000 toten Palästinenser in Gaza, für das unsägliche Leid und für die Saat an Gewalt ist, die durch diese Kriegsführung auch in den nächsten Jahrzehnten aufgehen und weitere Opfer – Palästinenser und Israelis – fordern wird.
Titelbild: Hamara/shutterstock.com