Die französischen Wähler haben entschieden. Nach der zweiten und entscheidenden Wahlrunde steht fest, dass das linke Wahlbündnis „Neue Volksfront“ (NFP) und nicht die ultrarechte „Nationale Sammlungsbewegung“(RN) stärkste Kraft geworden sind. Von der starken Ablehnung einer RN-Regierung durch die Wähler profitierten am Sonntag nicht nur die Kandidaten des präsidialen Lagers ungewöhnlich stark, sondern auch die der rechtskonservativen „Republikaner“, deren Parteivorsitzender Ciotti wiederum gegen den Willen der Mehrheit der Vorstandsgremien ein Wahlbündnis mit dem RN eingegangen war. Dass das RN eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erzielen könnte, schien bereits aufgrund des taktischen Rückzugs von über 200 Kandidaturen für die zweite Wahlrunde aus dem linken und präsidialen Lager unwahrscheinlich. Von Sebastian Chwala.
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Doch dass das RN gestern nur drittstärkste Kraft wurde, muss auf den ersten Blick überraschen. Dennoch gibt es Gründe. Gerade in der Woche zwischen den Wahlgängen zeigte sich, dass das RN seine ultrarechte Gesinnung nicht verbergen konnte. Aus Sorge vor den Folgen einer Regierungsübernahme durch das RN bildete sich gestern daher an der Urne eine erstaunlich solide „Republikanische Front“, indem die Nicht-RN-Wähler verschiedenster politischer Couleur des ersten Wahlgangs konsequent gegen die Kandidaten der ultrarechten Partei stimmten. Diese Abwehrfront gegen das RN hat kein gemeinsames ideologisches Programm, weshalb nach den sonntäglichen Wahlen auch nicht klar ist, welchen programmatischen Weg Frankreich einschlagen wird. Fest steht nur, dass das RN weiterhin auf absehbare Zeit keine Chance auf eine politische Machtübernahme in Frankreich haben wird.
Die Angst vor dem RN schafft eine „Republikanische Front“
Zuerst ein Blick auf die Zahlen. Nach den vorliegenden Endergebnissen erzielte die NFP 182 Mandate und das präsidiale Lager 168 Mandate. Das RN und die verbündeten „Ciotti-Republikaner“ kommen auf 143 Mandate. Zusätzlich ziehen 67 offizielle Vertreter der „Republikaner“ ins französische Parlament ein. Hinzu kommen etliche formal bündnisfreie linke Kandidaten aus den Überseeterritorien, die sich aber größtenteils den Fraktionen der NFP-Parteien anschließen werden. Die NFP wird also noch auf knapp 200 Abgeordnete anwachsen. Damit verfügt die Linke über keine Mehrheit, für die sie über 289 Mandate verfügen müsste. Dennoch überwog gestern in der Linken und auf den Straßen die Freude über die relative Niederlage des RN.
Hatte es noch vor einer Woche so ausgesehen, dass die Partei nach der Macht greifen könnte, führten mehrere Entwicklungen dazu, dass diese Dynamik zum Stillstand kam. Zuerst kam es in den beiden Tagen zu teils widerwilligen Rückzugsankündigungen von für die zweite Runde qualifizierten Kandidaten in Wahlkreisen, in denen das RN in der ersten Runde vorne lag oder den zweiten Platz belegt hatte. In Erinnerung an meinen Artikel aus der letzten Woche sei angemerkt, dass aufgrund der hohen Wahlbeteiligung auch zahlreiche drittplatzierte Kandidaten erneut kandidieren durften. Um alle Stimmen gegen das RN kanalisieren zu können, hatte zuerst die Linke noch am Wahlabend des 30. Juni diese Kandidaten aus ihren Reihen zum Rückzug aufgerufen. Dieser Intention folgte das präsidiale Lager nur schleppend. Während Akteure, die aus der Sozialdemokratie zum „Macronismus“ gestoßen sind, sofort dazu aufriefen, weigerte sich das rechtsliberale „macrontische“ Lager, dessen Wurzeln im „Rechtsgaullismus“ liegen, diese Konzession gegenüber der Linken und insbesondere „La France insoumise“ (LFI) zu machen. Unter Vermittlung von Staatspräsident Macron zog sich in der Folge doch der Großteil der betroffenen Kandidaten zurück. Insgesamt verzichteten 130 linke und 80 „macronitische“ Kandidaten.
Gleichzeitig wurde allerdings auch das Kandidatentableau des RN immer mehr zum Thema in den Medien. Hatte es das RN bis zum 30. Juni verstanden, sich als vergleichsweise moderate Kraft der Rechten zu inszenieren, arbeiteten jetzt RN-kritische Medien die nach wie vor offen zur Schau getragenen rassistischen und antisemitischen Einstellungen zahlreicher RN-Kandidaten heraus.
Zudem zeigte sich, dass in der Breite schlicht die politische Kompetenz fehlte, um ein politisches Amt zu übernehmen. Zahlreiche Kandidaten versagten in den lokalen Wahlrunden bei der Beantwortung einfachster sozial- und wirtschaftspolitischer Fragestellungen und begnügten sich mit parolenhafter Verdammung von Immigration und Kriminalität. Außerdem erlebte Frankreich in der letzten Woche ein Ausmaß an rassistischer und politischer Gewalt, das fast ein wenig Endzeitstimmung aufkommen ließ. So prügelten RN-Aktivisten mit Schlagstöcken auf Eltern ein, die keine RN-Wahlkämpfer vor der Schule ihrer Kinder haben wollten. Dunkelhäutige Menschen wurden auf offener Straße beleidigt oder zum Umzug aufgefordert, im Département Gard schoss ein Anwohner mit seinem Jagdgewehr um sich, um „Araber zu töten“, und faschistische Internetaktivisten stellten öffentlich Todeslisten gegen unliebsame Personen aus dem öffentlichen Leben auf. All diese Entwicklungen brachten die Kernwählerschaft des RN natürlich nicht mehr davon ab, erneut für diese Partei zu stimmen.
Sie führten allerdings dazu, dass auch in größerem Maße gemäßigt rechte und bürgerliche Milieus einer zu großen Stärkung des RN mit einer gewissen Sorge entgegensahen. Somit kam es am gestrigen Sonntag zu keiner steigenden Wahlenthaltung, da die persönliche Enttäuschung über das Ausscheiden der programmatisch nahestehenden Kandidaten auch bei Macron-Anhängern zu einer Stimmabgabe zugunsten von NFP-Kandidaten in Duellen mit dem RN führte, auch wenn es sich dabei um LFI-Aktivisten handelte. Freilich gehört es auch zur Wahrheit, dass die Wähler der Linken dennoch geschlossener gegen das RN stimmten als die „macronitischen“ Wähler. So verlor das RN 111 von 132 Stichwahlen gegen das „macronitische“ Lager, aber „nur“ 90 von 150 gegen die NFP. Dies erklärt das deutlich bessere Abschneiden des „Macronismus“ als zunächst erwartet.
Die gemeinsame Angst vor dem ultrarechten Umbau der Gesellschaft, der wahrscheinlich nicht nur die Migrationspolitik betroffen hätte, sondern auch eine harte sozialkonservative Wende zur Folge gehabt hätte, hat die Wähler dazu bewogen, an der Urne eine faktisch „negative Mehrheit“ zu bilden. Gleichzeitig zeigte sich dem RN auf diese Weise allerdings auch erneut auf, dass das politische Projekt der Partei auf absehbare Zeit immer wieder auf großen Widerstand stoßen wird. Deshalb ist es jetzt schon absehbar, dass ein Sieg Marine Le Pens auch bei der kommenden Präsidentschaftswahl in drei Jahren höchst unwahrscheinlich geworden ist – zumal Emmanuel Macron, das unmittelbare politische Feindbild der großen Mehrheit der Bürger, nicht wieder kandidieren darf und das RN nicht mehr von einer „Anti-Macron“-Stimmung vieler Rechtswähler profitieren dürfte.
Die „Neue Volksfront“ will regieren, hat dafür aber keine Mehrheit
Dennoch ist der Linksblock das eindeutig stärkste Lager geworden. Innerhalb des Blocks haben sich die Gewichte etwas verschoben. Zwar wird LFI weiterhin stärkste Fraktion bleiben, die Sozialdemokraten haben gestern aber am stärksten zugelegt und werden nur noch eine leicht kleinere Fraktion als LFI haben. Wenig Verschiebungen gibt es bei den Grünen, während man bei der PCF erneut um den Fraktionsstatus zittern muss, nachdem man gestern in den Stichwahlen zwei bisher sichere Wahlkreise verlor. Möglicherweise schließen sich aber ehemalige LFI-Fraktionsmitglieder aus der vergangenen Legislaturperiode und, wie in der Vergangenheit üblich, viele Linke aus den Überseeterritorien der Fraktion an.
Auch wenn, wie bereits erwähnt, noch nicht ganz klar ist, wie groß die Zahl der Abgeordneten sein wird, auf die sich die NFP stützen kann, verfügt sie über keine eigene parlamentarische Mehrheit. Dennoch ging man bereits gestern in die Offensive und forderte die Ernennung eines Premierministers bzw. einer -ministerin aus den eigenen Reihen von Staatspräsident Macron. Ein Name soll noch diese Woche präsentiert werden, sofern man innerhalb des Bündnisses zu einem Konsens gelangt. Diese Frage hatte man im kurzen Wahlkampf bewusst ausgespart, um den mühevoll erwirkten Konsens nicht scheitern zu lassen. Wer das Vorschlagsrecht für diese Personalie haben wird, hängt auch davon ab, ob nun LFI oder die PS am Ende die stärkste Parlamentsgruppe stellt. Möglicherweise einigt man sich aber auch auf eine Person aus der „linken Zivilgesellschaft“, wie es Marine Tondelier, die Vorsitzende der Grünen, angedeutet hat. Klar dürfte allerdings nur sein, dass die neuen Kräfteverhältnisse in der Linken eine Nominierung Jean-Luc Mélenchons aus den Reihen von LFI unmöglich machen, da die anderen Linksparteien sich strikt dagegenstellen würden. Für diese ist Mélenchon ein viel zu radikaler Vertreter eines konsequenten Linkskurses, der politisches Hindernis sei, die moderat linken Milieus anzusprechen. Die mehr als 60.000 „Neuregistrierungen“ bei LFI sprechen allerdings nicht dafür, dass Mélenchon und LFI innerhalb des linksaffinen Frankreichs auf Ablehnung stoßen.
Staatspräsident Macron derweil, der gestern lange zögerte, ob er am Abend noch eine Erklärung zu den Wahlergebnissen abgeben solle, hat sich erst einmal für eine gewisse passive Haltung entschieden. Zwar ernannte er den heute zurückgetretenen Premierminister Gabriel Attal zum „geschäftsführenden“ Premierminister, weitere politische Entscheidungen seinerseits sollen erst nach der Konstituierung der Nationalversammlung am 18. Juli folgen. Insgeheim dürfte man aber weiterhin darauf hoffen, dass das Linksbündnis zerbricht und man weite Teile der institutionalisierten Linken ohne LFI in eine Regierung der „nationalen Einheit“ einbinden kann, in welcher man weiterhin die ideologische Richtung angeben möchte. Ob das zeitnah klappt, ist unwahrscheinlich. Staatspräsident Macron scheint daher mittelfristig in seiner politischen Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt. Ob sich die Nationalversammlung ihrerseits zu einem Ort wandeln kann, wo von Fall zu Fall stabile Mehrheiten in Sachfragen zustande kommen könnten, bleibt ebenso unklar. Dazu stehen sich die Blöcke politisch zu feindlich gegenüber. Faktisch sieht alles nach einer längeren Phase der Unregierbarkeit aus.
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