Wie erwartet verlor der konservative Premier Rishi Sunak in Großbritannien die Parlamentswahlen am vergangenen Donnerstag haushoch und wird nun durch den genauso vernetzten Sir Keir Starmer ersetzt. Zur Abwechslung ist er Mitglied der Arbeiterpartei. Der nicht nur im Vereinigten Königreich benötigte grundlegende Wandel bleibt aus. Ein Kommentar aus Glasgow von Moritz Müller.
Begünstigt durch das britische Wahlsystem kann sich der neue Premierminister Keir Starmer fast auf eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus stützen. Die Labour Party erhält 412 der 650 Sitze, resultierend aus 33,7 Prozent der gültigen Stimmen. Die Konservativen können aus 23,7 Prozent nur 121 Sitze schöpfen. Die Liberaldemokraten erhöhten ihren Stimmenanteil um 0,7 auf 12,2 Prozent und können damit die Zahl ihrer Sitze verneunfachen.
Die Rechtsaußenpartei Reform UK bekommt für 14,3 Prozent der Wählerstimmen nur fünf Sitze, und auch die Grünen können mit 6,4 Prozent der Stimmen nur vier Sitze holen, genauso wie die walisische Regionalpartei Plaid Cymru mit 0,7 Prozent. Für die gleichen 0,7 Prozent gibt es für die nordirische Partei Sinn Féin allerdings sieben Sitze.
Der jetzige „Erdrutschsieg“ der Labour-Partei unter Starmer war mit einer halben Million Stimmen weniger zu erreichen als die „historische Niederlage“ von Labour im Dezember 2019 unter dem damaligen Vorsitzenden Jeremy Corbyn, der von seinem Nachfolger damals aus der Partei geworfen wurde.
Das ist alles sehr abstrus und hängt mit der niedrigeren Wahlbeteiligung am Donnerstag und dem britischen Mehrheitswahlrecht zusammen, welches nur Direktmandate kennt. Es genügt in jedem Wahlkreis eine einfache Mehrheit. Theoretisch würden bei zehn Kandidaten in einem Wahlkreis bei gleichmäßiger Stimmverteilung zehn Prozent plus eine Stimme reichen, um gewählt zu werden.
Kein Wunder, dass die Wahlbeteiligung nur bei 60 Prozent lag, denn außer regionalen Parteien, die ihre Stimmen in wenigen Wahlkreisen holen, haben andere Minderheiten kaum eine Chance, nennenswert im Unterhaus vertreten zu sein. Das ist ähnlich undemokratisch wie die Fünfprozenthürde in Deutschland.
2011 hat eine Mehrheit der Wähler in einem Referendum gegen eine Änderung des Wahlrechts gestimmt. Das dürften wohl die sein, die auch die großen Parteien wählen, die vom derzeitigen Wahlsystem profitieren. Ein Argument, das jetzige Wahlrecht beizubehalten, ist, dass es Stabilität begünstigt.
Das tut es allemal, aber es ist auch die Stabilität des „Weiter so“, mit dem der derzeitige Status Quo zementiert ist. Die Labour Party konnte im letzten Jahr historische Höchstwerte bei Einzelspenden erzielen und hatte die Konservativen während des Wahlkampfs sogar komfortabel überholt.
Eine Schlussfolgerung daraus ist wohl, dass das geldreiche Establishment auf den Gewinner gesetzt hat, während die abgewirtschafteten Konservativen dieses Mal von Wählern wie Wirtschaft abgeschrieben wurden. Es gab auch Geld für Labour von der Israel-Lobby, wohl einerseits als Belohnung dafür, dass Starmer seinen Vorgänger Corbyn mitsamt vielen Vertretern von dessen linkem Flügel aus der Partei gemobbt hat mit der Begründung, Corbyn habe antisemitische Umtriebe in der Labour-Partei gefördert. Später entpuppten sich diese Vorwürfe als konstruierte Kampagne gegen Corbyn und zu einer Art Säuberung der Labour Party von fortschrittlichen Geistern. Dies führte auch zu massenweisen Parteiaustritten von Corbyn-Anhängern. Starmer hatte Glück, dass diese Affäre von Covid-Nachrichten und dem Brexit in den Schatten gestellt wurde.
Andererseits kann diese Lobby nun wohl zu Recht darauf hoffen, dass die neue Regierung sich beim Massenmorden in Gaza weiter in Komplizenschaft übt, wegschaut und gleichzeitig Waffen sowie militärische Aufklärung an die von allen guten Geistern verlassene israelische Regierung liefert. Dies ist Kontinuität in einer nicht so guten Form.
Die Stimmen des jetzt unabhängigen Abgeordneten Jeremy Corbyn, der in seinem angestammten Wahlkreis mit 48 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde, und vier weiterer Unabhängiger, die sich die Solidarität mit Gaza auf ihre Fahnen geschrieben haben, werden im Unterhaus wahrscheinlich schwer zu hören sein, aber immerhin gibt es sie nun dort.
Leider hat es der wortgewaltige Fürsprecher Palästinas George Galloway nicht ins Unterhaus geschafft. Auch seine Stimme wird dort fehlen, genau wie die von dem im Wahlkreis Blackburn als unabhängiger Kandidat angetretenen Craig Murray.
Die gleiche gefährliche Kontinuität gibt es im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Anstatt den Dialog mit Russland zu suchen und den mörderischen Konflikt mit Verhandlungen zu beenden, wird das Vereinigte Königreich unter Labour weiter Waffen und sinnlose Ermutigungen nach Kiew schicken, genau wie es vor zwei Jahren der damalige Premier Boris Johnson tat, als er einen schon ausgehandelten und für die Ukraine im Vergleich zu heute günstigen Friedensplan torpedierte.
Der neue Labour-Verteidigungsminister John Healey MP ist nun weniger als 48 Stunden nach seiner Ernennung nach Odessa geflogen, um sich mit Wolodymyr Selenskyj zu treffen. Healey brachte auch ein umfangreiches Paket mit militärischen Gütern, die er der Ukraine versprochen hat. Das bedeutet unter anderem weiteren Profit für die britische Rüstungsindustrie. Das Paket wurde sicher auch nicht in den letzten 48 Stunden geschnürt – ebenfalls ein Zeichen von fragwürdiger Kontinuität.
Der neue Premierminister Starmer hat sich am 3. Juni bei einer Wahlkampfveranstaltung uneingeschränkt zu den britischen Nuklearwaffen bekannt und gesagt, dass er „natürlich darauf vorbereitet“ sei, diese einzusetzen. Wenn man diesen Artikel auf DECLASSIFIED UK liest, fragt man sich, ob Starmer hier wirklich gut informiert ist bezüglich der immensen politischen, wirtschaftlichen und technischen Schwierigkeiten, die diese Waffen für das Vereinigte Königreich aufwerfen – bei zweifelhaftem (militärischen) Nutzen. Es scheint hier um britisches Prestige zu gehen und darum, den Platz als eins der fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats zu erhalten.
Andererseits kann eine Labour-Regierung Entscheidungen treffen, die eine konservative Regierung in Konfrontation mit der Bevölkerung führen würde. Wenn man die vermeintlich progressiven und sozialen Entscheidungsträger auf seiner Seite hat, lassen sich unbequeme Maßnahmen eher als notwendiges Übel verkaufen. So geschehen mit New Labour unter Tony Blair oder mit der Agenda 2010 durch die erste rot-grüne Regierung in der Bundesrepublik. Auch der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr in Jugoslawien erfolgte 1999 unter dieser Regierung.
Diese zunächst einmal überraschend erscheinenden Entscheidungen meint der britische Milliardär John Caudwell, der nun die Labour-Partei unterstützt, wenn er sagt: „Wir brauchen eine sehr starke Labour-Regierung, die äußerst mutige Entscheidungen treffen kann, und Sie können sicher sein, dass ich mein Bestes tun werde, um sie zu beeinflussen, wo immer ich kann, um das „Groß“ wieder in Britannien zu tun.“ („We need a very strong Labour Government that can take extremely bold decisions and you can rest assured that I will be doing my best to influence them wherever I can, in putting the great back in Britain.”)
Beim letzten Satz fühlt man sich an Donald Trump erinnert, und hier schließt sich der Kreis. Wenn es um Geld, Macht und Einfluss geht, dann sind sich die oberen Zehntausend so ähnlich, dass man sie als Teile desselben Establishments sehen kann, welches für das Volk den Zirkus der Demokratie aufführt.
Die neue Regierung hat allerdings das umstrittene Ruanda-Gesetz gekippt. Nach diesem Gesetzentwurf sollten Asylbewerber, die es nach Großbritannien schaffen, sofort in ein Flugzeug nach Ruanda gesetzt werden, um dort deren Asylantrag zu bearbeiten. Dafür sollte Ruanda Geld erhalten. Kritiker hatten angemerkt, dass Ruanda sowieso schon genug Probleme habe und dieser Plan gegen alle möglichen internationalen Abkommen verstoße.
Es war sowieso äußerst fraglich, wie der Plan hätte umgesetzt werden können, nachdem der Oberste Britische Gerichtshof sein Veto eingelegt hatte. Somit ist die Entscheidung, das Gesetz zu streichen, eine bequeme Entscheidung, um die Labour-Wählerschaft zu befriedigen, und man darf gespannt sein, welchen gut klingenden Plan Labour nun ausheckt, um ihn als alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen.
Es wird sicher nicht die naheliegende Entscheidung sein, sich nicht mehr allerorten militärisch einzumischen und Konflikte zu schüren, die die Massenwanderungen der letzten Jahre erst auslösten. Auch das zunehmende wirtschaftliche Ungleichgewicht tut ein Übriges dazu, dass Menschen ihre Heimat auf der Suche nach einer besseren Zukunft verlassen. Großbritannien ist offiziell keine Kolonialmacht mehr, aber dennoch wirkt der Einfluss britischer Kolonialpolitik bis heute fort.
Wahrscheinlich wird auch die Privatisierung des britischen nationalen Gesundheitsservices NHS unter Labour weiter fortschreiten, vielleicht etwas abgemildert und erst einmal langsamer, aber auch in diesem Fall scheint der Erhalt der einstmals vorbildlich funktionierenden NHS sehr unsicher.
Keir Starmer war von 2008 bis 2013 Chefankläger des Vereinigten Königreichs. In diese Zeit fällt das Auslieferungsgesuch Schwedens bezüglich Julian Assange. Der Starmer damals unterstehende Crown Prosecution Service mauert bis heute, wenn es um diesen Fall geht, und die Rolle von Starmer, der sich damals öfter in den USA aufhielt und mit Vertretern des US-Justizministeriums traf, ist bis heute ungeklärt. Wahrscheinlich wird der Fall durch seine Ernennung zum Premierminister nicht unbedingt transparenter.
Den schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen hatte Starmer vor der Wahl eine deutliche Absage erteilt, als er sagte, dass es unter ihm kein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands geben werde. Die schottische Nationalpartei SNP verlor am Donnerstag 39 ihrer vorher 48 Sitze im Unterhaus, als hätten die Wähler den Gedanken der schottischen Unabhängigkeit nun ganz aufgegeben. Oder sie trauten der SNP die Durchsetzung der Unabhängigkeit nicht mehr zu.
Wahrscheinlich wird sich die britische Politik in einigen Details etwas ändern, und vielleicht werden einige der involvierten Politiker und Politikerinnen etwas appetitlicher erscheinen als die zuletzt doch sehr abgehoben wirkende Garde der Konservativen. Aber große Änderungen sollte man von der „neuen“ Regierung im Vereinigten Königreich nicht erwarten.
Vielleicht ist es auch einfach das menschliche Naturell, welches möglichst wenig Veränderung will – und wenn, dann höchstens kosmetischer Natur.
Corbyn schaffte es trotzdem, seinen Wahlkreis in London mit 48 Prozent der Stimmen auch gegen die Labour-Kandidatin zu verteidigen.
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