Die Regierungen von drei militärisch besonders starken NATO-Staaten in der EU – Deutschland, Frankreich und Polen – haben die Entwicklung weitreichender Abstandswaffen vereinbart. Zuvor hatten die Militärminister der Staaten laut Boris Pistorius (SPD) bei einem Treffen in Paris eine sogenannte „gravierende Fähigkeitslücke in Europa“ konstatiert. Regierungen in sich demokratisch verstehenden Staaten haben aber als vordringlichste Aufgabe die Verantwortung, Schaden von den Menschen abzuwenden. In Widerspruch dazu forcieren sie das Risiko der Auslöschung der Menschheit unter dem Etikettenschwindel der von ihnen so genannten ›Sicherheitspolitik‹. Ein Kommentar von Bernhard Trautvetter.
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Die eingangs erwähnten Flugkörper – Marschflugkörper und Raketen – haben die Fähigkeit, im Luft-Boden-Einsatz ihr Ziel selbstständig und mit hoher Genauigkeit zu treffen. Die Marschflugkörper – etwa vom Typ Cruise Missile – können von einem Kampfjet in einem so großem Abstand vom Ziel gestartet werden, dass der Angreifer nicht in den Bereich der gegnerischen Flugabwehrsysteme kommt.
Marschflugkörper wie Taurus und Cruise Missiles fliegen nach dem Abfeuern ein zuvor programmiertes Ziel in einer so niedrigen Flugbahn an, dass sie vom gegnerischen Radar nur schwer erfasst werden können. Sie sind dadurch erstschlagsfähig: Sie können dem gegnerischen Radar durch ihre Eigenschaften, darunter die geringe Flughöhe von teils deutlich weniger als 100 Meter, entgehen.
Diese Offensivsysteme können zudem infolge ihrer großen Reichweite als Abstandswaffen und aufgrund „der außerordentlichen Präzision … durchaus strategische Aufgaben erfüllen, wenn sie etwa einen zementierten ICBM-Silo (intercontinental ballistic missile) …“ zerstören.
Die Fähigkeiten der Marschflugkörper steigern die Gefahr eines Atomkriegs als immer wahrscheinlicher werdende Konsequenz aus einer Kette von Fehlern und Irrtümern unter ungeheurem Verantwortungs- und Zeitdruck, der jeden überfordert: Da die Radaraufklärung im Konfliktfall keine Zeit hat, zu überprüfen, ob ein Angriff erfolgt oder ein Fehlalarm vorliegt, hängt die Zivilisation an einem seidenen Faden. Die Militärs gehen dieses Risiko sehenden Auges ein.
Diese Gefahr war der Friedensbewegung der 1980er-Jahre bewusst, was ein zentraler Grund für ihre Stärke war. Auf der ersten großen Bonner Friedensdemonstration – am 10.10.1981 – warnte damals der Direktor des Instituts für Verteidigung und Abrüstung, Massachusetts, Randalf Forsberg: Die neuen amerikanischen Raketen, die in Europa stationiert werden sollen, führen dazu, „dass die sowjetischen Generäle in einem Krisenfall unter einem großen Druck stehen …, sich für einen Präventivschlag … entscheiden zu müssen, bevor … ihre eigenen Kommandozentralen“ zerstört sein könnten (Aktion Sühnezeichen, 10.10, Westberlin 1981, S. 96).
Die sich gegenwärtig zuspitzende Situation am Rande des Atomkriegs weist Parallelen zur Kuba-Krise auf, die als die gefährlichste Krise des Kalten Krieges gilt: Vor einem Jahr berichtete der Südwestrundfunk unter der Überschrift »Die Kuba-Krise 1962 – Als der Kalte Krieg fast zum Atomkrieg wurde«:
„Im Oktober 1962 stehen die USA und die Sowjetunion kurz vor einem Dritten Weltkrieg. Die UdSSR unter Nikita Chruschtschow haben Mittelstreckenraketen auf Kuba stationiert, was die US-Regierung von John F. Kennedy als direkte Provokation betrachtete. Die Weltgemeinschaft fürchtet eine nukleare Eskalation im Streit der beiden Supermächte.“
Kennedy drohte mit Atomschlägen gegen solche Offensivsysteme vor der Haustür der USA. Er betonte, solche Waffen würden die USA in ihrer Hemisphäre niemals akzeptieren.
Nun soll das Russland umgekehrt tun.
Bei der heutigen umgekehrten Kubakrise geht es erneut um das Risiko, das niemand jemals eingehen darf: Wir stehen am Abgrund des Untergangs der Zivilisation. In der Situation sind alle Aktionen für den Frieden existenziell, sei es der ICAN-Appell für den Atomwaffenverbotsvertrag oder der gegen Hyperschallraketen, die ebenfalls jede Vorwarnzeit wegschmelzen lassen.
Das Argument der NATO-Lobby, der Westen müsse eine „Fähigkeitslücke“ schließen, nachdem Russland in Europa bereits vorgerüstet habe, ist heute so kurzsichtig wie immer schon. Im Konflikt um die Lügen der NATO während der Hoch-Zeit der Friedensbewegung nahm der sozialdemokratische Spitzenpolitiker Erhard Eppler dieses Propaganda-Narrativ auseinander: Die Russen (damals die Sowjets) verhandeln, weil sie die US-Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden mehr zu fürchten haben als die USA das gegnerische Arsenal ähnlicher militärischer Fähigkeiten in Osteuropa; der Atlantische Ozean zwischen Europa und der USA bedeutet, dass diese Atomraketen „amerikanisches Territorium nicht erreichen“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln 9/1983, S. 1194).
Im Übrigen spricht, wer von Kriegsfähigkeiten spricht, vom finalen Krieg und dies selbst in einem nicht-atomaren Krieg – in Europa, dies schon alleine aufgrund der über 170 Atomreaktoren auf diesem Erdteil. Sie bedürfen garantiert ununterbrochener Kühlung, sonst droht eine Kernschmelze und mit ihr die Verstrahlung dicht besiedelter Regionen mit einem Eskalationsrisiko, das jenseits der Kontrollierbarkeit verläuft. Die Gründungs-Ikone der Grünen, Petra Kelly, wies auf diese Bedrohung 1981 hin:
„Dank der zahlreichen AKWs … besteht aber auch die ›Chance‹, aus einem ganz gewöhnlichen Krieg einen Atomkrieg zu machen.“ (Aktion Sühnezeichen, 10.10.1981, S. 147)
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