„Staatswohl überwiegt…“ – Bundesregierung will Erkenntnisse zum israelischen Angriff auf Rafah um jeden Preis geheim halten

„Staatswohl überwiegt…“ – Bundesregierung will Erkenntnisse zum israelischen Angriff auf Rafah um jeden Preis geheim halten

„Staatswohl überwiegt…“ – Bundesregierung will Erkenntnisse zum israelischen Angriff auf Rafah um jeden Preis geheim halten

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Am 26. Mai bombardierte die israelische Luftwaffe das Flüchtlingslager Barkasat in der im Süden Gazas gelegenen Großstadt Rafah. Dabei wurden mindestes 45 Personen, darunter zahlreiche Kinder und Frauen, getötet und mehrere Hundert zum Teil schwer verletzt. Regierungssprecher Hebestreit schloss einen Tag später auf der Bundespressekonferenz einen gezielten Angriff aus und erklärte, die Bombardierung sei auf „einen Fehler“ zurückzuführen. Der BSW-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko wollte in Folge von der Bundesregierung wissen, auf welchen konkreten Erkenntnissen die Aussage des Sprechers von Kanzler Olaf Scholz beruhte. Die Antwort liegt den NachDenkSeiten vor und wirft zahlreiche Fragen auf. Denn statt eine Antwort auf die konkrete Frage zu liefern, wird seitenlang erläutert, wieso eine Beantwortung „auch nicht in eingestufter Form“ erfolgen könne, da diese das Staatswohl und das Geheimhaltungsinteresse der Bundesrepublik Deutschland gefährden würde. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Welche konkreten Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregierung darüber, dass bei dem Luftangriff der israelischen Streitkräfte auf Rafah, wie von Regierungssprecher Steffen Hebestreit behauptet, „auf alle Fälle ein Fehler passiert“ sei und es kein gezielter Angriff gewesen sein könne und welche weiteren Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche), die verifiziert werden konnten, hat die Bundesregierung über den Luftangriff der israelischen Streitkräfte auf Rafah?“

So lautet die vollständige Frage des Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, der der parlamentarischen Gruppe des BSW angehört. Die Frage ist konkret gestellt und wäre eigentlich entsprechend einfach zu beantworten à la ‚Der Bundesregierung liegen folgende Erkenntnisse XY vor…‘ oder aber auch mit dem sonst üblichen Antwortklassiker auf schriftliche Fragen oder Kleine und Große Anfragen der Opposition: „Die Bundesregierung verfügt über keine Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung…“.

Doch stattdessen wird in dem Schreiben der Bundesregierung, abgesehen von einem lapidaren Satz, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu von einem „tragischen Fehler“ gesprochen habe, auf sage und schreibe drei DIN-A4-Seiten begründet, wieso die Bundesregierung „auch nicht in eingestufter Form“ einen Großteil der Frage von Hunko, der als Bundestagsabgeordneter über ein verfassungsrechtlich besonders geschütztes Fragerecht verfügt, beantworten kann. Denn die Beantwortung der Frage betreffe angeblich „solche Informationen, die in besonders hohem Maße das Staatswohl berühren. Das verfassungsrechtlich verbürgte Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung findet seine Grenzen in den gleichfalls Verfassungsrang genießenden schutzwürdigen Interessen des Staatswohls.“

Weiter heißt es in dem vom Staatssekretär im Auswärtigen Amt Thomas Bagger im Namen der Bundesregierung gezeichneten Dokument, dass „eine Offenlegung der angefragten Informationen“ die Gefahr berge, „dass Einzelheiten zur konkreten Methodik und zu in hohem Maße schutzwürdigen spezifischen Fähigkeiten des Bundesnachrichtendienstes bekannt würden. Infolgedessen könnten sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure Rückschlüsse auf spezifische Vorgehensweisen und Fähigkeiten des BND ziehen.“

Darauf aufbauend behauptet die Ampel-Regierung dann, dass eine „Offenlegung der angeforderten Informationen und Auskünfte“ dazu führen würde, „dass Einzelheiten bekannt würden, die unter dem Aspekt des Schutzes der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern besonders schutzbedürftig sind“. Und eine solche öffentliche Bekanntgabe von Informationen „zu Einzelheiten der Kontakthaltung zu bestimmten ausländischen Partnerdiensten sowie zu deren Leistungsfähigkeit und Ausrichtung“ hätte „erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit des BND mit ausländischen Nachrichtendiensten“.

„Eine Bekanntgabe dieser Informationen“, so die weitere Argumentation der Bundesregierung, würde auch gegenüber einem begrenzten Kreis von Empfängern wie Bundestagsabgeordneten dem Schutzbedürfnis des deutschen Auslandsgeheimdienstes nicht Rechnung tragen, „da bei einem Bekanntwerden der schutzbedürftigen Information kein Ersatz durch andere Instrumente der Informationsgewinnung möglich wäre.“

Die Bundesregierung schließt mit den Worten:

„Aus dem Vorgesagten ergibt sich, dass die erbetenen Informationen derart schutzbedürftige Geheimhaltungsinteressen berühren, dass das Staatswohl gegenüber dem parlamentarischen Informationsrecht wesentlich überwiegt. Insofern muss ausnahmsweise das Fragerecht der Abgeordneten gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung zurückstehen.“

Es stellt sich unmittelbar die Frage, über welche Art von Erkenntnissen zum israelischen Angriff auf Rafah die Bundesregierung verfügen muss, wenn sie eine Antwort selbst an gewählte Vertreter der Legislative fast vollumfänglich unter Verweis auf Gefährdung des „Staatswohls“ verweigert.

Um sich besser den absoluten Ausnahmecharakter dieser fast kompletten Antwortverweigerung der Bundesregierung bewusst zu machen, ist es nötig, sich mit der sogenannten „Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages“ vertraut zu machen. Diese regelt den Zugang von Bundestagsabgeordneten für jede Art von Informationen, die als Verschlusssachen (VS) gewertet werden. Als VS gelten alle Angelegenheiten, „die durch besondere Sicherheitsmaßnahmen gegen die Kenntnis durch Unbefugte geschützt werden müssen“. In diesem Rahmen definiert die Geheimschutzordnung vier Geheimhaltungsstufen in absteigender Relevanz:

  1. Als streng geheim (str. geh.) eingestuft werden VS, deren Kenntnis durch Unbefugte den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden würde.
  2. Als geheim (geh.) eingestuft werden VS, deren Kenntnis durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden, ihren Interessen oder ihrem Ansehen schweren Schaden zufügen oder für einen fremden Staat von großem Vorteil sein würde.
  3. Als VS-Vertraulich (VS-Vertr.) eingestuft werden VS, deren Kenntnis durch Unbefugte den Interessen oder dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder abträglich oder für einen fremden Staat von Vorteil sein könnte.
  4. VS, die nicht unter die Geheimhaltungsgrade streng geheim, geheim oder VS-Vertraulich fallen, aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, erhalten den Geheimhaltungsgrad VS-Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD).

Selbst zu den zwei höchsten Geheimhaltungsstufen „streng geheim“ und „geheim“ haben Bundestagsabgeordnete normalerweise Zugang, wenn auch nur in den Räumen der Geheimregistratur:

Doch wie dargelegt, wertet die Bundesregierung ihre Erkenntnisse zu dem Angriff auf Rafah sogar höher als die maximal existierende Geheimhaltungsstufe „streng geheim“, die wohlgemerkt definiert wird als „deren Kenntnis durch Unbefugte den Bestand der Bundesrepublik Deutschland gefährden würde“. Es ist schwer vorstellbar, dass die der Bundesregierung vorliegenden Informationen zu Rafah tatsächlich das Potenzial haben, diese Definition zu erfüllen.

Das führt zu der Frage, was die Bundesregierung motiviert, so schweres argumentatives Geschütz aufzufahren. In einem wegweisenden Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 2014 zum Antwortverhalten der Bundesregierung gegenüber Bundestagsabgeordneten, erstritten von denen damals noch in der Opposition sitzenden Grünen, heißt es unmissverständlich:

„Die Antworten der Bundesregierung auf schriftliche Anfragen und auf Fragen in der Fragestunde des Deutschen Bundestages sollen dazu dienen, dem Bundestag und den einzelnen Abgeordneten die für ihre Tätigkeit nötigen Informationen auf rasche und zuverlässige Weise zu verschaffen. Die Bundesregierung schafft mit ihren Antworten auf parlamentarische Anfragen so die Voraussetzungen für eine sachgerechte Arbeit innerhalb des Parlaments.“

Unter Verweis auf Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes hatte das Bundesverfassungsgericht am 1. Juli 2009 zudem nochmals festgehalten, dass es nach ständiger Rechtsprechung ein Frage- und Informationsrecht der Abgeordneten gibt, mit welchem eine Antwortpflicht der Bundesregierung einhergeht.

Es steht folglich die Frage im Raum, ob sich die Bundesregierung angesichts der geschilderten Antwortverweigerung noch auf dem Boden des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des BVerfG bewegt.

Die einzige konkrete Antwort ist mutmaßlich gelogen

„Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu sprach mit Blick auf die Konsequenzen von einem „tragischen Fehler“.“

Dies ist wie geschildert auf den ganzen vier Seiten der einzige konkrete Satz zu der mutmaßlichen Informationsquelle von Regierungssprecher Hebestreit hinsichtlich seiner Aussage, dass der Angriff der israelischen Armee auf Rafah kein gezielter Angriff war, sondern auf einen Fehler zurückzuführen sei.

Wenn dies als Antwort auf die Frage nach den „konkreten Erkenntnissen“, die der Aussage des Regierungssprechers zugrunde lagen, gelten soll, dann stellt sich die Frage, wie der Regierungssprecher am 27. Mai um 11:30 Uhr deutscher Zeit (Beginn der Bundespressekonferenz) von einer Aussage des israelischen Premiers wissen konnte, die dieser – nach allen verfügbaren Informationen – am selben Tag erstmals bei einer Debatte in der Knesset, die um 15 Uhr deutscher Zeit begann, getätigt hatte. Davon abgesehen erscheint es auch grundsätzlich problematisch, dass sich ein deutscher Regierungssprecher ungeprüft die Aussage des Regierungschefs einer Kriegspartei zu eigen macht.

Diesen Kritikpunkt sieht auch der Initiator der Anfrage an die Bundesregierung, der BSW-Abgeordnete Andrej Hunko. Auf Nachfrage, wie er die Antwort der Bundesregierung bewertet, erklärt er gegenüber den NachDenkSeiten:

„Die Antwort der Bundesregierung zeigt, dass sie sich blind auf die Aussagen der israelischen Regierung verlässt. Selbst im Zusammenhang mit dem folgenschweren Luftangriff des israelischen Militärs auf Rafah Ende Mai, der zu einer großen Anzahl Getöteter und Verletzter führte, äußert die Bundesregierung keinerlei Kritik.“

“Während die Bundesregierung gegenüber der Öffentlichkeit und dem Bundestag keinerlei Auskunft erteilt, legt sich der Regierungssprecher Stunden nach dem folgenschweren Angriff des israelischen Militärs mit einer Vielzahl Toter und Verletzter fest und spricht offensichtlich ohne jede Grundlage von einem Fehler. Die Bundesregierung kopiert ihre Statements scheinbar direkt vom israelischen Ministerpräsidenten.”

Die gesamte Antwort der Bundesregierung ist hier einsehbar:

Titelbild: Shutterstock / Polonio Video

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!