„Scripted Reality” – Wie Narrativ-Konstruktionen unser Denken und Handeln bestimmen

„Scripted Reality” – Wie Narrativ-Konstruktionen unser Denken und Handeln bestimmen

„Scripted Reality” – Wie Narrativ-Konstruktionen unser Denken und Handeln bestimmen

Maike Gosch
Ein Artikel von Maike Gosch

Als ich vor vielen Jahren noch als Drehbuchautorin für das deutsche Fernsehen arbeitete, lernte ich das Format „Scripted Reality“ kennen. Es bedeutet, dass bei einem eher dokumentarischen Format (wie bei Make-Over-Sendungen oder Renovierungs-Shows), wenn die Realität zu langweilig, zu wenig emotional, zu wenig strukturiert ist, dieser durch geschriebene Szenen und inszenierte Situationen „nachgeholfen“ wird. In den letzten Jahren habe ich beim Blick auf die Politik und die politische Kommunikation bemerkt, dass hier ähnliche „narrative“ Eingriffe vorgenommen werden – nicht, um für bessere Unterhaltung zu sorgen (obwohl manchmal aus strategischen Gründen auch), sondern als Machtinstrument, um unsere Wahrnehmung zu formen und in eine gewünschte Richtung zu leiten. Im folgenden Essay werde ich das genauer beleuchten. Von Maike Gosch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wir leben in aufgeregten Zeiten und verwirrenden Zeiten. Und es ist noch gar nicht so lange her, dass das anders war (oder anders erschien). Ich erinnere mich noch gut an die Zeit als Studentin und Berufsanfängerin zwischen 1992 – 1998, in der ich mir größtenteils der politischen Wirklichkeit sicher war. Ich lebte in den Narrativen wie in einem stabilen Gebäude. Der Westen war gut. Der Fortschritt lief. Demokratie und Kapitalismus waren ein harmonisches Paar. Die Zeiten des Krieges in Europa waren überwunden. Die Europäische Gemeinschaft wuchs zusammen. Die Welt wurde kontinuierlich freier, verbundener, wohlhabender, besser. Die internationalen Institutionen wie UNO, WTO/GATT, Weltbank, OSZE, OECD und die EU, ebenso wie unsere Regierungen in (West-)Europa, waren der Freiheit und dem Wohlstand der Bevölkerung verpflichtet. Der Kommunismus war überwunden, die Sowjetunion aufgelöst, der Eiserne Vorhang gehoben, Osteuropa befreit, Deutschland wieder vereint und alles auf dem besten Weg. Sicher, es war noch nicht alles perfekt auf der Welt, aber alle (im Westen) arbeiteten nach bestem Wissen und Gewissen daran, die Welt besser und sicherer für alle zu machen.

Als junge Jurastudentin in Hamburg Anfang der 90er Jahre dachte ich tatsächlich so. Ich studierte deutsches und internationales Recht, las den Economist und die Monde Diplomatique, die ZEIT und die Süddeutsche sowieso. Ich studierte im Ausland (im Rahmen des ERASMUS-Programmes), machte Praktika in Brüssel und machte mir Gedanken darüber, wie ich an diesen vielen schönen Fortschrittsprojekten mitarbeiten könnte. Heute sieht die Welt für mich anders aus. Meine und die Perspektive vieler Menschen hat sich geändert. Ist die Welt komplizierter und böser geworden oder wir nur klüger und aufgeklärter? Oder Beides?

Wir erleben ein Aufbrechen der Narrative, des Narrativs des wohlwollenden Westens, des Narrativs der wohlstandsfördernden Globalisierung, in der die Menschen als globale Gemeinschaft friedlich zusammenleben, des Narrativs der notwendigen Verbindung von Demokratie und Kapitalismus. Und vieler anderer Geschichten mehr.

Wie gehen wir als Gesellschaft damit um? Wir sammeln uns um verschiedene „Lagerfeuer“ (wie es in der Storytelling-Welt heißt), bilden „Bubbles“ oder „Echokammern“, vertrauen verschiedenen Medienarten, manche den „Mainstreammedien“, andere den „alternativen Medien“.

Das Misstrauen wächst und damit die Verschwörungstheorien, und viele, die so bezeichnet wurden, stellen sich über kurz oder lang als wahr oder zumindest wahrscheinlich heraus, wie z.B. die Massenabhörungen durch die NSA oder die Theorie des Laborursprungs beim Corona-Virus. Gleichzeitig wird die Zensur verstärkt, zur Unterdrückung von gefährlichen Fake News und Hassrede oder der Wahrheit (je nachdem, wie man es sieht).

Rütteln an den Grundfesten

Anbei ein paar Beispiele gesellschaftlicher Narrative, die Grundmuster waren, in denen ich bestimmte politische und gesellschaftliche Themen wahrnahm, ohne sie als solche zu erkennen, und die ich erst im Rückblick als „Spin“ oder „Narrative Management“ (wie es im Fachjargon heißt) erkannte:

PR-Agenturen als Kriegsvorbereiter: Ein Beispiel aus dem 1990ern

Hier geht es um die Narrative und die Rolle von PR-Agenturen, Medien und Politikern im Kosovo-Krieg 1999. Wir erinnern uns: Die NATO, die bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend ein Verteidigungsbündnis war, plante geführt von den USA kriegerische Angriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Restrepublik bestehend aus Serbien, Montenegro und dem Kosovo) unter dem Vorwand eines humanitären Einsatzes, aber vermutlich aus geostrategischen Machtinteressen. Ohne Aussicht auf ein Mandat der Vereinten Nationen für Luftangriffe auf Belgrad wollten sie, nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen von Rambouillet, auf kriegerischem Weg die Serben dazu bringen, eine Abtrennung des Kosovo und die Stationierung von NATO-Truppen in ihrem Staatsgebiet zu akzeptieren. Allerdings war die öffentliche Meinung in den europäischen Ländern, insbesondere in Deutschland, gegen einen nicht von der UN sanktionierten und damit völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz, der zudem gegen das deutsche Grundgesetz verstieß. Diese Haltung rührte in Deutschland sicherlich auch aus der historischen Erfahrung des 2. Weltkriegs.

In dieser Situation wurden Mitte Januar 1999 die Vorfälle im kosovarischen Dorf Račak mit einem Schlag zum globalen Medienereignis. Der US-amerikanische Chef der OSZE-Beobachtermission im Kosovo, William Walker, trat es los, als er medienwirksam vor einer mit Leichen gefüllten Grube erschüttert erklärte, dass ein Massaker von unaussprechlicher Grausamkeit stattgefunden habe und man Beweise für „Tötungen und Verstümmelungen unbewaffneter Zivilisten“ gefunden habe, wobei „viele aus extremer Nahdistanz erschossen“ worden seien. Die massive Medienberichterstattung verbreitete diese Deutung der Ereignisse um die Welt und insbesondere in die Bevölkerung der NATO-Staaten und zu ihren politischen Entscheidern.

Anfang der 1990er-Jahre engagierte zunächst die kroatische Seite und (später dann auch die bosnische und die albanische) die US-amerikanische PR-Agentur Ruder Finn für den „Informationskrieg“. Sie trat eine ganze Welle von Pressemeldungen, Presseterminen, Pressematerial los und richtete sogar ein „Bosnia Crisis Communication Center“ ein. Das von dieser Agentur sorgfältig und bewusst konstruierte Narrativ von Serbien als neuem Nazideutschland und Slobodan Milosovic als neuem Hitler bildete den fruchtbaren Boden, auf dem jetzt die Darstellung des sehr komplexen Bürgerkriegs – mit Kriegshandlungen und Kriegsverbrechen von allen beteiligten Parteien – als neuer Vernichtungskrieg und Völkermord durch die Serben an ihrer eigenen Bevölkerung verzerrend dargestellt werden konnte. Die Schemen der schrecklichen Massaker und Völkermorde des 2. Weltkriegs wurden beschworen, erstanden wie Geister auf und legten sich über die aktuellen Ereignisse. Das „Massaker von Račak“, über das tagelang und weltweit ausgiebig berichtet wurde, geriet zum Wendepunkt der NATO-Politik gegenüber Belgrad und veränderte die öffentliche Wahrnehmung in Europa und den USA in Bezug auf Luftangriffe auf Jugoslawien.

Dies ermöglichte dann Joschka Fischers Rede am 13. Mai 1999, in der die Sätze fielen: „Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“ So begründete er seine Entscheidung zu der ersten deutschen Beteiligung an einem Angriffskrieg seit dem 2. Weltkrieg.

Vom 24. März 1999 an bombardierte die NATO 78 Tage lang Jugoslawien, bis es im Juni die Stationierung westlicher Soldaten in seiner Krisenprovinz Kosovo akzeptierte.

Als die Berliner Zeitung und der Spiegel im Januar 2001 davon berichteten, dass sich für das angebliche serbische Massaker an Zivilisten in einem wissenschaftlichen Abschlussbericht finnischer Gerichtsmediziner keine Beweise finden ließen und sich weder beweisen ließ, dass es sich um Zivilisten handelte, noch, dass sie aus nächster Nähe erschossen worden waren (vermutlich waren es Kombattanten, was natürlich der Tragik ihres Todes keinen Abbruch tut) und auch keine Verstümmelungen oder sonstige Hinweise auf Grausamkeiten gefunden wurden, war das Kind schon längst in den Brunnen gefallen.

Hier wurde also ein traumatisierendes historisches Ereignis (Holocaust/Auschwitz, die Vernichtung der deutschen jüdischen Mitbürger und anderer Volksgruppen) als Narrativ über eine aktuelle Situation gelegt und dort, wo der Vergleich nicht passte, durch Verzerrung der Tatsachen und Unterdrückung von Hinweisen passend gemacht, um ein bestimmtes kommunikatives Ergebnis zu erreichen. Damit wurden die Gefühle und, insbesondere bei der deutschen Bevölkerung und den deutschen Politikern, die Schuldgefühle über die schrecklichen Verbrechen in der Nazizeit geweckt und so eine politische Entscheidung erreicht, die es ohne dieses manipulierende Narrativ mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gegeben hätte.

Ein anderes Beispiel aus dem Bereich der Wirtschaftspolitik: Wie frei ist der Freihandel?

In diesem Narrativ geht um den Kapitalismus, oder noch spezieller den Neoliberalismus als Erfolgsmodell. Wie der renommierte Cambridge-Ökonom Ha-Joon Chang in seinem Buch „23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen“ nachzeichnet, handelt es sich bei der „Idee des freien Marktes“, die besagt, dass die Märkte, wenn man sie nur in Ruhe lässt, die effizientesten und gerechtesten Ergebnisse herbeiführen und staatliche Interventionen die Effizienz der Märkte dagegen nur bremsen würden, um ein Narrativ, das mit der Wirklichkeit wenig gemeinsam hat. Wie kommt er darauf?

Zunächst einmal argumentiert er, dass die Prämisse dieser Idee (er spricht sogar von „Ideologie“), nämlich das Ausgehen von der Existenz eines komplett „freien Marktes“, also eines Marktes ohne Regeln und Grenzen, die die Wahlfreiheit einschränken, falsch ist, da es einen solchen überhaupt nicht gibt und geben kann.

Im nächsten Schritt überprüft er die Beweisführung für das Erfolgsmodell „freier Markt“: Hier wird von den Vertretern der Ideologie die Methode der geschickten Auswahl des historischen Ausschnitts angewendet, um die Wirklichkeit zu verzerren und so die eigene Deutung als alternativlos zu präsentieren: Mit einigen wenigen Ausnahmen wurden alle heutigen reichen Industrienationen – inklusive Großbritannien und die USA – nur reich durch eine Kombination von starkem Protektionismus, Subventionen und anderen staatlichen Maßnahmen, von denen der Westen (zum Beispiel in Form von Vorgaben der Weltbank und IMF) heute den Entwicklungs- und Schwellenländern stark abrät. Erst als die Industrien in diesen Ländern – auch mithilfe dieses starken Protektionismus und der staatlichen Eingriffe – ihren Konkurrenten in anderen Ländern stark überlegen waren, wurden die Zolltarife, Subventionen und staatlichen Investitionen heruntergeschraubt. Wenn hier also der zeitliche Ausschnitt so gewählt wird, dass man das Ausmaß von staatlichen Eingriffen erst in der wirtschaftlichen Erfolgsphase betrachtet, lässt sich das Narrativ von dem Erfolgsmodell „freie Wirtschaft“ und „Freihandel“ aufrechterhalten. Es entspricht aber nicht der Realität.

Auf einen weiteren Fall eines dominanten Narrativs, das so überzeugend ist, dass ich es als Erzählung gar nicht wahrnahm und deswegen kaum hinterfragte, stieß ich durch ein sehr interessantes und bewegendes Buch, das ich in den frühen 2000er-Jahren las:

So, wie wir waren

In dem wunderbar geschriebenen Geschichtsbuch „Zu einer anderen Zeit“ (Originaltitel: „The Pity of it All”) von 2002 beschreibt der israelische Journalist und Schriftsteller Amos Elon den entscheidenden Einfluss, den jüdische deutsche Männer und Frauen auf einige der wichtigsten kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts in Deutschland hatten und wie intellektuell und emotional eng sie mit der deutschen Geschichte verflochten sind. Insbesondere ihre entscheidende Rolle im Rahmen der 1848er Revolution als Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte, Schriftsteller und Kämpfer war mir vor der Lektüre des Buches kaum bewusst. Erst beim Lesen wurde mir klar, wie sehr ich die „Abspaltung“ der Deutschen jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens von dem Rest der Bevölkerung, die durch die Ideologie der Nationalsozialisten, die Rassengesetze und später den Holocaust erfolgte, historisch rückwirkend auch auf die Jahre und Jahrhunderte davor „projiziert“ hatte. Und mir wurde klar, wie wenig ich über die bewundernswerten demokratischen Bestrebungen deutscher (christlicher, jüdischer, agnostischer) Männer und Frauen in der Mitte des 19. Jahrhunderts wusste, weil ich, wie viele Menschen, die in der Bundesrepublik aufwuchsen, so wenig über unsere eigene demokratische Tradition gelernt hatte.

Der Fokus unserer allgemeinen historischen Bildung (ich spreche natürlich nicht von Historikern, sondern von uns Laien) war in der Schulausbildung und im öffentlichen Diskurs so stark auf die autoritären und diktatorischen Epochen der deutschen Geschichte fokussiert, dass diese Tradition und die Menschen, die sie schufen, fast darin untergegangen waren. Nun kann man sicher über all diese Fragen zu verschiedenen Einschätzungen, Gewichtungen und Bewertungen kommen. Was aber wichtig ist und an diesem Beispiel gut sichtbar, ist, dass eine andere Perspektive auf unsere eigenen demokratischen Traditionen und auf die Geschichte der jüdischen Deutschen möglich ist.

Wir leben in Geschichten, wie Fische im Wasser leben

Die Beschäftigung mit Storytelling und die Analyse gesellschaftlicher Narrative sind also keine nette Nebensache, keine Liebhaberei (das natürlich auch), kein spezielles, aber abseitiges kommunikationstheoretisches Nischenthema, sondern sie dienen dazu, zu erkennen, wie diese Narrative und ihr manipulativer Einsatz wichtige Haltungen und Einschätzungen der Menschen und damit auch wichtige Entscheidungen im Bereich Politik und Wirtschaft beeinflussen.

Es gibt einen Witz, in dem zwei Fische einen Badegast belauschen, der ausruft: „Oh, ist das Wasser schön heute!“ Der eine Fisch sagt darauf zu dem anderen: „Was ist Wasser?“.

Auch wir schwimmen in Narrativen wie Fische im Wasser und sind uns dieses unsichtbaren Umfeldes oft nicht bewusst. Ich wünsche mir, dass die kritische, aber auch konstruktive Beschäftigung mit Narrativen und Narrativ-Konstruktionen dazu führen wird, das gesellschaftliche Bewusstsein über diese Techniken und Prozesse zu stärken. Denn solange wir nicht wissen, dass es diese Ebene überhaupt gibt, oder zu wenig darüber wissen, wie sie funktioniert, sind wir manipulierbar und können nicht zu freien und fundierten Entscheidungen kommen, die wir als Bürger und Bürgerinnen dieser Welt treffen müssen, damit Demokratie funktioniert.

Titelbild: Shutterstock / Zapp2Photo

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