Die Vorrunde der Fußball-Europameisterschaft neigt sich dem Ende zu, und die Welt schaut mit Staunen auf Deutschland. Irgendwie scheint das Klischee der effizienten Deutschen, bei denen alles funktioniert, wohl noch in den Köpfen herumzuspuken. Um so erstaunter sind viele ausländische Fans, wenn Klischee und Wirklichkeit aufeinandertreffen. Chronisch unpünktliche Züge, eine Verkehrsinfrastruktur, die schon zu normalen Zeiten an ihre Grenzen stößt, chaotische Zustände auf den Bahnhöfen – wir Deutschen kennen das, für viele aus dem Ausland angereiste Fans ist das neu. Es grenzt fast an ein Wunder, dass noch nichts Ernstes passiert ist. Vielleicht sollten internationale Sportverbände sich künftig zweimal überlegen, Großveranstaltungen in ein Land zu vergeben, in dem zwar die Menschenrechte geachtet werden, das sich aber derart kaputtgespart hat, dass es objektiv nicht mehr in der Lage ist, die Welt zu sich einzuladen. Ein Kommentar von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Was haben allen voran die deutschen Medien geschimpft! 2018 fand die Fußball-WM in der „Autokratie Russland“ statt! Ja, damals hieß es noch Autokratie, heute würden die lieben Kollegen sicher drastischere Worte finden. Und dann vergab diese hochkorrupte FIFA das Turnier 2022 auch noch an die „Scheichs in Katar“ – in die Wüste, wo Menschenrechte angeblich mit Füßen getreten werden. Nun ja, weder in Russland noch Katar wurden die Menschenrechte der Fans verletzt, dafür schafften die Organisatoren es jedoch, die Fans sicher und reibungslos in die Stadien zu bringen und die Fans, die die langen Reisen antraten, waren auch ansonsten voll des Lobes über die gute Organisation. Das werden nach der EM wohl die wenigsten Fans vom Gastgeberland Deutschland sagen. Schuld daran sind nicht die Gastgeber selbst, sondern ihre Politik und auch der europäische Fußballverband UEFA.
Wer kommt beispielsweise auf die Schnapsidee, die englische Nationalmannschaft in Gelsenkirchen spielen zu lassen? Einer Stadt, die zwar zweifelsohne ein schönes Stadion hat, aber gar nicht über die Infrastruktur verfügt, zehntausenden Fußballfans die An- und Abreise zu gewährleisten. Nun mag man sich denken – aber bei den Heimspielen des FC Schalke 04, der damals in der Bundesliga doch auch seine Heimspiele vor vollem Haus ausgetragen hat, ging das doch auch. Ja, nur kommen bei Heimspielen nun einmal die meisten Fans aus der eigenen Stadt und ein Großteil der auswärtigen Fans reist mit dem Auto an. Dafür ist das Autoland gerüstet. Wenn nun bei der EM aber die Fans beider Mannschaften mit dem Zug anreisen und dann auch noch nach dem Spiel in ihre Hotels, die nicht nur wegen der mangelnden Attraktivität, sondern vor allem wegen der nicht einmal im Ansatz ausreichenden Bettenkapazität meist nicht in Gelsenkirchen, sondern in Essen, Düsseldorf oder Köln untergebracht sind, zurückreisen wollen, ist Chaos vorprogrammiert. In „bösen Autokratien“ baut man für ein solches Szenario leistungsfähige Bahnhöfe. Im „demokratischen Deutschland“ spart man den Nah- und Fernverkehr kaputt und wundert sich dann, dass die „undankbaren Ausländer“ sich darüber wundern, dass hierzulande nichts funktioniert.
Die Beschwerden sind laut und vernehmlich. So hat die New York Times in der letzten Woche einen vernichtenden Beitrag unter dem Titel „Euro 24 und deutsche Effizienz – vergessen Sie alles, was sie zu wissen glaubten“ veröffentlicht, in dem sie die deutsche Infrastrukturkatastrophe treffend analysiert.
Effizienz. Verlässlichkeit. Zweckmäßigkeit.
Das ist es, was viele Menschen am meisten mit Deutschland assoziieren, aber bisher hat sich bei der Europameisterschaft 2024 keines dieser Klischees bewahrheitet. Die Organisatoren des Turniers hatten Probleme mit der Kontrolle der Zuschauer vor den Stadien. Die Fans haben miserable Bedingungen auf dem Weg zu und von den Spielen ertragen müssen. Der U-Bahn- und Zugverkehr in den Austragungsstädten ist unter der zusätzlichen Nachfrage zusammengebrochen. Das ist nicht das, was der Rest Europas erwartet hat.
Quelle: New York Times
Auch der britische Independent zeigte sich schockiert und bemerkte korrekt, der Zugverkehr in Deutschland „sei ein einziger Scherbenhaufen und die Fans zahlen nun dafür den Preis“. Auch auf X hagelt es Beschwerden von Fans der meisten teilnehmenden Nationen – oft geht es um die miserable Netzabdeckung oder mangelnde Sprachkenntnisse beim Personal, meist jedoch um die Verkehrsinfrastruktur, die wahlweise als „Katastrophe“, „Hölle“, „absoluter Irrsinn“ und „schlichtweg lächerlich“ beschrieben wird. Und diese Beschwerden betreffenden keinesfalls nur das vergleichsweise kleine Gelsenkirchen – auch in den Millionenstädten München und Köln scheint es bei der An- und Abreise große Probleme zu geben.
Die Verantwortlichen vor Ort geben sich gelassen. Ihnen kann man auch keinen Vorwurf machen. Das Chaos war zu erwarten und die Bundesregierung war frühzeitig darüber informiert, investierte aber nichts, um die Missstände zu beseitigen. Der von der UEFA abgestellte Vorsitzende der Austragungsgesellschaft sprach in diesem Zusammenhang von einem „Elefanten, den man sich in einen Porzellanladen einlädt“.
Klar, mehrere Milliarden Investitionen für die Ausrichtung eines Fußballturniers – so was machen nur „böse Autokratien“. Sollen sich die Schweizer doch wundern, dass Züge in Deutschland immer Verspätung haben und Schotten und Engländer sind ja eh nur betrunken und neigen zu Gewalt. Dabei ist es wohl nur der Besonnenheit der englischen Fans zu verdanken, dass es bei der Rückreise des in Gelsenkirchen am letzten Sonntag ausgetragenen Spiels gegen Serbien zu keiner Katastrophe gekommen ist, als 50.000 Fans aus England und Serbien zeitgleich nach dem Abpfiff mit der S-Bahn zum Gelsenkirchener Hauptbahnhof wollten und es auf den Bahnanlagen zu Zuständen kam, die frappierend an die Love Parade in Duisburg erinnern – ein Funke, eine Massenpanik hätte genügt und wir würden heute nicht über schrullige Beschwerden englischer Fans, sondern über eine Katastrophe sprechen.
Um es klar zu sagen: Länder wie Deutschland dürfte man eigentlich gar nicht als Austragungsort solcher Großereignisse in Betracht ziehen. Und wenn, dann sollte man dies von klaren Auflagen abhängig machen. Doch das ist natürlich pure Illusion, da die Sportverbände, die solche Ereignisse vergeben, unter massivem politischen und ökonomischen Druck stehen und nebenbei auch nicht frei von Korruption sind.
Nun darf die Welt, die zu Gast bei Freunden sein wollte, erst mal lernen, was „Schienenersatzverkehr“ oder „Störung am Zug“ in ihrer Landessprache heißt, und sich darüber wundern, dass das real existierende Deutschland mit dem mythischen Vorreiter in Sachen Effizienz und Funktionalität nicht mehr viel zu tun hat. Wir wissen das ja, haben uns damit abgefunden und wundern uns darüber, dass nun die Fans anderer Nationen sich wundern. Bis zur nächsten EM in Großbritannien und Irland – wo die Infrastruktur auch nicht beste ist. Aber vielleicht sollte man solche Großveranstaltungen nur noch in Ländern wie Aserbaidschan, Saudi-Arabien oder Kasachstan abhalten – dann können sich unsere Leitartikler wieder über die Menschenrechte echauffieren und die Fans kommen dafür wenigstens pünktlich zum Spiel.
Titelbild: Screenshot Sky UK