Die Corona-Politik solle durch „Bürgerräte“ aufgearbeitet werden, hat Kanzler Olaf Scholz am Sonntag im Interview gesagt. Das ist als Versuch zu bezeichnen, die falsche Politik eben nicht systematisch aufzuarbeiten, sondern nur die Wut über diese Politik in folgenlosen Bürgerrunden zu kanalisieren. Außerdem hat Scholz in dem Interview versucht, seine eigene Rolle während der Corona-Politik weißzuwaschen. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Bezüglich der überfälligen Aufarbeitung der Corona-Politik findet Bundeskanzler Olaf Scholz den Vorschlag „am sympathischsten“, dass sich „Bürgerräte“ damit beschäftigen. Das sagte der SPD-Politiker am Sonntag im Sommerinterview der ARD-Sendung Bericht aus Berlin, wie Medien berichten.
Einen Bürgerrat zu Corona hatte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich im April schon einmal ins Gespräch gebracht. Damals hatte die Welt treffend kommentiert:
„Der Vorschlag ist eine Frechheit. Statt die Pandemie-Politik systematisch mit Wissenschaftlern im Parlament aufzuarbeiten, soll diese komplexe Aufgabe kurzerhand an eine kleine Gruppe Bürger delegiert werden. Diese müsste dann auf Grundlage persönlicher Anekdoten bewerten, welche Maßnahmen wann verhältnismäßig gewesen sind. Eine schlicht absurde Idee, die zeigt, wie sehr die SPD eine ernsthafte Aufarbeitung fürchtet und versucht, jegliche Verantwortung von sich zu schieben.“
Einen zusätzlichen Versuch, in dem Sommerinterview die eigene Verantwortung „von sich zu schieben“, bescheinigt der Journalist Norbert Häring dem Kanzler in diesem Artikel. Dort zitiert er Scholz’ Äußerungen im aktuellen Interview folgendermaßen:
„Es hat ein paar Entscheidungen gegeben, die drüber waren. Warum man zu bestimmten Zeiten nicht draußen spazieren durfte, wenn man eine Maske trug und niemand begegnete, draußen im Wald, das habe ich nicht verstanden, und das, glaube ich, hätte nicht sein müssen.“
Häring kommentiert das so:
„Im ‚ARD-Sommerinterview’ am 23. Juni behauptet der für seine strategischen Erinnerungslücken berüchtigte Olaf Scholz, er habe den Sinn der nächtlichen Ausgangssperren wegen Covid damals ‘nicht verstanden’. Entweder der Bundeskanzler lügt heute oder der damalige Minister log oder das Gedächtnis von Olaf Scholz ist so schlecht, dass er amtsuntauglich ist. Er hat nämlich 2021 vor Millionenpublikum die Ausgangssperren als unbedingt notwendig verteidigt.“
U-Ausschuss, Bürgerrat, Enquete-Kommission…
Für eine Enquete-Kommission des Bundestags zum Thema Corona mit Abgeordneten und Experten sprechen sich laut Medien etwa AfD, FDP und Union aus. Auch von den Grünen gebe es „Rufe“ nach einer Aufarbeitung, so Medienberichte. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat in einem aktuellen Eintrag auf Facebook die Forderung nach einem Corona-Untersuchungsausschuss bekräftigt.*
Während das Modell der Bürgerräte vom Kanzler beworben wird, werden Untersuchungsausschüsse zu Corona auf Länderebene zum Teil diffamiert. So diskutiert die Hessenschau, ob U-Ausschüsse zu Corona auf der hessischen Landesebene nicht verfassungswidrig sind, weil sie laut Juristen in der geplanten Form einen zu großen Rahmen öffnen würden. Und dieser Beitrag von Radio Eins stellt die Kosten der U-Ausschüsse in Brandenburg stark in den Vordergrund – und das angesichts der Milliarden, die für eine falsche Corona-Politik geopfert worden sind.
Bürgerrat: Zwischen „Quatschbude“ und „Parallel-Parlament“
Das Prinzip des „Bürgerrats“ ist – zumindest so, wie es momentan vorgeschlagen und praktiziert wird -, zu Recht viel Kritik ausgesetzt. Meiner Meinung nach bewegt sich die praktische Umsetzung irgendwo zwischen ablenkender und folgenloser „Quatschbude“ einerseits und der Bildung eines bezüglich demokratischer Regeln bedenklichen und nicht durch Wahlen legitimierten „Parallel-Parlaments“ andererseits. Die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat versucht, die Bedenken bezüglich eines solchen „Nebenparlaments“ zu zerstreuen. Definition und Form der Bürgerräte hat der Bundestag unter diesem Link beschrieben.
Ein erster Bürgerrat des Parlaments mit zufällig ausgewählten Teilnehmern hatte kürzlich Empfehlungen zur Ernährungspolitik vorgelegt. Das klingt harmlos – wenn sich das Prinzip aber etabliert, könnte das Instrument künftig auch bei gewichtigeren Themen eine möglicherweise fragwürdige Rolle spielen. Aus Anlass des Ernährungs-Bürgerrats hatte Rainer Balcerowiak in diesem Artikel das Vorhaben als ein „System der simulierten Bürgerbeteiligung“ bezeichnet. Im Artikel heißt es weiter:
„Im ‚Bürgerrat Ernährung‘ werden demnächst 160 mehr oder weniger zufällig ausgewählte, ganz normale Bürger ihre Empfehlungen zum Thema abgeben dürfen. Und damit das auch alles im Sinne der Regierung läuft, wird der Bürgerrat engmaschig betreut und eingehegt. Stiftungen, auf ‚Bürgerbeteiligung‘ spezialisierte Unternehmen, die Lobbys und Think Tanks sind natürlich an Bord. Das ist bestenfalls eine Simulation für Bürgerbeteiligung.“
Es ist zu befürchten, dass auch die Aufarbeitung der Corona-Politik nur eine Simulation bleibt, wenn sie „Bürgerräten“ überlassen wird.
*Aktualisierung 24.6.2024, 15:30: Dieser Satz wurde hinzugefügt.
Titelbild: Juergen Nowak / Shutterstock