Der Besuch des argentinischen Präsidenten Javier Milei am 22. Juni wird in Kreisen der ultraliberalen Hayek-Gesellschaft gefeiert, ist aber auch Grund für Proteste. Welche Überzeugungen vertritt der Libertäre, der in Argentinien radikale Reformen unbarmherzig vorantreibt? Wer steht ihm dabei zur Seite und welche Folgen hat seine Politik für das Land? Von Janna Tegeler, Lisa Buhl, Carmín Rubí Rios Fukelman.
Ursprünglicher Grund seines Deutschland-Besuches ist die Einladung zur Teilnahme an den Hayek-Tagen in Hamburg, während derer Milei die Ehrenmedaille der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft verliehen werden wird.
Die Hayek-Gesellschaft hat sich der Förderung von Denkfabriken und Zusammenschlüssen verschrieben, die ultraliberale Ideen in der Tradition der Österreichischen Schule vertreten und fördern. Sie war in den letzten Jahren öfter in den Medien, da es 2015 interne Konflikte wegen zunehmender ultrarechter Tendenzen gab. Dies führte zu massiven Austritten vor allem des wirtschaftsliberalen Flügels, unter anderem der Vorsitzenden Karen Horn, einer Reihe bekannter Wirtschaftsprofessoren wie Lars Feld und IW-Chef Michael Hüther sowie FDP-Chef Christian Lindner.
Im Jahr 2021 kam es zu Diskussionen um die Nähe der Hayek-Gesellschaft zur AfD. Doch die Abgrenzungsversuche blieben unzureichend, was eine weitere Welle von Austritten zur Folge hatte.
Der Vorsitzende der Hayek-Gesellschaft, Stefan Kooths, nahm in einer Pressemitteilung dazu Stellung: „Die AfD-Nähe ist zu einer politischen Kampfvokabel geworden, ähnlich der Nazi-Keule oder dem Vorwurf des Rechtspopulismus.“ Die eigentliche Bedrohung gehe eher von „antiliberalen“ und „kollektivistisch-konstruktivistischen Kräften“ aus.
Auch Milei beruft sich in seinen politischen Ansätzen auf die Österreichische Schule. Friedrich A. von Hayek war einer ihrer bedeutendsten Vertreter und einer der wichtigsten Denker des Libertarismus. Die Vertreter der Österreichischen Schule sind davon überzeugt, dass die individuelle Freiheit die Grundlage wirtschaftlichen Wachstums sei. In diesem Sinne sollen wirtschaftliche Entscheidungen von den Einzelnen ausgehen und nicht in der Hand des Staates liegen.
Diese Ideen wurden in den USA aufgegriffen und weiter vertieft. Ein Beispiel dafür ist der US-amerikanische Philosoph Murray Rothbard, ein großes Vorbild des argentinischen Präsidenten, der den Begriff Anarchokapitalismus geprägt hat.
Die Ideologie des Anarchokapitalismus strebt einen Nullstaat an, also eine private Rechtsordnung ohne öffentliches Recht. Der Staat wird als nicht legitimes System angesehen, das die Bürger sowohl durch Steuerabgaben bestiehlt als auch in ihren Freiheiten einschränkt. Wichtigste Grundpfeiler sind das Privateigentum und der freie Markt, durch die ein weitgehend uneingeschränktes Recht auf individuelle Selbstbestimmung garantiert werden soll. Freiheit wird in dieser Ideologie durch die ungebremste Ausübung der wirtschaftlichen Freiheit definiert.
Das Fehlen staatlicher Regulierungen in der Wirtschaft – die für die Libertären immer mit Einschränkungen gleichzusetzen sind – stärke so angeblich die Freiheit des Einzelnen. Nach dieser Auffassung haben alle Akteure in der Wirtschaft und in der Gesellschaft die gleichen Ausgangspositionen und sind in ihrem Handlungsspielraum gleich frei, als gäbe es keine strukturellen Ungleichheiten.
Die Bürgerrechte sind der wirtschaftlichen Freiheit untergeordnet. Das bedeutet unter anderem, dass die Demokratie zwar wünschenswert, aber nicht unentbehrlich ist. So sahen sowohl Hayek, als auch von Mises eine Diktatur durchaus als mögliche Übergangslösung an. Darüber hinaus spielt diese Vorstellung von Freiheit im Kontext des Konzentrationsprozesses des Kapitals, also der Bündelung der wirtschaftlichen Macht durch den Zusammenschluss von Unternehmen zu immer größeren Konzernen, den Monopolen und Oligopolen in die Hände.
Diese Ansätze versucht der argentinische Präsident seit seinem Amtsantritt im Dezember 2023 radikal umzusetzen. Nun wird er durch die Hayek-Medaille dafür ausgezeichnet, mit seinem „freiheitlichen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Programm (…) die Kernprobleme seines einst wohlhabenden Landes“ anzugehen, so die Hayek-Gesellschaft.
Vorstandsmitglied Gerd Habermann hält in seiner Bilanz der ersten 100 Amtstage Mileis fest: „Es geht (…) um die Abschaffung des egalitären Wohlfahrtsstaates (nicht nur seine Reform) und des gesellschaftspolitischen Destruktionismus (Genderismus and all that) – mit der ‘Kettensäge’. (…) die Widerstände der herrschenden ‘Kaste’ werden enorm sein und haben ja schon begonnen. Aber die Freunde Hayeks, Von Mises und der Österreichischen Schule in der ganzen Welt sind gewiss auf seiner Seite zu finden, wenn er das unmöglich Scheinende durchzusetzen versucht.“
Solche Freunde machte sich Javier Milei auch bei seinem Besuch in Spanien Ende Mai, ein Zeichen für die wachsende Stärke der internationalen Allianzen ultrarechter Kräfte. Zusammen mit Marine Le Pen, Giorgia Meloni und seinem engen Freund Santiago Abascal nahm der Präsident an einem von der spanischen Partei Vox organisierten Kongress rechter Kräfte teil. In seiner Rede rief er all diejenigen, „die an die Freiheit glauben“, dazu auf, gegen den „Sozialismus“ aufzustehen. Er betonte, dass alle, die an die Werte glaubten, die den Westen zur wohlhabendsten Zivilisation der Geschichte gemacht hätten, verloren seien, wenn sie nicht aktiv etwas tun.
Die Allianzen und die Vernetzung einer internationalen ultraliberalen und ultrarechten Bewegung sind hier klar zu erkennen und auch in Hinblick auf die Ergebnisse der Europawahlen besorgniserregend.
Die Kettensäge in Aktion
Milei versucht seine politische Agenda mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen und stößt dabei an die Grenzen der Demokratie.
Schon zehn Tage nach Amtsantritt kündigte Milei das erste Präsidialdekret an, um die Liberalisierung der Märkte anzugehen. Es bestand aus 366 Artikeln, die fast alle Bereiche der staatlichen Organisation und des öffentlichen Lebens betrafen. Unter anderem sah das Dekret weitreichende Reformen im Bereich des Arbeitsrechts, des Mietrechts sowie freie Nutzung des Luftraums durch ausländisches Militär, Deregulierung des Verkaufs von Ländereien an ausländische Investoren und Privatisierungen von Staatsunternehmen vor.
Einige radikale Änderungen des Arbeitsrechts sollten beispielsweise die Probezeit auf acht Monate verlängern und das Streikrecht einschränken bzw. die Möglichkeit, streikende Arbeiter regulär zu entlassen. Außerdem sollten Geldstrafen für Unternehmen abgeschafft werden, die Arbeitskräfte illegal beschäftigen.
In Argentinien, einem Land mit umfassenden Gesetzen zum Schutz der Arbeitnehmer und einem hohen Organisationsgrad der Arbeiter sowie einer starken Arbeiterbewegung (auch innerhalb des informellen Sektors, der in Argentinien mindestens 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ausmacht), sind solche Veränderungen besonders einschneidend. In diesem Kontext haben die Gerichte nach einer Klage des Gewerkschaftsbundes CGT (Central General de los Trabajadores) entschieden, die Umsetzung dieser Arbeitsreformen auszusetzen.
Trotz massiver Proteste der Zivilbevölkerung, einem Generalstreik des Dachverbands der Gewerkschaften und verschiedener Menschenrechtsorganisationen konnte das Präsidialdekret nicht vollständig gekippt werden und die endgültige Abstimmung im Parlament steht noch aus. Zwar wurden z.B. die Artikel zur Arbeitsreform als verfassungswidrig erklärt und auch einige weitere Maßnahmen ausgesetzt, doch die Deregulierungen im Mietrecht beispielsweise blieben bestehen. So wurde die staatliche Deckelung der Kaution und der Mietpreise aufgehoben. Aber die „Freiheit“, die den einzelnen Vertragsparteien damit zugesprochen wird, führt letztendlich dazu, dass den Mietern jegliche rechtliche Verhandlungsgrundlage genommen wird.
Ende Dezember 2023 legte die Regierung dann den nächsten umfassenden Gesetzentwurf mit 664 Paragrafen vor, das sogenannte Ley Omnibus, ein Ermächtigungsgesetz, das die Deregulierung weiter vorantreibt und dem Präsidenten Gesetzgebungsbefugnisse ohne das Parlament einräumen sollte.
Laut dem Nachrichtenportal amerika21 zeigt er „einerseits ultraliberale Maßnahmen zur Zerlegung des Staates, aber auch Ansätze zur Unterdrückung jedes Widerstands dagegen“.
Doch schon die Debatte in Kommissionen des Parlaments war so problematisch, dass ganze Artikel aufgrund von Zweifeln an ihrer Vereinbarkeit mit der Verfassung und durch Lobbyarbeit verschiedener Interessengruppen gestrichen wurden, weshalb die endgültige Fassung dann „nur“ noch 382 Artikel enthielt. Diese letzte Version wurde aber nicht im Parlament, sondern in einem Hotel und einer Privatwohnung ausgehandelt.
Aufgrund enormer Unstimmigkeiten während der Ausarbeitung und Abstimmung über den Gesetzentwurf zog die Regierung ihn Anfang Februar zurück, um den Text erneut in Kommissionen zu überarbeiten. Währenddessen schlugen Polizeikräfte die zahlreichen Proteste gegen das Vorhaben brutal nieder.
Die massive Präsenz von Polizei und teilweise auch Militär auf den Straßen, um Demonstrationen und die Ausübung der Meinungsfreiheit mit Gewalt zu unterbinden, hat unter Milei stark zugenommen. Auch öffentliche Einschüchterungsversuche und Hetze gegen jegliche Opposition sind an der Tagesordnung. Dazu hat Sicherheitsministerin Patricia Bullrich eine umfassende Strategie vorgelegt, um Proteste zu kriminalisieren. Besonders kritisch sind die neuen Regulierungen zum Einsatz von Feuerwaffen der staatlichen Sicherheitskräfte. Schon im Verdachtsfall einer Straftat darf geschossen werden, die späteren Untersuchungen einer Rechtmäßigkeit werden eingeschränkt.
Ende April 2024 wurde der geänderte Gesetzentwurf als „Grundgesetz und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier“ (La Ley de Bases y Puntos de Partida para La Libertad de los Argentinos) im Parlament neu verhandelt und dort in allen Teilen angenommen. Am 13. Juni stimmte nun auch der Senat endgültig für das Gesetzespaket, während eine enorme Anzahl an Polizeikräften die Proteste vor dem Parlament gewaltsam auflöste. Sie machten Jagd auf Protestierende und nahmen über dreißig Personen fest. Ihnen werden Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und aufrührerische Tätigkeiten mit dem erschwerenden Umstand von terroristischen Handlungen vorgeworfen; der Staatsanwalt fordert Untersuchungshaft. Auch Journalisten und Oppositionspolitiker wurden zum Ziel der Polizeigewalt.
Die Sicherheitskräfte setzten unter anderem Wasserwerfer und Tränengas ein und zielten mit Gummigeschossen nicht nur auf Arme und Beine, sondern feuerten diese auch direkt ins Gesicht der Menschen ab. Es gab über hundert Verletzte.
Ein zentraler Punkt des Gesetzespakets ist die Ausrufung des öffentlichen Notstandes in Verwaltungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Energiefragen, wodurch dem Präsidenten für ein Jahr außerordentliche Befugnisse eingeräumt werden. Das bedeutet, dass Milei bis Mitte 2025 über Befugnisse verfügt, die eigentlich der Legislative zustehen und er das Parlament übergehen kann.
Hinzukommen die Privatisierungsvorhaben von staatlichen Unternehmen wie Energía Argentina S.A., das staatliche Unternehmen zur Förderung und Vermarktung von Wasserstoff und fossilen Brennstoffen; und die Wiederaufnahme der Arbeitsreform aus dem Präsidialdekret, unter anderem mit Kürzung des Mutterschutzes, Vereinfachung von Entlassungen und Auslagerung der Arbeitskräfte sowie weitere schon genannte Maßnahmen.
Außerdem enthält der Gesetzentwurf das sogenannte Programm zur Förderung von Großinvestitionen (Régimen de Incentivos a las grandes Inversiones, RIGI). Es zielt darauf ab, ausländische Investitionen anzulocken, um den Konsum als Wirtschaftsmotor so zu ersetzen. Dabei geht es vor allem um Ressourcen wie Wasserstoff, der unter enormem Energieaufwand per Elektrolyse aus Wassermolekülen extrahiert werden muss, aber auch um den umweltbelastenden Bergbau und die Agrarindustrie. Dies knüpft an das koloniale Erbe an. Der globale Norden nutzt Länder wie Argentinien als Rohstofflieferant aus und ignoriert die Konsequenzen für die Umwelt und die Menschen vor Ort.
Für deutsche Investoren ist sowohl Wasserstoff interessant, da er für die angestrebte deutsche „Nachhaltigkeitswende“ und eine gute Klimabilanz entscheidend ist, als auch der Abbau von Lithium für die „digitale Revolution“.
Die Gewinne und Steuervorteile sind den Unternehmen auf 30 Jahre gesichert und einheimische Arbeitskräfte müssen die Firmen auch nicht beschäftigen. Die notwendigen Ressourcen, wie z.B. Wasser, für die Produktion und Förderung von Mineralien müssen die jeweiligen Gemeinden den Unternehmen bis zum Auslaufen des Vertrages zur Verfügung stellen, auch wenn die intensive Nutzung dieser Ressourcen die lokale Bevölkerung gefährdet. Soziale Bewegungen sprechen von einem Ausverkauf des Landes.
Das extraktivistische Programm Mileis ist für ausländisches Kapital aus dem globalen Norden von Interesse, da es enorme Gewinnraten verspricht und ein Wirtschaften ohne Rücksicht auf die Auswirkungen für die Umwelt, das Klima und die Bevölkerung möglich macht.
Auch das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und dem Mercosur geht in diese Richtung, da es den Export von Rohstoffen aus dem globalen Süden begünstigt. Durch Zollvergünstigungen wird dieses Abkommen die Importe von Lebensmitteln aus Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay in die EU um ein Vielfaches erhöhen. Innerhalb der EU wird das zu Preisdumping und der Existenzaufgabe vieler kleiner, lokaler Hersteller führen, in Lateinamerika zu noch intensiverer Abholzung der Regenwälder und einer Zunahme der Nutzung von in der EU verbotenen Pestiziden und genverändertem Saatgut.
Wo soll das enden? – Einschnitte und Auswirkungen dieser Politik
Die von Milei angekündigten Maßnahmen, die ihm und seiner Partei Libertad Avanza den langersehnten Haushaltsüberschuss verschafft haben, bestehen einerseits aus der „Kettensäge“ und andererseits aus dem „Mixer“.
Bei der „Kettensäge“ handelt es sich um umfassende Kürzungen und Streichungen der Staatsausgaben. Um sein politisches Programm durchzusetzen und die Wirtschaftsziele zu erreichen, ging die Regierung innerhalb kürzester Zeit auf einen brutalen Sparkurs. So wurde tausenden staatlichen Angestellten gekündigt. Es folgten Streichungen von Subventionen für den öffentlichen Nahverkehr, Energie und Wasser sowie für Medikamente.
Außerdem wurde die Deckelung der Preise für Grundnahrungsmittel abgeschafft; die Lebensmittellieferungen an Suppenküchen und für die Schulspeisung wurden größtenteils eingestellt. Anfang Mai veranlasste die Regierung nach einer richterlichen Anordnung Razzien in Suppenküchen und in den Wohnungen von Leiter sozialer Organisationen. Angeblich sollen diese Gelder von den Empfänger von sozialen Leistungen erpresst haben. Das brutale Vorgehen der Polizeikräfte sowie das Sammeln und Speichern von Informationen über die politischen Organisationen und Einzelpersonen spiegeln die Strategie der Regierung wider, jede Art von Widerstand und Protest im Keim zu ersticken. Die Oppositionsparteien, Menschenrechtsorganisationen und soziale Bewegungen Argentiniens sprechen von politischer Verfolgung.
Von der „Kettensäge“ sind auch staatliche Universitäten betroffen: Der Etat wurde bei einer Inflationsrate von über 200 Prozent nicht entsprechend angepasst, weshalb ein normaler Ablauf der Lehr- und Forschungstätigkeiten nur teilweise gewährleistet werden kann.
Weitere Abstriche gab es bei staatlichen Programmen zur Unterstützung von Frauen, LGBTQI-Personen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel bei Präventionskampagnen gegen häusliche Gewalt.
Der politische Diskurs der Regierung und die daraus resultierenden Maßnahmen, die hauptsächlich auf Segregation und Hass basieren, breiten sich in allen Bereichen der Gesellschaft aus. Hassreden sind inzwischen öffentlichkeitstauglich und wurzeln in der Gesellschaft.
Nicolás Márquez, der Biograph und enger Mitarbeiter des Präsidenten, sprach in einem Radiointerview im April von „objektiv gesunden und objektiv ungesunden Verhaltensweisen“ und erklärte weiter: „Wenn der Staat Homosexualität unterstützt, fördert und finanziert wie es in den Jahren vor Javier Milei der Fall war, fördert er damit selbstzerstörerische Verhaltensweisen.“
Auch in vielen weiteren öffentlichen Mitteilungen und Auftritten von Regierungsvertreter kam es immer wieder zu menschenverachtenden Aussagen und Hassreden gegen Andersdenkende, Andersliebende, Andersaussehende – gegen „das Andere“.
Es ist ein Zuwachs der Gewalt gegen Frauen* und LGBTQI-Personen zu beobachten, die Arbeit des Staatlichen Instituts gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus wurde unterbrochen, da das Institut geschlossen werden soll.
Im Kontext dieser aufgeladenen Stimmung und Stimmungsmache kam es Anfang Mai zu einem brutalen Anschlag auf zwei lesbische Paare, die sich ein Zimmer in einer Unterkunft für Wohnungslose teilten. Ein Nachbar warf einen Molotowcocktail in das Zimmer und provozierte damit einen Brand, der drei der vier Lesben das Leben kostete. Der Mann hatte schon länger immer wieder Drohungen ausgesprochen, andere Nachbarn wollten zum Großteil nichts mit dem Problem zu tun haben.
Der Raum für Hass und Anfeindungen gegenüber allen Menschen, die nicht in die angestrebte „Normalität“ passen, und den die Regierung bewusst offenhält, bietet solchen Anschlägen eine ideale Bühne. Nichtsdestotrotz stufte der zuständige Richter die Tat als nicht sexistisch motiviertes Verbrechen ein.
Im Falle des „Mixers“ wiederum handelt es sich um das Verflüssigen von bestimmten staatlichen Ausgaben wie z.B. den Rentenzahlungen oder dem Bildungshaushalt, die aus dem Vorjahr übernommen und nicht an die Inflation angepasst werden. Dazu gehört auch eine Deckelung der Löhne für Arbeiter.
Das sorgt für eine zunehmende Verarmung der Bevölkerung. Stark betroffen sind davon unter anderem die Rentner. Seit dem Amtsantritt Mileis wurden die Löhne bei einem allgemeinen Preisanstieg von 90 Prozent nur um 58 Prozent angepasst.[1]
Es handelt sich also um einen drastischen Rückgang der Kaufkraft, der in vielen Haushalten dazu führt, dass die Familien sich verschulden, um Grundnahrungsmittel kaufen zu können und teilweise auch die Anzahl der täglichen Mahlzeiten reduzieren.
Laut jüngster Angaben[2] stieg die Armut innerhalb von 90 Tagen, zwischen Ende 2023 und März 2024, so sprunghaft an wie in den letzten zwei Jahrzehnten nicht. Aktuell leben 55,5 Prozent der argentinischen Bevölkerung in Armut (im Dezember waren es noch 44,7 Prozent) und 17,5 Prozent in extremer Armut (gegenüber 9,6 Prozent im Dezember).
Ende Mai wurde der Präsident auf einer Veranstaltung an der Universität Stanford auf das Thema Armut angesprochen und erklärte: „Halten Sie die Menschen für so dumm, dass sie nicht in der Lage sind, richtige Entscheidungen zu treffen? Es wird ein Moment kommen, in dem die Leute kurz vor dem Verhungern sind, und dann werden sie schon eine Entscheidung treffen, um nicht zu sterben.“
Hinter dem Haushaltsüberschuss, den die Regierung dieses Jahr viermal in Folge feierte, verbirgt sich in Wahrheit ein starker Rückgang des Konsums in allen Bereichen und eine Rezession.
So ist zum Beispiel die Baubranche von den Maßnahmen betroffen. Die Regierung hat fast alle öffentlichen Bauvorhaben eingestellt. In den ersten vier Monaten des Jahres ging die Aktivität in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr um 32 Prozent zurück. Auch das verarbeitende Gewerbe schloss das erste Quartal 2024 mit einem Rückgang von 14,8 Prozent ab. Nicht einmal während der Corona-Pandemie waren diese Werte so besorgniserregend.
Proteste und Demonstrationen gegen Milei
Wie in vielen anderen Ländern ist auch die argentinische Bevölkerung gespalten: Während ein Teil immer noch hinter der Regierung steht und auf bessere Zeiten hofft, wächst auf der anderen Seite der Widerstand. Vor dem Hintergrund der Verarmung und unsicherer Zukunftsperspektiven entwickeln sich diverse Volksinitiativen und lokale Gruppen gegen den Hunger und den Ausverkauf des Landes.
Die Gewerkschaftsverbände riefen zwei Generalstreiks am 24. Januar und am 9. Mai aus. Diese richteten sich gegen die Sparpolitik und die Arbeitsreform mit dem Ziel, die Rechte der Arbeitnehmer zu verteidigen und für gerechte Löhne zu kämpfen. Bis auf wenige Ausnahmen, wie öffentliche Schulen und einige Supermärkte, die geöffnet blieben, wurde das Land beide Male zum Stillstand gebracht. Dem Streik waren auch zahlreiche andere Großaktionen vorausgegangen.
Am 8. März, dem feministischen Kampftag, fanden große Demonstrationen zur Verteidigung der Rechte von Frauen* statt. Unter anderem demonstrierten die Leute für die Beibehaltung des Abtreibungsgesetzes, der Sexualbildung in Schulen, der öffentlichen Nutzung nicht sexistischer Sprache oder des Gesetzes zur Selbstbestimmung der Identität für Transpersonen. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang auch eine Sorgeperspektive in der Wirtschaftspolitik und der Protest gegen die Kürzungen von Sozialhilfen.
Auch am 24. März, dem „Tag der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“, der an den Beginn der Militärdiktatur (1976-1983) erinnert, gab es in Buenos Aires und anderen großen Städten viele Demonstrationen und Kundgebungen, bei denen besonders die Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen angeprangert wurden. Ebenfalls wiesen viele Schilder und Spruchbänder auf die Beziehungen der Regierungsfunktionäre, vor allem die der aktuellen Vizepräsidentin Victoria Villarruel, zu den Militärs und Menschenrechtsverbrechern der Diktatur hin.
Auch den Internationalen Tag der Arbeit am ersten Mai begingen Gewerkschaften und einige Parteien mit Mobilisierungen.
Hinzu kommen verschiedenste Aktionsaufrufe gegen Mileis Politik, wie der landesweite Hochschulprotest am 23. April. Die „Marcha Federal Universitaria“, also im ganzen Land organisierte Demonstrationen gegen den unzureichenden Bildungshaushalt, mit dem die Universitäten nicht einmal laufende Kosten wie Strom und Wasser decken können, mobilisierte etwa zwei Millionen Menschen, darunter eine halbe Million allein in Buenos Aires.
Allerdings ist das Demonstrieren von Angst begleitet: Die Regierung versucht, den Protest klein zu halten oder direkt zu unterdrücken. Es gab beispielsweise Andeutungen, dass Sozialleistungen gestrichen werden könnten, wenn die Empfänger auf Demonstrationen aufgegriffen werden. Hinzu kommt die Gefahr der Repression und Polizeigewalt, die bei allen Demonstrationen und Protestaktionen greifbar ist. Trotzdem gehen Menschen allen Alters – von Jugendlichen bis zu Rentner – auf die Straße und zu den asambleas (selbstorganisierte Räte).
Die ultraliberale Politik des Präsidenten und seine entmenschlichenden Aussagen stießen auch außerhalb Argentiniens auf Ablehnung. In vielen Ländern organisierte sich die argentinische Community, um gegen die Angriffe auf die Demokratie und ihre Grundpfeiler in ihrem Herkunftsland zu protestieren. In Städten wie Barcelona, Madrid und Berlin haben sich Gruppen gebildet, um Aktionen gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der argentinischen Regierung zu organisieren. So protestierten beispielsweise Argentinier in Dänemark während des Besuchs des argentinischen Verteidigungsministers Luis Petri in Kopenhagen gegen den Kauf von 24 F-16-Kampfflugzeugen, die 314 Millionen US-Dollar kosteten.
Auch in Deutschland wird es Proteste gegen den Besuch des Präsidenten geben: die Gruppe Asamblea en Solidaridad con Argentina organisiert den Monat „Anti-Milei“. Den ganzen Juni über gibt es Veranstaltungen und Initiativen gegen die Politik Mileis und gegen seinen Besuch in Deutschland. Darunter ein offener Brief an Bundeskanzler Scholz, in dem er dazu aufgerufen wird, den argentinischen Präsidenten nicht zu empfangen. Am 22. Juni, pünktlich zum Preisverleih in der Hayek-Gesellschaft, finden ein Protest-Festival in Berlin und eine symbolische Preisverleihung der „verrosteten Kettensäge“ in Hamburg statt.
Janna Tegeler, Lisa Buhl und Carmín Rubí Rios Fukelman sind Teil der Gruppe Asamblea en Solidaridad con Argentina en Berlin.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Amerika21.
Titelbild: Milei bei der Konferenz „Die Wiedergeburt der Freiheit in Argentinien und der Welt“ am 12. Juni in Buenos Aires – Quelle: LIZENZ: CC BY 4.0 ATRIBUCIÓN 4.0 INTERNACIONAL DEED argentina.gob.ar
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