Gerade mühen sich die Strategen großer Veranstaltungen und Volksvergnügungen in unserer Bundesrepublik Deutschland, dem Volk zum zweiten Mal eine Art Märchen, ein fußballerisches, verzauberndes Sommerspektakel zu bieten. Die EM ist in vollem Gang. Ein politisches Ereignis (wie so viele in Zeiten der Ablenkung) wird bei all der Party sicher etwas untergehen: der Besuch des Präsidenten von Argentinien, Javier Milei. Man könnte meinen, „gut so“, denn anders als dessen Landsmann und Fußballikone Lionel Messi ist dieser Mann für viele Menschen in Argentinien ein Unglücksbringer und somit auch für uns Durchschnittsbundesbürger bestimmt keine Inspiration. Doch weht der Wind in Argentinien nicht wesentlich anders rau als inzwischen auch bei uns. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.
Argentiniens Präsident Javier Milei inspiriert sehr wohl, und zwar einige hiesige Bürger, konkret die der selbst ernannten politischen elitären Klasse, der selbstgefälligen schreibenden Zunft und auch von Mileis „revolutionären Konzepten“ begeisterte Historiker. Ihnen wird der Besuch von Javier Milei in Deutschland genehm sein, einschließlich der Krönung seiner Leistung, seines Mutes, seiner Rücksichtslosigkeit: Milei wird ausgezeichnet – folgerichtig mit einer Medaille einer konservativen Gesellschaft, der Hayek-Gesellschaft. Gerade haben Preise für Neoliberale ohnehin Konjunktur: Man schaue auf den Westfälischen Friedenspreis für den friedensumtriebigen Emmanuel Macron, den Präsidenten Frankreichs, den dieser sich – ebenfalls bei einem Besuch Deutschlands – abgeholt hat.
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) informiert schon mal
Argentiniens Präsident Javier Milei kommt am 22. und 23. Juni zu einem Antrittsbesuch nach Deutschland. Dabei wird er auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) treffen. Das teilte die argentinische Botschaft in Berlin auf Anfrage des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) mit. Milei wird am 22. Juni in Hamburg die Medaille der libertären Friedrich August v. Hayek-Gesellschaft entgegennehmen. Der Vorsitzende der Hayek-Gesellschaft, Stefan Kooths, würdigte ihn als „ambitionierten Reformer im Sinne Hayeks und der österreichischen Schule der Ökonomie“. Er lobte Mileis „freiheitliches wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Programm“.
(Quelle: RND)
Der Mann mit der Kettensägen-Methode
In meinem Beitrag wies ich im Dezember 2023 auf das dramatische Dilemma in Argentinien hin, dass die Argentinier nun, also nach der Wahl, einen Präsidenten haben, den sie nicht verdienten. Konkret beschrieb ich, wie Milei sein Land „fit“ machen wolle, indem er soziale Standards für die Mehrheit der Menschen zugunsten einer gierigen, nimmersatten, machtgeilen Minderheit zurückdrängen wird. Zynischerweise nennt Milei sein Agieren die „Kettensäge-Methode“. Nach Monaten entfesselter, sich austobender Amtsführung liegt Argentinien, konkret das Volk, wie geplant am Boden. Die, die jubeln, sind die, die von der Pein der einfachen Menschen profitieren, die diese Menschen verachten, sie lediglich als Verfügungsmasse, als auspressbarer Schwamm, als Kostenfaktor und/oder Profitmaximierungselement betrachten.
Ich stellte mir die Frage und stelle sie wieder: Was geschieht als Reaktion bei uns? Ich erlebe, dass die mediale Begleitung hierzulande wie die wohlwollende Musik der prägenden öffentlich-rechtlichen Medien klingt, fast so, als würde Beifall gezollt, respektvoll genickt und gefeiert werden, dass sich der neoliberale Wahnsinn weiter verbreitet, so eben erneut und in neuer Form in Argentinien zu erleben. Empörend wie hilflos gesehen ist zu beobachten: Die „Kettensäge-Methode“ und andere ähnliche asoziale Rosskuren haben in vielen Ländern Hochkonjunktur. Auch hierzulande werden in diesen Tagen, Wochen, Monaten einer fleißig am Laufen gehaltenen Krise gern Worte wie „Gürtel enger schnallen“ oder „die guten Zeiten sind vorbei“, ebenso „die fetten Jahre“ (für wen waren diese eigentlich fett?) verwendet.
Milei ist kein Messi – nicht mal, wenn man große Fantasie entwickelt
Man stelle sich nur mal vor, dieser Politiker Milei, der Mann mit dem zugegeben sehr eigenwilligen Haarwuchs im Gesicht, hätte so eine Strahlkraft, so eine Leistung, so eine Botschaft anzubieten wie sein Landsmann, der kleine, berühmte, erfolgreiche, wundervolle Fußballspieler Messi. Dann würde sich sicher jedes Land freuen, ihn zu begrüßen. Echte Strahlkraft für einen guten Politiker bedeutete im übertragenen Messi-Sinn für Milei, dass er seine Landsleute mit seiner Leistung begeistert, Freude bereitet, Hoffnung gibt und Sorge dafür trägt, dass sein Land aufblüht und die einfachen Menschen lächelnde Gesichter machen könnten. Gut, Messi verbessert die Gesellschaft auch nicht wirklich, außer für ein paar Stunden des Glücks beim Zusehen. Der Fußball wirkt in fortlaufend schlimmen Zeiten lediglich wie eine Art Betäubungsmittel, ist ein Trostpflaster. Dennoch erledigt Messi seinen Job auf seiner Position des Sportlers nahezu perfekt. Und Milei?
Das Lob eines deutschen Historikers
Folgt man den Lobeshymnen von hiesigen Experten, so muss in Argentinien ja alles in bester Ordnung sein, die grassierende Not der einfachen Leute hin und her. Der deutsche Historiker und Unternehmer Rainer Zitelmann hat der Wirtschaftswoche ein Interview gegeben. Was er u.a. zum Thema Südamerika, über Chile (das Land, das viele Jahre von einer Militärdiktatur beherrscht wurde) sagt, liest sich so:
Ein Ergebnis meiner Recherchen ist, dass die Einstellung der Menschen zur wirtschaftlichen Freiheit erheblichen Einfluss auf die Entwicklung eines Landes hat. Nehmen Sie Chile. Das Land galt lange Zeit als Vorzeigeland für Freiheit und Marktwirtschaft in Lateinamerika. In meinen Umfragen stellte ich jedoch fest, dass die Chilenen dem Kapitalismus zunehmend skeptisch gegenüberstehen. Wenige Monate nach Abschluss meiner Umfrage wählten sie den Sozialisten Gabriel Boric als Präsidenten. Ein anderes Beispiel ist Argentinien. Das Land ist für seine sozialistischen Experimente unter den vielen peronistischen Regierungen bekannt. Meine Meinungsumfrage zeigte jedoch, dass die Zustimmung der Menschen zum Kapitalismus gestiegen ist. Etwa ein Jahr nach der Befragung gewann der Kapitalist Javier Milei die Wahl in Argentinien. Marx sagte, das Sein bestimmt das Bewusstsein, und ich sage, gute oder schlechte Ideen entscheiden, in welche Richtung sich ein Land bewegt.
Und weiter beobachtet der Experte:
Marktwirtschaft, Wettbewerb und wirtschaftliche Freiheit geraten weltweit unter Druck. Das hat negative Folgen, sagt der Historiker Rainer Zitelmann. Erst der Kapitalismus hat unseren heutigen Wohlstand möglich gemacht.
Schließlich werden dem Präsidenten Argentiniens solche Worte aus deutschem Munde gefallen:
„Sollte Milei Erfolg haben, könnte es die Initialzündung für eine kapitalistische Revolution in Lateinamerika sein.“
(Quelle: Wirtschaftswoche)
Preise für Revolutionäre des Kapitals
In gegenwärtigen Wendezeiten scheint es wie schon erwähnt chic zu sein, Preise gerade an die Persönlichkeiten zu verteilen, die sich mit konservativen bis reaktionären Aktivitäten Verdienste erwerben, die vor allem die politische Klasse in unseren gespaltenen Klassengesellschaften Klasse finden. Im Zusammenhang mit dem Besuch von Milei kam mir die Erinnerung in den Sinn an einen legendären Besuch eines anderen Präsidenten – den „Yes we can“-Mann aus Übersee, aus den USA. Barack Obama wurde einst in Berlin gefeiert wie ein Popstar. Und ja, ich hatte seinerzeit ebenfalls große Hoffnung auf eine wirkliche Wende, ein Hinwenden zu einer sozialen, friedlichen Politik. Wie sehr wurde ich enttäuscht …
Die Schleusen für eine ungeniert agierende Bewegung für entfesselte neoliberale Entwicklungen sind weit geöffnet. Milei ist eine der Ikonen dieser Bewegung. Er wird bejubelt, weil er den argentinischen Wohlfahrtsgedanken in seinem Land zu Grabe trägt, weil er von „ökonomischer Freiheit“ redet und doch nur die im Auge hat: die Vermögenden, die Einflussreichen, die, die meinen, das Land gehöre ihnen. Milei scheut auch nicht vor Gewalt gegen das Volk zurück, und sein gesellschaftlicher Umbau (Medien, Öffentlicher Dienst, Ministerien usw.) ist alles andere als demokratisch. Was ficht es ihn an, er sammelt Preise im guten alten Europa:
Die aktuelle Europa-Tour des argentinischen Präsidenten Javier Milei ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich neoliberale Think-Tanks und Intellektuelle sowie deren Finanzgeber global organisieren. Bevor Milei am 22. Juni 2024 in Hamburg von der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft die Hayek-Medaille entgegennimmt, holt er sich am 18. Juni in Prag den Preis des dortigen Liberalen Instituts ab. Danach reist er nach Madrid zum Instituto Juan de Mariana, um am 21. Juni deren Preis für marktradikale Propagandisten zu empfangen. (Quelle: Rosa Luxemburg Stiftung)
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