„Nachdem alle Brücken nach Russland abgerissen wurden, bleibt noch eine offen – die der Kunst.“ Das sagt der Songpoet Tino Eisbrenner, der sich selbst als Friedensberichterstatter und Brückenbauer bezeichnet. Der seit 44 Jahren aktive Künstler interessiert sich schon seit der frühen Kindheit für die slawische Welt. Für ihn ist der Krieg in der Ukraine kein Grund, nicht nach Russland zu fahren. Für ihn ist er dagegen Motiv, sich als Mitbegründer der Initiative „Musik statt Krieg“ noch stärker für Frieden und Verständigung zu engagieren. Als Künstler findet er dafür kreative Wege – vorbei an allem, was sich politisch zwischen Deutschland und Russland abspielt. Er scheut auch nicht vor einem Auftritt im Kremlpalast oder vor der Einladung der Russischen Botschaft in Berlin zurück. Woher er dazu den Mut und die Kraft nimmt, was ihn motiviert, darüber hat Éva Péli Mitte Juni mit ihm vor einem Konzert im Berlin gesprochen.
Éva Péli: Herr Eisbrenner, Sie engagieren sich seit Jahrzehnten für ein besseres Verhältnis, ja für Frieden und Freundschaft mit Russland. Wo kommt das her? Was gab den Anstoß?
Tino Eisbrenner: Ich habe in meiner Kindheit in Bulgarien gelebt, weil meine Eltern dort gearbeitet haben. Mein Vater war Lehrer, meine Mutter Kindergärtnerin im Botschaftskindergarten. Da habe ich die slawische Kultur kennengelernt. Ich bin also einer von denen, die davor keine Angst haben. Ab der dritten Klasse hatte ich dort Russisch, danach ging es in der DDR bis zur zwölften weiter. So ist also schon mal der Sprachschlüssel.
Durch die Sozialisierung haben wir alle viel über Russland – damals die Sowjetunion – erfahren. Wir kennen die russischen beziehungsweise sowjetischen Autoren, wir haben die russischen Filme geguckt, Märchen, bis hin zu den Filmen über den „Großen Vaterländischen Krieg“. So nennen sie den Teil des Zweiten Weltkrieges, der die Sowjetunion betraf. Wir haben auch ihre Musik kennengelernt. Als ich dann selbst mit Rockmusik anfing, bin ich auf Tournee gewesen in der Sowjetunion.
Dann kamen die Neunziger, da war ja Frieden, weil Jelzin Russland als Selbstbedienungsladen für den Westen hergab. Als Putin dies zu korrigieren begann, wurde Russland hier wieder zum Feind erklärt. Das hat mich motiviert, als Künstler dazu beizutragen, dass die Menschen Russland wieder kennenlernen. Dazu habe ich russische Lieder ins Deutsche übertragen, und das hat mich dann auch sehr schnell wieder für Konzerttouren nach Russland gebracht.
Sie sind bei Festivals in Russland aufgetreten, auch auf der Krim. 2023 haben Sie an dem Wettbewerb „Doroga na Jaltu“ mit dem Lied „Kraniche“ teilgenommen und den zweiten Platz gewonnen. Dieses Jahr waren Sie in der Jury dieses Wettbewerbs. Wie ist es überhaupt dazu gekommen?
Zum Festival habe ich mich einfach beworben. Jemand hat mir von dem internationalen Wettbewerb mit Liedern aus dem und über den „Großen Vaterländischen Krieg“ erzählt. Die Teilnehmer sollen in ihrer eigenen Sprache ein Lied singen. Mein Vorschlag war: „Kraniche“. Das ist eins der größten Lieder, die dieses Genre überhaupt hat. Sie können sich vorstellen, das auf Deutsch zu singen – in der Sprache des Feindes von damals –, das hat eine enorme symbolische Kraft. Gerade in der heutigen Zeit, wo Deutschland überhaupt gar keine Friedenssignale in Richtung Russland sendet. Und bisher war dieses Lied auch überhaupt nicht in einer deutschen Nachdichtung gesungen worden. Als ich dann im Finale im Kremlpalast zusammen mit der russischen Star-Sängerin Zara auf der Bühne stand und begonnen habe, auf Deutsch zu singen, erhoben sich 6.000 Leute im Saal, um zu zeigen, „Wir verstehen, warum du da bist. Wir verstehen, warum du dieses Lied singst.” Und „Wir öffnen unser Herz”.
Aus dieser Kraft heraus, die da entstanden ist, hat sich ergeben, dass ich im Jahr 2024 wieder eingeladen wurde. Da kam die Frage, ob ich in der Jury mitarbeiten würde. Wieder diese Handreichung. Vorbei an allem, was sich politisch zwischen Deutschland und Russland abspielt, die Hand gereicht.
Wie war die Resonanz in Russland und in Deutschland auf das Lied?
Dieses Jahr haben mich so viele Russen, manchmal sogar auf der Straße, angesprochen. Die ganze Sendung kam auch im Fernsehen, wurde wiederholt. Immer wieder wurde auch der Ausschnitt von Tino Eisbrenner und Zara gezeigt – der Deutsche und die Russin. Die „Kraniche“, auf Russisch „Журавли“, ist schon irgendwie mein Lied geworden. Auch mein Buch über meine Reise zum Festival trägt diesen Titel, und zwar in beiden Sprachen.
In Deutschland gibt es natürlich Menschen, die überhaupt gar kein Verständnis dafür haben, dass man jetzt nach Russland reisen kann, die nicht verstehen, dass die Kultur eigentlich die letzte Brücke ist, die wir noch haben, um vielleicht aus dieser Eskalation irgendwie herauszufinden. Der Sport ist ausgeschaltet, die Wirtschaft ist ausgeschaltet, die Politik eskaliert in die andere Richtung. Und ich frage: Was ist falsch daran, als Künstler eine solche Handreichung über die Gräben hinweg zu veranlassen und die Friedensbotschaft „Wir wollen, dass die Kultur uns verbindet” sowohl dorthin als auch zurück nach Deutschland zu tragen?!
Aber seit über einem Jahr ist nicht ein Tag vergangen, wo nicht auch Leute auf mich zugekommen wären, um zu sagen oder zu schreiben: „Wir wollten Dir danken, dass du dich so in den Wind stellst, dass du die Argumente bringst. Dass du uns die Geschichte sogar aufgeschrieben hast.“ Dafür bin ich sehr dankbar, weil es immer wieder Kraft gibt.
Sie haben die Initiative „Musik statt Krieg“ gegründet. Wie ist diese Idee entstanden?
Aus einer ähnlichen Situation wie jetzt. 2001 bis 2003 ging es in Deutschland darum, ob wir uns an dem US-amerikanischen Krieg gegen den Irak beteiligen. Viele Menschen haben damals verstanden, dass die sogenannte Achse des Bösen nur ein Alibi dafür ist, im Irak einzufallen und die Ölquellen zu besetzen.
In Deutschland gab es damals eine sehr starke Friedensbewegung. Da waren die Terrorattacken, und viele Menschen hatten Angst. Ich bin dann in Neubrandenburg, wo ich lebe, in ein Flüchtlingsheim reingegangen und hab gesagt, ich suche arabische, gerne irakische Musiker, die mit mir auf Tournee gehen wollen. Und so bin ich mit zwei irakischen Musikern auf Tournee gegangen – in meiner Band war noch ein Afrikaner und ein Bulgare und die Deutschen – und habe gesagt: Hier, die „Achse des Bösen“ zum Anfassen.
Die Überschrift über dieser Tour lautete „Musik statt Krieg“. Das haben wir dann auch mit einem arabischen Schriftzug aufgeschrieben, und so ist unser Logo entstanden. Ich denke, wenn alle davon reden, dass alle da auf der anderen Seite böse sind, dann muss man versuchen, diese anderen kennenzulernen. Dasselbe Prinzip habe ich jetzt in Russland angewandt, und ich hätte es übrigens auch gerne in der Ukraine getan. Doch wenn man in Russland gespielt hat und zum Beispiel auch auf der Krim war, dann ist es jetzt leider gefährlich, in die Ukraine zu reisen. Deswegen kann ich diese Brücke nur zwischen Deutschland und Russland bauen und mich hier um Verständigung bemühen. Und ich bin überzeugt davon, dass solche Bestrebungen den friedliebenden und auf Frieden hoffenden Menschen der Ukraine ebenfalls ein Dienst sein werden – genau wie allen Friedenssuchern der Welt. Wir haben die Aufgabe und Pflicht, aus der Kriegsspirale hinauszufinden, und das ist nur durch Verständigung zu erreichen.
Nun gibt es seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 Krieg in dem Land. Was bewegt Sie, weiter für Frieden zu singen? Welche Folgen hat das für Ihre künstlerische Arbeit, für Ihr Engagement?
Ich gehe mal über den kleinen Fehler in der Frage hinweg, weil ich weiß, was Sie meinen. Und wir beide wissen, dass es nicht erst seit Februar 2022 Krieg im Land gab. Aber als dann eingetreten war, wovor alle Friedensbewegten die ganze Zeit gewarnt hatten, hat es auch uns im ersten Moment schockiert; weil wir selbst immer in der Hoffnung waren, Russland wird schon nicht …
Dann ist es aber passiert, aus meiner Sicht auch folgerichtig passiert. Wenn 200.000 Soldaten vor der Grenze stehen und der Präsident der Ukraine brüllte, er hole sich jetzt den Donbass zurück, der nun acht Jahre lang um seine Unabhängigkeit gekämpft und geblutet hat. Oder da ist die Krim, die durch die schnelle Entscheidung 2014, zu Russland zu gehören, eigentlich im Frieden geblieben ist und keineswegs von Kiew „befreit“ werden will. Ich war zweimal dort, viele Leute haben mir versucht, zu erklären, „Warum begreift ihr Deutschen nicht? Durch unser Referendum und unsere Entscheidung, zu Russland zu gehören, sind wir noch im Frieden, sonst wäre hier Donbass.“ Aber „die Deutschen“ wollten es nicht begreifen …
Und plötzlich standen wir da, die wir immer gesagt hatten „Frieden mit Russland“, und es hieß jetzt: „Mit denen, die da den Krieg angefangen haben, mit denen wollt ihr Frieden machen?“
Spätestens aber mit der Sprengung von Nordstream 2 haben die meisten Leute angefangen zu denken. Sie sind leider immer noch nicht in der Situation, auf die Straßen zu gehen und zu sagen: „Jetzt schert euch ab und sucht euch einen Platz, wo ihr verhandeln könnt.“ Aber sie sind auf jeden Fall in einem anderen Denkprozess als noch 2022, wo praktisch alles blau-gelb getüncht wurde. Die Leute sehen jetzt klarer und erkennen, dass da mehr als zwei Farben eine Rolle spielen. Gerade gestern hat Rod Stewart bei seinem Konzert in Leipzig vor einem riesigen Selenskyj-Foto salutiert – und dafür ein tausendfaches Buh- und Pfeifkonzert geerntet.
Sie singen seit vielen Jahren Lieder sowjetischer Songpoeten wie Wladimir Wyssotzki, Bulat Okudschawa und anderen. Warum, was hat Sie dazu gebracht?
Da war diesbezüglich ein großes schwarzes Loch seit den 2000er-Jahren, die Menschen in Deutschland hatten sich in den Neunzigern dem „American way of life“ verschrieben und kaum noch für Russland interessiert. Wir wussten immer weniger über ihre Kultur, die russische Seele und Alltagspoesie. Deswegen habe ich angefangen, nach diesen Liedern zu gucken und sie in unsere Sprache zu holen. Immer Lieder, die auch für uns eine Relevanz haben, damit man einfach erkennen kann, aha, also die denken auch nicht anders, die lieben und leben genauso wie wir, die haben die gleichen Alltagssorgen, die gleichen Träume, sind Menschen. Ich wollte das für unsere Leute in Deutschland machen. Man hat keine Angst voreinander, wenn man sich kennt! Und plötzlich kamen die Einladungen in den russischsprachigen Raum: Russland, Georgien, Belarus, aber sogar auch nach Polen, Tschechien und die Slowakei. „Ein Deutscher singt unsere Lieder, und in seinen Konzerten stellt er die russische Seele vor, trotz Konflikt, trotz Sanktionen. Wollen wir den nicht mal zu uns einladen?“ Auf den Tourneen habe ich viele Menschen kennengelernt. Plötzlich kamen Empfehlungen an Liedern, „das wäre auch ein tolles Lied für dich, und das und hier“. Nach diesen Jahren dann kam 2023 die Empfehlung, bei dem Festival teilzunehmen, das war wieder eine ganz andere Ebene an Bekanntmachung.
Am 5. Juni sind Sie zusammen mit Tobias Morgenstern in der Russischen Botschaft in Berlin zum 225. Geburtstag des russischen Dichters Alexander Puschkin mit einem Ausschnitt aus Ihrem gemeinsamen Puschkin-Programm aufgetreten. Wie ist es zu diesem Ereignis gekommen?
So kommt es, wenn man sich gegenseitig wahrnimmt. Natürlich nimmt die Botschaft einen deutschen Liedermacher wahr, der sich für die Verständigung engagiert. So entstand die Idee, am Vorabend von Puschkins Geburtstag eine offizielle Feierstunde zu planen, bei der wir Auszüge aus unserem Programm über den russischen Nationaldichter Alexander Puschkin vortragen würden. Nun können natürlich wieder Leute aufspringen und sagen: „In dieser Zeit kann man nicht in der russischen Botschaft singen, das geht nicht.“ Aber das ist derselbe Unsinn wie „Man kann nicht in Moskau singen oder man kann nicht in Sankt Petersburg singen oder in Smolensk“. Wir müssen Brücken bauen. Mit Tobias Morgenstern war ich da sofort einig. Unser Puschkin-Programm besteht übrigens nicht nur aus Puschkin. Er dominiert zwar, aber wir lassen auch Puschkins poetische Erben zu Wort kommen, die ich ebenfalls in eigener Nachdichtung und mit russischen Originalzitaten singe. Zum Beispiel Bulat Okudschawa, der übrigens in diesem Jahr auch ein Jubiläum hat, nämlich den 100-jährigen Geburtstag.
Oft fragen mich Leute: „Wie kommst du denn eigentlich überhaupt nach Russland? Kann man da überhaupt hinfahren oder fliegen?“ Klar kann man. Es ist bloß so, dass die deutschen Fluglinien ausscheiden. Aber dann nimmt man andere. Man hat einen Umweg.
In einem Interview haben Sie gesagt: „Wir müssen wieder lernen, wie man Frieden schließt.“ Wie kann das möglich sein angesichts der zunehmenden Kriegshysterie in Politik, Medien und Gesellschaft?
Wir müssen unsere Politiker, die gerade regieren, daran erinnern, was der Kanzler in seinem Eid geschworen hat, nämlich „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“. Der Weg ist auf keinen Fall, dass wir versuchen, innerhalb der nächsten drei Monate oder drei Jahre oder 30 Jahre Russland zu vernichten. Das wird so nicht funktionieren, weil den Russen längst klar ist, dass es um die Existenz ihres Staates geht, und wenn sie in dieser Frage mit dem Rücken an die Wand gedrückt werden, dann werden sie entsprechend reagieren.
Im Moment können wir alle die Klappe weit aufreißen, weil die Russen sehr besonnen reagieren. Natürlich führen sie jetzt einen Krieg, den wir alle nicht wollen, aber sie haben den Krieg nicht angefangen. Insofern stimmt die Vokabel auch nicht: „aggressiver Angriffskrieg“. Sie haben nicht angegriffen, sie haben ihn nicht begonnen. Der lief, und zwar gegen die russische Kultur und Sprache und jeden, der sich zu deren Verteidigung erhob. Und Russland hat, nachdem sogar das Minsk-II-Abkommen seitens Kiews völlig ignoriert wurde, dessen Bürgen Deutschland, Frankreich und Russland waren und sein sollten, eingegriffen in diesen Krieg. Das ist schon öfter vorgekommen in der Geschichte, dass in einen Krieg eingegriffen wurde, um ihn zu beenden. Damit ist Russland nicht das erste Land, und Russland ist auch nicht das erste Land, das überhaupt einen Krieg führt. Aber wir schwingen uns auf, um ausgerechnet gegen Russland unsere saubere Moral geltend zu machen. Und wenn man mit der Lupe draufzeigt, merkt man, wir haben gar keine. Wir tun das alles für Geld und für Pfründe, die uns damit eröffnet werden könnten, wie wir glauben. Und jeder halbwegs gebildete Deutsche begreift spätestens seit Nordstream 2, um wessen Interessen es eigentlich geht und nach wessen Pfeife unsere Politik tanzt.
Sie haben auch schon gesagt, Kunst und Kultur hätten die Aufgabe, immer auch den gesellschaftlichen Diskurs anzuregen. Doch die Räume dafür werden anscheinend immer enger, ganz deutlich seit der Corona-Krise, nun auch durch die Kriegshysterie. Wie können da Kunst und Kultur die Räume offen halten und erweitern?
Der Ruf nach den Künstlern, die nun zur Flagge greifen sollen, damit alle hinterherlaufen können, ist recht oft zu hören. Aber die Aufgabe der Kunst ist, die Dinge zu begleiten und zu spiegeln. Und wenn die Revolution da ist, dann wird sich auch der Barde finden, der die entsprechende Hymne schreibt, weil er Teil der Bewegung und des gesellschaftlichen Ringens ist. Aber es sind nicht die Künstler, die vorneweg mit der Fahne marschieren, während sich hinter ihnen das Volk sammelt. Der Dichter Pablo Neruda, der die kommunistische chilenische Bewegung einst anführte, hat bei der Gründung der Unidad Popular die Führung in die Hände des Politikers Allende gegeben und diesen als Künstler und Kulturbotschafter begleitet – bis in den Tod sogar …
Aber zurück zu Ihrer Frage. Natürlich war das kein Zufall, dass die Politik in der Corona-Krise zuerst die Kunst ausgeschaltet und damit die Räume geschlossen hat, in denen Diskurs stattfindet. Man hat ja die Kunst auch viel länger im Lockdown gelassen als zum Beispiel den Sport, wo niemand spricht, sondern alle nur brüllen, ob das Tor fällt oder nicht. Dort, wo gesprochen wird, wo Denken und Bildung gefördert werden, nämlich in den Räumen der Kunst, da hat man als Erstes geschlossen und als Letztes erst wieder aufgemacht, aus Angst, es könnte ein Widerstand entstehen oder mindestens ein Widerspruch.
Politiker verstehen sehr oft die Rolle der Kunst für eine Gesellschaft gar nicht, so wie sie auch sehr oft die Rolle der Politik gar nicht verstehen. Politik soll den Konsens ermitteln und herstellen. Das erreicht man nicht über Stigmatisierung und Ausgrenzung, sondern durch Diplomatie. Würde Politik begreifen, was Kunst und Kultur können, dass sie nämlich das markanteste Merkmal sprichwörtlicher Menschlichkeit sind und also zu Menschlichkeit führen, wo auch immer man sie gedeihen lässt, dann gäbe es keinen Zweifel daran, wie falsch es ist, russische Künstler unseres Landes zu verweisen, russischen Studenten keinen Zugang zu unseren Universitäten zu gewähren, russische Filme oder Bücher zu verbannen oder andersherum deutschen Künstlern das Leben schwer zu machen, wenn sie um der Menschlichkeit willen kulturelle Brücken nach Russland zu erhalten suchen.
Über die Kunst kann es gelingen, diese und auch andere internationalen Brücken wieder zu bauen. Wenn Politiker – die, die ganze Zeit das Gegenteil behauptet haben – jetzt sagen würden „Okay, Moskau, dann wollen wir jetzt mal sprechen“, würde Moskau wahrscheinlich auch erst mal sagen: „Wo ist der Haken?“ Aber Leuten wie mir zum Beispiel, die die ganze Zeit gesagt haben „Wir brauchen die Brücke“, würde man natürlich mehr vertrauen. Insofern kann die Kunst der Politik – wenn diese sich dessen bewusst wird – helfen, zu Friedensargumenten zurückzufinden und aus den Kriegsargumenten rauszukommen.
Stichwort Cancel Culture: Sie haben das selbst erlebt, Sie sind wegen Ihrer Haltung sogar von einer Friedensveranstaltung ausgeladen worden. Was ist da passiert, und warum ist so etwas möglich, dass jemand wegen seines Engagements für Frieden und Verständigung diffamiert wird?
Weil die Menschen unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie Frieden zu erreichen ist und was Frieden überhaupt bedeutet. Für mich ist Frieden nicht nur abstrakt. Ich möchte erreichen, dass der Krieg aufhört, und dann ist für mich Frieden. Aber viele Menschen – vor allen Dingen politisch ambitionierte oder verantwortliche Menschen – sind eben der Ansicht, wie die, die mich da ausgeladen haben, man muss sich jetzt für die Ukraine entscheiden. Man hilft der Ukraine am besten, indem man den Krieg verlängert. Die Ukraine selbst kann ihn nicht verlängern. Wir können ihn aber verlängern, indem wir jetzt Waffen liefern.
Das ist für mich nicht nachzuvollziehen. Ich bin der Meinung, der Frieden beginnt da, wo das Schießen aufhört. „Ja, aber dann haben die Russen gewonnen“, kam das Gegenargument. Und „dann haben wir die praktisch machen lassen, was sie wollen“. Dabei geht man davon aus, dass die Russen diesen Krieg wollten. Doch das ist nicht der Fall. Sie haben sich über Jahre dagegen gewehrt, Angebote gemacht, selbst nach den ersten paar Wochen nach dem Einmarsch.
Aber Selenskyj durfte ja nicht aufhören, er musste weitermachen. Selbst bei den Friedensverhandlungen, die schon angelaufen waren, kam dann Boris Johnson zur Tür herein und drohte: „Wenn ihr jetzt hier Frieden macht, dann können wir euch die Kreditverträge streichen.“ Von der westlichen Seite ging es immer nur um die Verlängerung des Krieges – weitermachen, weitermachen! Man verdient besser Geld. „Vielleicht kriegen wir ja die Russen doch irgendwie in die Knie gezwungen.“ Und das sind alles keine Friedenspläne.
Warum ist heute so wenig zu hören von Musikern und Künstlern, wenn es um Frieden geht, bis zu jenen, die Frieden mit Waffen schaffen wollen? Das war früher schon anders.
Ich hoffe, dass es jetzt wieder mehr werden. Am 18. August gibt es ein großes Friedenskonzert in Suhl, wo auch Künstler auftreten, die sehr unterschiedlich denken über Gut und Böse, oder auf welche Art der Frieden hergestellt werden muss. Trotzdem haben wir es geschafft, dass wir uns zusammen auf eine Bühne stellen und für Frieden, für den abstrakten Frieden singen. Aber Ihre Frage erübrigt sich, wenn man bedenkt, in welcher Art unsere derzeitige Politik auf Menschen reagiert, die sich gegen die Doktrinen unserer Regierung wenden und wie sie sie stigmatisiert, etikettiert, ausgrenzt – auch geschäftlich ruiniert.
Genauso geht es auch den Musikern. In den letzten zwei Jahren habe ich alles erlebt. Veranstalter, die mich nach 30 Jahren Zusammenarbeit plötzlich nicht mehr kennen, oder Veranstalter, die mich sehr wohl noch kennen und mich anrufen und sagen „Tino, es ist alles richtig, wir sind ganz und gar deiner Meinung, aber wir kriegen auch Geld vom Senat. Wenn wir dich jetzt auf den Spielplan setzen, so haben wir Angst, dass die uns das Geld vom Senat streichen.“ Aber es gibt genauso Veranstalter – und das ist eben die optimistische Seite der Betrachtung –, die kommen und sagen: „Wir kannten dich vorher gar nicht, aber danke für dein Engagement, und kannst du nicht mal bei uns spielen?“ Oder welche, die sagen: „Wir haben schon immer mit dir gearbeitet, und wir halten zu dir. Und wir haben jetzt gerade beschlossen, dass wir kein Geld vom Senat mehr nehmen, keine Anträge mehr stellen, damit wir in unserer Entscheidung frei sind, Künstler wie dich weiter auf unsere Bühnen zu stellen.“
Es gibt alles. Aber dazu muss jeder einzelne Musiker für sich selbst entscheiden, wie stark die eigene Überzeugung ist. Du brauchst dazu wirklich eine sehr starke Überzeugung, sonst hältst du es nicht aus. Doch die Überzeugung und den Mut, der aus ihr erwächst, haben nicht alle, deswegen äußern sich viele nicht.
Aber es gibt eben auch viele, die wirklich angefangen haben zu denken über die zwei Jahre hinweg. Und ich wiederhole noch einmal: Spätestens mit der Sprengung von Nordstream 2 sind ganz viele Menschen plötzlich wach geworden und haben gesagt: „Was ist denn hier los? Wären das die Russen gewesen, dann gäbe es einen medialen Aufschrei, ein Riesentheater …“ Aber man weiß genau, es waren nicht die Russen. Also spricht keiner drüber. Damit hat sich die Politik so dermaßen entlarvt, dass es zum Beispiel zu solchen Wahlergebnissen führt, wie wir sie jetzt gerade bekommen haben.
Sie sind seit 44 Jahren als Musiker, Songpoet und Buchautor unterwegs. Wie verorten Sie das, was Sie jetzt machen, auf Ihrer bisherigen künstlerischen Laufbahn?
Ich verorte es vor allen Dingen mit einem gewissen Bedauern. Weil es natürlich schöner ist, aus einem freiheitlichen Gefühl heraus poetische Gedanken zu entwickeln und die Liebe zu verkünden oder zu spiegeln, als sich politisch engagieren zu müssen, weil man merkt, dass alles irgendwie den Bach runtergeht. Ein Gedicht von Bertolt Brecht zitiere ich in letzter Zeit sehr oft: „Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt?“ Und in so einer Situation sind wir jetzt gerade. Es fällt mir unheimlich schwer, ein Lied oder Gedichte über Bäume zu schreiben; auf Partys zu gehen und so tun, als wäre die Welt in Ordnung – unglaublich schwer. Und ich suche immer nach dem größeren Beitrag, den ich leisten kann, um diese Situation irgendwie zu befrieden, um zu helfen, einen Krieg zu beenden, statt ihn noch auszuweiten. Das beeinflusst natürlich mein künstlerisches Schaffen.
Andererseits beflügelt es jenes Schaffen auch. Zu wissen, dass man gebraucht wird – und nicht bloß mit irgendeinem Schubidu für die nächste Party, um zwei Stunden später schon vergessen zu sein. Ich erlebe ja ganz oft, dass Leute mir sagen, dass sie inzwischen mit meinen Liedern richtig leben, dass die für sie eine Philosophie und eine Hoffnung, also eine Hoffnungsphilosophie darstellen. Und ich bin natürlich nicht der einzige Künstler, dem es so geht, auch wenn wir womöglich in der Minderheit sind. Das heißt, wie Goethe gesagt hat: „Zwei Herzen schlagen ach in meiner Brust.“ Eines in der Sehnsucht danach, einfach über Bäume schreiben zu können, über das Rascheln der Blätter. Das andere in der Verantwortung vor sich selbst und den Menschen gegenüber, für die man singt, und zwar hierzulande genauso wie zum Beispiel in Russland. Die Verantwortung selbst der Kunst gegenüber, als Brückenbauer und, wie ich es auch gern nenne, als Friedensberichterstatter.
Titelbild: Gregor Krampitz