Die Europawahlen brachten am 9. Juni 2024 den sich seit langem abzeichnenden deutlichen Sieg der ultrarechten Partei „Rassemblement National“ (RN). So gut wie niemand hatte erwartet, dass Staatspräsident Emmanuel Macron, dessen Partei „Renaissance“ eine derbe Wahlniederlage einstecken musste, dieses Wahlergebnis dazu nutzen würde, die Nationalversammlung aufzulösen und innerhalb von drei Wochen Neuwahlen anzusetzen. Noch niemals zuvor hatte eine Europawahl in Frankreich schwerwiegende innenpolitische Auswirkungen zur Folge. Zahlreiche französische Medien zweifelten in der Folge an der Richtigkeit der Entscheidung und warfen Macron vor, durch die Aufwertung dieser innenpolitisch nicht direkt wichtigen „Zwischenwahl“ die Französische Republik an den RN auszuliefern. Von Sebastian Chwala.
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Auf der Linken deutete man Macrons Versuch folgerichtig so, eine „Cohabitation“ herbeiführen zu wollen. Damit ist gemeint, dass eine RN-geführte Regierung mit Staatspräsident Macron koexistieren müsste. Da sämtliche Machtmittel der Exekutive, wie die Erlassung von Gesetzen per Dekret (Verfassungsartikel 49.3), nur der Regierung zustehen, blieben Macron wenige Machtmittel, die Agenda des RN zu stoppen. Höchstens der „Conseil Constitutionel“ (Verfassungsrat) könnte einschreiten. Dieser hatte allerdings Anfang dieses Jahres Teile eines neuen Zuwanderungsgesetzes stoppen müssen, die soziale Leistungen wie das Kindergeld explizit an die Staatsbürgerschaft binden wollten. Diese Reform wurde aber in der Nationalversammlung mit den Stimmen eines Großteils der „macronitischen“ Abgeordneten verabschiedet. Dass die „Préference national“ („Nationale Präferenz“), die immer Kernbestandteil der Programmatik des RN war, nun auch vom „Macronismus“ mitgetragen wurde, zeigte einmal mehr auf, wie sehr sich Macron auf ganzer Linie von seinem „sozialliberalen“ Image verabschiedet hatte, mit dem er seine erste Wahlkampagne 2017 geführt hatte.
Macron sucht nach einem neuen „Regierungsblock“
Doch die Überlegungen von Staatspräsident Macron, der laut Verfassung über die Möglichkeit verfügt, einmal im Jahr die Nationalversammlung aufzulösen, waren anderer Natur. Viel eher wollte Macron durch die Anordnung plötzlicher Neuwahlen Nutzen aus dem Zerfall des Linksbündnisses NUPES (La Nouvelle Union populaire), bestehend aus „La France insoumise“ (LFI), dem grünen Wahlbündnis „Pôle écologiste“, der Parti communiste français (PCF) und der Parti socaliste (PS), ziehen. Dieses Bündnis war am Umgang mit dem Einmarsch und dem folgenden Krieg Israels im Gazastreifen schon im Oktober 2023 zerbrochen. Vor allen Dingen LFI profilierte sich in der Folge als scharfer Kritiker dieses Krieges und forderte scharfe Sanktionen gegen die israelische Regierung.
Diese Strategie von LFI war die Folge einer seit Jahren anhaltenden wachsenden Verankerung in den sozialen Brennpunkten an den Stadträndern, insbesondere in der Pariser Region, die stark muslimisch geprägt sind. Dagegen hielten sich die PCF, aber auch Grüne, die beide auch antiimperalistische Strömungen in ihren Reihen haben, zurück, sich klar zu den Rechten der Palästinenser zu bekennen. Dies ist auch Ausdruck der starken antimuslimischen Strömungen in der französischen Gesellschaft, welche die Kommunistische Partei besonders bei jenen Wählern verbreitet sieht, die man politisch vertreten will. Die PS positionierte sich in der Vergangenheit ohnehin traditionell „pro-israelischer“ als der Rest der Linken. Eine zersplitterte Linke kann im französischen Mehrheitswahlsystem aber keinerlei politische Wirkungsmacht mehr entwickeln.
Zudem war sich Macron bewusst, dass nach dem Wahlsieg des RN die rechtskonservativen „Republikaner“, die nur noch lose in der Tradition des „Gaullismus“ stehen, aufgerieben werden würden zwischen jenen Fraktionen, die ein offenes Rechtsbündnis mit dem RN für Parlamentswahlen eingehen würde, jenen, die für eine autonome Kandidatur plädieren, und jenen Kräften, die sich dem „Macronismus“ annähern würden. Bei den „Republikanern“ kam es auch, wie erwartet, zum Bruch zwischen der Partei und ihrem Parteichef Eric Ciotti, der ohne Absprache mit den Gremien ein Wahlbündnis mit dem RN verkündete. Als dieser sich vor dem Parteivorstand rechtfertigen sollte, schloss er sich in der Parteizentrale ein und versuchte so, eine Sitzung zu verhindern, die seinen Ausschluss beschließen wollte. Vergeblich, denn der Vorstand beschloss in den folgenden Tagen zweimal den Parteiausschluss. Ciotti konnte diesen aber bisher juristisch abwenden.
Macrons Kalkül bestand darin, den Überraschungseffekt seiner Ankündigung dazu zu nutzen, in der allgemeinen Verunsicherung über den Vormarsch des RN „Renaissance“ als zentrale Partei re-etablieren zu können, die erneut flankiert würde von „liberalen“ Vertretern aus dem Spektrum der Sozialdemokratie und dem rechtsbürgerlichen Lager. Auf diese Weise könnte die bei den Parlamentswahlen 2022 verlorene politische Mehrheit, die den „Macronismus“ seitdem zwang, oftmals mit Dekreten am Parlament vorbeizuregieren, wieder zurückgewonnen werden.
Die „Neue Volksfront“ als Ergebnis des zivilgesellschaftlichen Drucks
Doch im Angesicht der Gefahr von rechts war der Druck aus der gesellschaftlichen Linken auf die politische Linke, die drohende Regierungsübernahme der Ultrarechten zu verhindern, groß – besonders die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände, die linke, klassenkämpferische CGT-Gewerkschaft und die sozialdemokratische CFDT, rufen zu Großdemonstrationen auf, um dem gesellschaftlichen Widerstand gegen RN ein Gesicht zu geben. Am letzten Samstag demonstrierten mehrere hunderttausend Menschen in vielen Städten Frankreichs gegen den RN.
Innerhalb weniger Tage konnte auch eine politische Übereinkunft – sowohl personeller als auch programmatischer Natur – zwischen den Parteien erreicht werden, die noch während des Europawahlkampfes unmöglich schien. Die „Neue Volksfront“ (NPS) war geboren. Damit spielt die Linke ganz direkt auf die historische „Volksfront“ an, die 1934 im Angesicht der faschistischen Bedrohung entstand und 1936 die Parlamentswahlen gewinnen konnte. In der Folge wurden, begleitet durch wochenlange Massenstreiks, grundlegende Arbeiterrechte beschlossen. So wurde ein gesetzlicher Anspruch auf Urlaub durchgesetzt, die Arbeitszeiten deutlich reduziert und die Gewerkschaften in den industriellen Großbetrieben legalisiert.
Der Europawahlkampf war allerdings noch stark geprägt gewesen vom Gegensatz der PS-Liste „Place publique“ und LFI. Während „Place publique“ voll auf die Person Raphaël Glucksmann setzte, stellte LFI weiterhin den Krieg im Gazastreifen in den Mittelpunkt und nominierte mit Rima Hassan eine in Frankreich bekannte Aktivistin für die Rechte der Palästinenser für einen aussichtsreichen Listenplatz. In der Folge versuchten Akteure aus dem Spektrum der französischen Rechten, „Macroniten“, aber auch jüdische Interessenverbände Vorträge in öffentlichen Einrichtungen, besonders Universitäten, verbieten zu lassen, waren damit aber nur teilweise erfolgreich.
Glucksmann dagegen, Sohn des antikommunistischen „Neuen Philosophen“ André Glucksmann, betätigte sich in rechtsliberalen, pro-amerikanischen Kreisen und stieg dann Mitte der 2000er Jahre zum führenden Berater des georgischen „Farbrevolutionärs“ Micheil Saakaschwili auf. Hier war er führend am wirtschaftsliberalen Umbau des Landes beteiligt. Anschließend unterstützte er die Politik des rechtskonservativen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, bevor er sich der Sozialdemokratie zuwendete und die Partei „Place publique“ mitgründete. Glucksmann, der bereits seit 2019 Mitglied des Europaparlaments ist, stimmte dort, obwohl auf dem Papier Sozialdemokrat, in der Regel mit den Rechtsliberalen. Der „Atlantiker“ Glucksmann bekannte sich bedingungslos zum Ukrainekrieg und lehnte eine konsequente Verurteilung des Vorgehens der israelischen Armee in Gaza ab. Viele Medien hoben ihn auch deshalb als „moderate“ Alternative zu den „radikalen“ Aktiven von LFI auf ihr Schild. „Place publique“ (13,83 Prozent) und LFI (9,89 Prozent) erzielten in der Folge die stärksten Ergebnisse im linken Lager, während die Grünen auf 5,5 Prozent zurückfielen und damit die 5-Prozent-Hürde, deren Überschreitung bei den französischen Europawahlen notwendig ist, um Mandate zur erhalten, nur knapp überschritten. Die PCF erreichte gerade einmal 2,36 Prozent.
Gegen Glucksmanns Widerstand – der hatte sich als absoluter politischer Antipode zu LFI präsentiert – und zur Überraschung der „Macroniten“ nahmen alle Linksparteien schon am Montag nach den Europawahlen Gespräche zur Bildung eines Wahlbündnisses auf. Ziel war in erster Linie die Aufstellung von Einheitskandidaten in allen Wahlkreisen sowie die Ausarbeitung eines Sofortprogramms mit Maßnahmen, die bereits in der ersten Woche nach dem Wahlsieg des Linksbündnisses in Kraft gesetzt werden sollen. Da alle potenziellen Partner mit eingebunden werden sollten, kam man Glucksmanns Partei entgegen und beschloss, dass auch eine Linksregierung die Ukraine mit Waffenlieferungen unterstützen wird. Gleichzeitig soll aber ebenso eine Anerkennung eines palästinensischen Staates sowie ein Waffenembargo erfolgen. Alle Partner fordern gemeinsam einen Waffenstillstand.
Diese Fragen standen bei den viertägigen Verhandlungen aber nicht im Mittelpunkt, viel eher ging es den Partnern der „Neuen Volksfront“ darum, ein Aktionsprogramm vorzustellen, das mit dem harten angebotsorientierten Kurs des „Macronismus“ bricht. Deshalb will man die im letzten Jahr per Dekret durchgesetzte Rentenerhöhung wieder zurücknehmen. Außerdem plant das NPS Preise für Grundnahrungsmittel und Energie einzufrieren, außerdem sollen die Mindestlöhne deutlich steigen. Zudem sollen die Mieten eingefroren werden. Zur Gegenfinanzierung sollen die Steuern auf Vermögen steigen.
Zwar gelang es durch den Druck der Straße, die Linke zu einem Vernunftbündnis zu drängen. Doch die Widersprüche bleiben gewaltig. Auf der einen Seite steht die von jungen Aktivisten getragene Bewegung und Partei „LFI“, die im Schatten des keine Funktion mehr bekleidenden Jean-Luc Mélenchon aufgrund ihrer Bewegungsorientierung viele junge Menschen anzieht, die sich politisch engagieren wollen. Ideen der antikapitalistischen Linken sind in der Bewegung weitverbreitet und der „Bruch mit dem bestehenden“ Wirtschaftssystem wird auch in der internen Bildungsarbeit hervorgehoben. Die kaum existenten Mitbestimmungsebenen bei LFI sorgen dafür, dass sich die Bewegung von der Spitze her immer wieder schnell neu erfinden kann. So wurden für diese Wahlen viele „nicht-weiße“ zivilgesellschaftliche Aktivisten für Kandidaturen nominiert. Auch Vertreter aus dem französischen Antifa-Spektrum wurden aufgestellt.
Demgegenüber stehen die etablierten „Mitte-Links“-Parteien PS, Grüne und PCF, die versuchen, politische Konstellationen zu schaffen und zu nutzen, die die LFI schwächen oder sogar spalten sollen, um die alten Machtverhältnisse in der Linken wieder herzustellen. So unterstützen die drei Parteien bei der kommenden Wahl offen drei nicht mehr nominierte Ex-Abgeordnete gegen die offiziell nominierten Kandidaten, die sich schon vor längerer Zeit in Dissidenz zur LFI-Spitze begeben haben, weil sie die Bewegung politisch in Richtung Mitte verschieben wollen. Ein Affront gegen LFI, die wiederum die Dominanz der „alten Seilschaften“ insbesondere bei der PS beklagen, die tatsächlich François Hollande, dessen politisches Ziehkind Macron ist, wieder ins Rennen schickt. Spannungen innerhalb der NPS sind also allgegenwärtig und vermitteln den Wählern den Eindruck, dass ein wirkliches gemeinsames Regierungshandeln nur schwer möglich sein könnte.
Das „Rassemblement National“ muss jetzt politisch Farbe bekennen
Allerdings zwingt der Waffenstillstand innerhalb der Linken auch den RN, politisch Farbe zu bekennen. Die Partei war in der Vergangenheit immer demagogisch gegen den Staat, Steuern und die Einschränkung der individuellen Freiheit unterwegs und punktet mit ihrer offenen Fremdenfeindlichkeit gerade in der unteren Mittelschicht und bei durchschnittlich gut verdienenden Arbeiterhaushalten. Denn durch den zu gutmütigen Sozialstaat werden, so der RN, nur Arbeitsverweigerer und Migranten alimentiert. Der Abbau des Sozialstaates und des öffentlichen Dienstes könne so umverteilt werden in die Lohntüten der Arbeiter. In Zeiten der unsicheren wirtschaftlichen Verhältnisse greifen diese Neiddebatten bei zahlreichen weißen Lohnarbeitern gut. Freilich kümmert sich der RN wenig um die „kleinen Leute“.
Tatsächlich gehen Le Pen und der Rest der Kader bei den großen Wirtschaftsverbänden ein und aus. Keine Partei trägt derart viele Forderungen von deren Lobbyverbänden ins Parlament. Es ist gerade der RN, der seit seinem Einzug mit 89 Abgeordneten in die Nationalversammlung jeden Antrag ablehnte, der die wirtschaftliche Besserstellung der breiten Bevölkerung zum Ziel hatte. So lehnte der RN die Erhöhung des Mindestlohnes oder die Wiedereinführung der Vermögenssteuer ab. Ebenso verhielt sich die Partei bei Abstimmungen über Rentenerhöhungen oder der Forderung nach bezahlbaren Mieten. Gleichzeitig stimmten die Vertreter des RN auch allen Freihandelsabkommen im EU-Parlament zu. Zwar vertritt man verbal gerne die kleinen bäuerlichen Betriebe, politisch ist man aber mit den exportorientierten französischen agrarischen Großbetrieben verbunden.
Seit dem Wahlsieg am 9. Juni und der Bekanntgabe der kommenden Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli stolpert der RN daher von einer Peinlichkeit zur nächsten. So kündigte Spitzenkandidat Bardella im Falle eines Wahlsieges an, die Rentenreform des Jahres 2023 aufgrund des geringen haushaltspolitischen Spielraums nicht zurückzunehmen. Dann hieß es, auch eine versprochene Senkung der Mehrwertsteuer werde verschoben. Inzwischen sind die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des RN für die Zeit nach den Wahlen aus dem Netz verschwunden. Erstmal wolle man an die Macht kommen und dann könne man die richtigen politischen Weichen stellen, heißt es beim RN. Der antisoziale Kern der Programmatik wird jedoch durch die „Agitationsarbeit“ der Gewerkschaften klarer. Dies dürfte ein Grund sein, warum die Umfragewerte für die Partei sinken. Schon jetzt deuten außerdem zahlreiche Indikatoren an, dass die Wahlbeteiligung Ende Juni deutlich steigen wird. Dies ist kein gutes Zeichen für den RN, da dies ein Ausdruck der Aktionen gegen die Partei auf den Straßen Frankreichs ist. Eine eigene Mehrheit für den RN in der französischen Nationalversammlung scheint so unwahrscheinlicher denn je.
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