Die in Frankreich lebende US-amerikanische Journalistin Diana Johnstone hat einen interessanten Text zum D-Day geschrieben und diesen Moritz Müller für die NachDenkSeiten zur Verfügung gestellt. Sie beschreibt einige Hintergründe der D-Day-Landungen in der Normandie – insbesondere, wie diese in Frankreich gesehen wurden und werden. Außerdem zeigt sie auf, wie bei den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des D-Day die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung Europas konsequent ausgeblendet wurde. Diana Johnstone schildert, wie der NATO-Stellvertreterkrieg in der Ukraine sozusagen die Fortführung von 80 Jahre alten Ideen westlicher Führer ist. Diese, zum Beispiel Churchill, wollten damals mit der besiegten Wehrmacht weiter gen Osten ziehen.
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Dieser Plan wurde nicht ausgeführt, stattdessen nutzten die Alliierten die Dienste von ehemaligen Angehörigen des Nazi-Apparats. Susanne Hofmann hat den Text für die NachDenkSeiten aus dem Amerikanischen übersetzt. Übrigens: Diana Johnstone setzt sich seit Jahren für die Freiheit von Julian Assange ein. Sie hat dazu Ende 2019 einen Offenen Brief mit einer Liste illustrer Unterzeichner an den Erzbischof von Canterbury gerichtet.
D-Day 2024 : A Reversal of Alliances? Von Diana Johnstone
Zum 80. Jahrestag der „Operation Overlord“, der angloamerikanischen Landung an den Stränden der Normandie am 6. Juni 1944, bekannt als D-Day, fanden letzte Woche Feierlichkeiten statt. Zum allerersten Mal waren die Russen ostentativ nicht dazu eingeladen.
Die Abwesenheit der Russen veränderte symbolisch die Bedeutung der Feierlichkeiten. Sicherlich stellt die „Operation Overlord“ einen ersten bedeutsamen Schritt zur Beherrschung Westeuropas durch die englischsprachige Welt dar. Doch ohne Russland hatte man das Ereignis symbolisch aus dem originalen Kontext des Zweiten Weltkrieges genommen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war dazu eingeladen, zu diesem Anlass eine Videoansprache vor dem französischen Parlament zu halten. Selenskyj dämonisierte Putin hemmungslos und beschrieb den russischen Präsidenten als den „gemeinsamen Feind“ der Ukraine und Europas. Russland, so seine Behauptung, „ist ein Gebiet, in dem Leben keinen Wert mehr hat … Es ist das Gegenteil von Europa, es ist das Anti-Europa.“
Und so wurden am D-Day, 80 Jahre nach der Landung, eine andere Allianz und ein anderer Krieg gefeiert – oder vielleicht doch der gleiche alte Krieg, aber mit dem Versuch, seinen Ausgang zu verändern. Hier fand also eine Verschiebung der Bündnisse statt, die einem Großteil der britischen Oberklasse vor dem Krieg gefallen hätte. Seit seiner Machtergreifung hatte Hitler in der britischen Aristokratie und selbst bei den Royals viele Bewunderer. Viele betrachteten Hitler als das potente Gegengift zum „jüdischen Bolschewismus Russlands“. Am Ende des Krieges hätten es einige vorgezogen, „den Sack zuzumachen“ und sich gegen Russland zu wenden. Es dauerte 80 Jahre, bis es so weit war. Doch die Saat zur Umkehr war immer vorhanden.
D-Day und die Russen
Im Juni 1941 begann Nazi-Deutschland ohne jeglichen Vorwand oder eine Operation unter falscher Flagge mit ihrem massiven Einmarsch in die Sowjetunion. Im Dezember brachte der japanische Angriff auf Pearl Harbor die Vereinigten Staaten zum Kriegseintritt. Als der Krieg an der Ostfront tobte, bat Moskau seine westlichen Alliierten, eine zweite Front zu eröffnen, um die deutschen Truppen zu teilen. Bis die westlichen Alliierten in der Normandie landeten, hatte die Rote Armee den Nazi-Invasoren bereits eine entscheidende Niederlage beigebracht und war dabei, eine riesige Front im sowjetischen Weißrussland zu eröffnen, welche die Schlacht in der Normandie in den Schatten stellte.
Die Rote Armee begann mit ihrer „Operation Bagration“ am 22. Juni 1944 und hatte bis zum 19. August 28 von 34 Divisionen zerstört, wodurch die deutsche Frontlinie vollständig zerschlagen worden war. Es war die größte Niederlage in der deutschen Militärgeschichte mit rund 450.000 deutschen Opfern. Nach der Befreiung von Minsk stieß die Rote Armee zu weiteren Siegen in Litauen, Polen und Rumänien vor.
Die Offensive der Roten Armee im Osten sicherte zweifellos den Erfolg der angloamerikanisch-kanadischen Alliierten gegen deutlich geschwächte deutsche Truppen in der Normandie.
D-Day und die Franzosen
Die einzige Rolle der Franzosen bei der „Operation Overlord“, so hatten es die Angloamerikaner beschlossen, bestand darin, zivile Opfer zu stellen. In Vorbereitung ihrer Landung machten britische und amerikanische Bomber französische Städte mit Bahnhöfen und Häfen dem Erdboden gleich und verursachten massive Zerstörungen. Dies forderte Zehntausende zivile Opfer unter den Franzosen. Im Zuge der Operationen in der Normandie wurden zahlreiche Dörfer, der Ort St Lô und die Stadt Caen durch angloamerikanische Flugzeuge zerstört.
Die französischen Streitkräfte unter dem Oberkommando von General Charles de Gaulle wurden absichtlich von der Teilnahme an der „Operation Overlord“ ausgeschlossen. De Gaulle erinnerte sich gegenüber seinem Biographen Alain Peyrefitte daran, wie er informiert wurde:
„Churchill rief mich am 4. Juni nach London wie ein Gutsherr seinen Diener. Und er erzählte mir von den Landungen, die vollkommen ohne französische Einheiten geplant waren. Ich kritisierte ihn dafür, sich von Roosevelt befehligen zu lassen, anstatt ihm den europäischen Willen aufzudrängen. Er brüllte mich daraufhin an: „De Gaulle, Sie müssen verstehen, dass ich, wenn ich die Wahl zwischen Ihnen und Roosevelt habe, immer Roosevelt wählen werde. Wenn wir zwischen den Franzosen und den Amerikanern zu wählen haben, werden wir uns immer für die Amerikaner entscheiden.“
Infolgedessen weigerte sich de Gaulle strikt, an den Feierlichkeiten zum D-Day teilzunehmen.
„Die Landungen vom 6. Juni waren eine angelsächsische Angelegenheit, von der Frankreich ausgeschlossen wurde. Sie waren dazu entschlossen, sich in Frankreich festzusetzen, als wäre es Feindesland! Genauso, wie sie es eben zuvor in Italien getan hatten und im Begriff waren, in Deutschland zu tun!“ […] Und da soll ich ihrer Landung gedenken, die doch nur ein Vorspiel zu einer zweiten Besetzung des Landes war? Nein, nein, zählen Sie nicht auf mich!“
Von der Operation in der Normandie ausgeschlossen, trat im August die Freie Französische Erste Armee der Alliierten Invasion Südfrankreichs bei. Die Amerikaner hatten Pläne gemacht, Frankreich eine Militärregierung aufzuerlegen mittels der AMGOT – Allied Military Government of Occupied Territories. Dies wurde durch De Gaulles Sturheit vermieden. Er befahl der Resistance, unabhängige politische Strukturen in ganz Frankreich aufzubauen. Ihm gelang es, den Oberbefehlshaber der Alliierten, General Eisenhower, dazu zu überreden, zuzulassen, dass die Kräfte des Freien Frankreich und ein Aufstand der Resistance Paris Ende August 1944 befreiten.
D-Day in Hollywood
Frankreich feiert die Landung in der Normandie schon immer als Befreiung. Umfragen zeigen jedoch, dass sich die Ansichten diesbezüglich im Laufe der Jahrzehnte verändert haben. Kurz nach Kriegsende war die öffentliche Meinung geprägt von Dankbarkeit gegenüber den Angloamerikanern. Den endgültigen Sieg im Zweiten Weltkrieg aber schrieb man der Roten Armee zu. Zunehmend verschob sich die öffentliche Meinung jedoch dahin, dass der D-Day die entscheidende Schlacht gewesen sei und dass der Krieg vor allem von den Amerikanern mithilfe der Briten gewonnen wurde. Diese Entwicklung lässt sich zum Großteil auf Hollywood zurückführen.
Der Marshallplan und die französische Verschuldung bildeten nach dem Krieg den Rahmen für Handelsverträge mit finanziellen wie politischen Aspekten. Am 28. Mai 1946 unterzeichneten US-Außenminister James Byrnes und der französische Premierminister Léon Blum einen Vertrag über die Filmbranche. Die Blum-Byrnes-Vereinbarung legte fest, dass französische Kinos nur an vier von 13 Wochen französische Filme zeigen sollten, während die übrigen neun Wochen für die Konkurrenz aus dem Ausland offen sein sollten, in der Praxis waren das vor allem US-amerikanische Produktionen.
Hollywood hatte einen enormen Aufholbedarf, hatte sich auf dem heimischen Mark bereits amortisiert und war deshalb billig. Das hatte zur Folge, dass in der ersten Hälfte des Jahres 1947 340 US-amerikanische und nur 40 französische Filme [in Frankreich] gezeigt wurden. Frankreich erntete finanzielle Vorteile aus diesem Vertrag in Form von Krediten, doch die Flut von Hollywood-Produktionen trug stark zur kulturellen Amerikanisierung bei und beeinflusste sowohl den „way of life“ als auch die historischen Realitäten.
Die Landung in der Normandie war tatsächlich eine dramatische Schlacht, die sich für die Darstellung in vielen Filmen eignete. Die cineastische Konzentration auf den D-Day hat den weit verbreiteten Eindruck gefördert, dass nicht die Sowjetunion, sondern die Vereinigten Staaten Nazi-Deutschland besiegt hätten.
Neuausrichtung des Bündnisses 1 – die Briten
Im Juni 1944 war die Rote Armee auf dem besten Wege, die Wehrmacht entscheidend zu besiegen. Die sowjetische Führung begrüßte die „Operation Overlord“ als hilfreiche zweite Front. Für die angloamerikanischen Strategen war sie zudem eine Möglichkeit, den sowjetischen Vormarsch nach Westen aufzuhalten.
Britische Politiker, insbesondere Churchill, erwogen tatsächlich, nach der Niederlage der Wehrmacht nach Osten gegen die Rote Armee vorzurücken. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die britischen Imperialisten im 19. Jahrhundert Russland als potenzielle Bedrohung für ihre Herrschaft über Indien und ihre weitere Expansion in Zentralasien betrachteten und eine strategische Planung entwickelten, die auf der Vorstellung basierte, Russland sei ihr Hauptfeind auf dem eurasischen Kontinent. Diese Haltung blieb bestehen.
Genau im Moment der deutschen Niederlage im Mai 1945 befahl Churchill dem Gemeinsamen Planungsstab der britischen Streitkräfte, Pläne für einen angloamerikanischen Überraschungsangriff auf die Streitkräfte ihres sowjetischen Verbündeten in Deutschland auszuarbeiten. Die Pläne waren bis 1998 streng geheim und beinhalteten sogar die Bewaffnung besiegter Wehrmachts- und SS-Truppen. Diese Fantasie trug den Codenamen „Operation Unthinkable“, Operation undenkbar. Der Name deckt sich mit der Einschätzung der britischen Generalstabschefs, die dies als ausgeschlossen ablehnten.
Nur drei Monate zuvor, im Februar, hatte Churchill auf dem Treffen in Jalta den sowjetischen Führer Josef Stalin als „einen Freund, dem wir vertrauen können“, gelobt. Umgekehrt galt das sicherlich nicht. Es ist anzunehmen, dass Franklin D. Roosevelt derartige Pläne verworfen hätte, wenn er nicht im April gestorben wäre. Roosevelt schien darauf zu vertrauen, dass die kriegserschöpfte Sowjetunion keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstelle, und er lag damit richtig.
Tatsächlich hielt sich Stalin stets peinlich genau an die Einflusssphärenvereinbarungen mit den westlichen Alliierten. Er weigerte sich, die kommunistische Befreiungsbewegung in Griechenland zu unterstützen – was Tito erzürnte und zu Moskaus Bruch mit Jugoslawien beitrug –, und drängte die starken kommunistischen Parteien in Italien und Frankreich konsequent dazu, sich mit ihren politischen Forderungen zurückzuhalten. Während diese Parteien von der Rechten als gefährliche Bedrohung angesehen wurden, stießen sie bei den Ultralinken auf heftige Ablehnung, weil sie lieber im System blieben, als eine Revolution anzustreben.
Die sowjetischen und russischen Führer wollten wirklich Frieden mit ihren ehemaligen westlichen Verbündeten und hatten nie den Ehrgeiz, den gesamten Kontinent unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie verstanden das Abkommen von Jalta als Erlaubnis, eine defensive Pufferzone durch die Reihe osteuropäischer Staaten zu errichten, die von der Roten Armee von der Naziherrschaft befreit worden waren. Russland hatte mehr als eine verheerende Invasion aus dem Westen erlebt. Es reagierte mit einer repressiven Abwehrhaltung, die die atlantischen Mächte, die sich überall Zugang verschaffen wollten, als potenziell aggressiv betrachtete.
Das Durchgreifen der Sowjetunion in seinen Satellitenstaaten wurde nur verschärft als Reaktion auf Winston Churchills eloquente westliche Kampfansage zehn Monate nach Kriegsende. Der Funke zu einer Dynamik endloser und sinnloser Feindseligkeit war entzündet.
Churchill wurde im Juli 1945 durch den Erdrutschsieg der Labour Party aus dem Amt gefegt, doch sein Einfluss als ehemaliger Kriegsregierungschef blieb in den Vereinigten Staaten gewaltig. Am 6. März 1946 hielt Churchill eine historische Rede an einem kleinen College in Missouri, dem Heimatstaat von Roosevelts unerfahrenem und einflussreichem Nachfolger Harry Truman. Die Rede verfolgte das Ziel, das angloamerikanische Bündnis aus Kriegszeiten zu erneuern – diesmal gegen den damaligen dritten großen Verbündeten: die Sowjetunion. Churchill gab seiner Rede den Titel „The Sinews of Peace“ (etwa: „Die Sehnen des Friedens“).
In Wirklichkeit verkündete er den Kalten Krieg mit dem historischen Satz: „Von Stettin im Baltikum bis Triest an der Adria hat sich ein Eiserner Vorhang auf den Kontinent herabgesenkt.“ Der Eiserne Vorhang begrenzte den sowjetischen Einflussbereich, der im Wesentlichen defensiv und statisch war. Das Problem für Churchill war der Verlust seines Einflusses in diesem Teil der Welt. Ein Vorhang, auch wenn er „eisern“ ist, hat einen defensiven Charakter. Doch Churchills Worte wurden als Warnung vor einer Bedrohung aufgefasst.
„Niemand weiß, was Sowjetrussland und seine kommunistische internationale Organisation in der unmittelbaren Zukunft vorhaben, oder wo, wenn überhaupt, ihre Expansions- und Missionierungstendenzen ihre Grenzen haben.“ (Und das, obwohl Stalin die Kommunistische Internationale am 15. Mai 1943 aufgelöst hatte.) In Amerika verwandelte sich diese Unsicherheit bald in eine allgegenwärtige „kommunistische Bedrohung“, auf die es im Außenministerium, in den Gewerkschaften und in Hollywood Jagd zu machen galt und die ausgerottet werden musste.
Neuausrichtung des Bündnisses 2: die Amerikaner
Die angebliche Notwendigkeit, die sowjetische Bedrohung eizudämmen, war ein Argument für die Planer der US-Regierung, insbesondere für Paul Nitze im Papier 68 des Nationalen Sicherheitsrates, oder NSC-68, die US-Rüstungsindustrie wieder anzukurbeln. Das hatte den politischen Vorteil, die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre endgültig zu beenden.
Nazi-Kollaborateure aus ganz Osteuropa waren in den USA gern gesehen, Intellektuelle wurden zu führenden „Russlandexperten“. Auf diese Weise wurde die Russophobie institutionalisiert, als WASP (White Anglo-Saxon Protestants)-Diplomaten, -Redakteure und -Wissenschaftler alter Schule, die nichts gegen Russen hatten, Neuankömmlingen mit einem altem Groll Platz machten.
Niemandem steckte dieser alte Groll heftiger und hartnäckiger in den Knochen als den ukrainischen Nationalisten aus Galizien im äußersten Westen der Ukraine. Deren Feindseligkeit gegenüber Russland war während der Zeit gefördert worden, als sie von den Habsburgern regiert wurde. Die ukrainischen Ultranationalisten leugneten fanatisch die enge historische Verbindung ihres geteilten Landes zu Russland. Sie wurden in der Ukraine selbst und in der großen nordamerikanischen Diaspora jahrzehntelang von der CIA gefördert.
Ihren Höhepunkt erreichte dieser Vorgang, als der talentierte Komiker Wolodymyr Selenskyj in seiner größten Rolle als Tragiker behauptete, „der Erbe“ der Normandie-Invasion zu sein und den russischen Präsidenten Wladimir Putin als die Reinkarnation von Adolf Hitler beschrieb, der die Welt erobern wolle – eine Übertreibung selbst von Hitlers Ziel, der hauptsächlich Russland erobern wollte. Genau das wollen die USA und Deutschland offenbar heute.
Neuausrichtung des Bündnisses 3: Deutschland
Während die Russen und die Angloamerikaner sich zusammentaten, um bei den Nürnberger Prozessen die obersten Nazi-Anführer zu verurteilen, vollzog sich die Entnazifizierung in den jeweiligen besetzten Zonen sehr unterschiedlich. In der Bundesrepublik, die in den westlichen Zonen errichtet wurde, wurden nur wenige Beamte, Offiziere oder Richter aufgrund ihrer Nazi-Vergangenheit entfernt. Ihre öffentliche Reue kreiste um die Verfolgung der Juden und fand ihren Ausdruck in Ausgleichszahlungen an individuelle Opfer und insbesondere an Israel.
Während unmittelbar nach dem Krieg der Krieg selbst als das größte Verbrechen der Nazis galt, machte sich im Laufe der Jahre im Westen der Eindruck breit, das schlimmste Verbrechen, ja sogar das Hauptziel der Nazi-Herrschaft sei die Judenverfolgung gewesen. Der Holocaust war das unverzeihliche Verbrechen, das die Bundesrepublik mit solcher Emphase einräumte, dass es alle anderen Verbrechen quasi ausradierte. Den Krieg selbst konnten die Deutschen als ihr eigenes Unglück betrachten, weil sie ihn verloren hatten, und sie konnten ihr tiefstes Bedauern auf diesen Verlust beschränken.
Nicht die Deutschen, sondern die amerikanischen Besatzer waren es, die beschlossen, eine neue deutsche Armee – die Bundeswehr – aufzubauen, die in ein Bündnis unter amerikanischer Kontrolle sicher eingebettet sein sollte. Die Deutschen selbst hatten genug vom Militär. Die Amerikaner jedoch wollten ihre Kontrolle über Westeuropa durch die NATO festigen. Der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay – im Zweiten Weltkrieg Churchills wichtigster militärischer Assistent –, brachte die Mission der NATO so auf den Punkt: Aufgabe der NATO sei es „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten“.
Die US-Regierung ließ keine Zeit verstreichen, um geeignete Deutsche für die Umorientierung ihres Bündnisses auszuwählen. Deutsche Experten, die im Auftrag des Dritten Reichs Geheimdienstinformationen gesammelt oder militärische Operationen gegen die Sowjetunion geplant hatten, waren herzlich eingeladen, ihre professionellen Aktivitäten fortzusetzen – fortan im Auftrag der westlichen liberalen Demokratie.
Diesen Wandel personifiziert der Wehrmachtsgeneralmajor Reinhard Gehlen, der zuvor den militärischen Geheimdienst an der Ostfront geleitet hatte. Im Juni 1946 gründeten die US-Besatzungsbehörden in Pullach bei München einen neuen Geheimdienst. Dort wurden ehemalige Mitglieder des Generalstabs der deutschen Armee unter der Leitung Gehlens damit beauftragt, den Ostblock auszuspionieren. In enger Zusammenarbeit mit der CIA warb die Organisation Gehlen Agenten unter antikommunistischen osteuropäischen Emigrantenorganisationen an. Die Organisation beschäftigte Hunderte ehemaliger Nazis. Ihr Beitrag zur westdeutschen Innenpolitik bestand darin, Jagd auf Kommunisten zu machen. Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde verboten. Die Aktivitäten der Organisation Gehlen wurden 1956 der Bundesregierung unterstellt und gingen im Bundesnachrichtendienst auf, den Gehlen bis 1968 leitete.
Kurz gesagt: Jahrzehntelang hat die Bundesrepublik Deutschland unter US-Besatzung die gegen Russland gerichteten Strukturen der Neuorientierung des Bündnisses gefördert. Der alte Vorwand war die Bedrohung durch den Kommunismus. Doch Russland ist nicht mehr kommunistisch. Die Sowjetunion löste sich überraschend auf und wandte sich auf der Suche nach dauerhaftem Frieden dem Westen zu.
Im Rückblick wird sonnenklar, dass die „kommunistische Bedrohung“ tatsächlich nur ein Vorwand für das Streben der Großmächte nach mehr Macht war. Mehr Land, mehr Ressourcen.
Der Naziführer Adolf Hitler betrachtete Russland, genauso wie die angloamerikanischen Liberalen, wie Bergsteiger angeblich Berge betrachten. Warum muss man diesen Berg besteigen? Weil er da ist. Weil er zu groß ist und so viele Ressourcen hat. Und natürlich müssen wir „unsere Werte“ verteidigen. Das ist nichts Neues. Die Dynamik ist fest verankert. Es ist immer noch derselbe alte Krieg, der auf Illusionen, Lügen und künstlich erzeugtem Hass basiert und uns in noch größere Katastrophen führt.
Ist es zu spät, aufzuhören?
Titelbild: Das britische Normandie-Denkmal für den Zweiten Weltkrieg in Ver-su-Mer, Normandie, Frankreich, 6. Juni 2024. (Nummer 10 Downing, Flickr, CC BY-NC-ND 2.0)