„Solange es noch ukrainische Männer in Deutschland gibt, die sich gerne auf der Autobahn aufhalten …“

„Solange es noch ukrainische Männer in Deutschland gibt, die sich gerne auf der Autobahn aufhalten …“

„Solange es noch ukrainische Männer in Deutschland gibt, die sich gerne auf der Autobahn aufhalten …“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Wie macht sich Wissenschaft zum Komplizen des Krieges? Beindruckendes Anschauungsmaterial zu dieser Frage liefert ein aktuelles Gespräch mit dem Politikwissenschaftler und Historiker Herfried Münkler. Ein auf der Plattform „X“ veröffentlichter Videoausschnitt führt dem Betrachter vor Augen, wie nüchtern und zugleich eiskalt bisweilen das Ungeheuerliche in der Attitüde des Biedermannes in den Raum tritt. Münkler sagt etwas, was in der Konsequenz die Entsendung von jungen Männern – gegen ihren Willen – in den Kriegstod bedeutet. Und das in einer Emotionslosigkeit, als ginge es um den Transport von Büroklammern – vom sicheren Stuhl im Aufnahmestudio. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.

Am Wochenende veröffentlichte der Journalist Gabor Steingart ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler zum Krieg in der Ukraine. In einem Videoausschnitt ist Folgendes zu sehen:

Steingart fragt Münkler: „Sollen wir deutsche Bodentruppen in die Ukraine schicken?“

Münkler antwortet: „Das sehe ich vorerst nicht. Solange es noch ukrainische Männer in Deutschland gibt, die sich gerne auf der Autobahn aufhalten und dort eher ihren Heimplatz sehen als an der Front in der Ukraine. Es kann sein, dass man sagt, ok, ukrainische Männer zwischen 20 und 30 kriegen kein Bürgergeld. Wenn das die Voraussetzung dafür ist, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert. Dann muss man sich damit beschäftigen.“

Um die Dimension dieses Gesprächsausschnitts voll zu erfassen, muss man sich das Video anschauen. Es geht nicht nur um die reinen Aussagen Münklers. Die Art und Weise, wie Münkler vorträgt, offenbart den Abgrund.

Zunächst: Münkler sitzt in einem Raum mit einem roten Vorhang im Hintergrund. Vor ihm steht ein Mikrofon, er hat Kopfhörer auf. Der Politikwissenschaftler der Humboldt Universität Berlin trägt eine Brille, einen grauen Bart und ein weißes Hemd mit einer dunklen Weste drüber. Ohne Ton könnte der Betrachter annehmen, hier würde der nette Onkel von nebenan über guten Wein oder ein lesenswertes Buch sprechen. Doch die Bilder täuschen. Auf dem Stuhl sitzt dem Auge nach ein Biedermann. Aus dem Munde aber kommen wohlgesetzte Worte, die dem Ungeheuerlichen mit den Weg ebnen und zudem niedere Instinkte stimulieren.

Unter der „Voraussetzung“, dass „die Ukraine diesen Krieg nicht verliert“, müsste man sich aus Sicht Münklers damit – man beachte das Wort – „beschäftigen“, ob man ukrainischen Männern zwischen 20 und 30, die hier in Deutschland sind, das Bürgergeld streicht. Dass überhaupt solche Gedanken in Betracht und damit in den Raum des Möglichen gezogen werden, offenbart einen Abgrund, der kaum tiefer sein könnte.

Wir sprechen hier von jungen Menschen, die vor einem Krieg geflüchtet sind. Das heißt von Ukrainern, die offensichtlich nicht bereit sind, das Gewehr in die Hand zu nehmen und russische Soldaten zu töten oder selbst getötet zu werden. Diese Menschen durch einen wie auch immer gearteten Druck dazu zu bringen, doch das Gewehr in die Hand zu nehmen, ist monströs. Eine Gesellschaft, die so etwas zulassen würde, wäre keine Gesellschaft, die zu den liberalen Werten einer Demokratie stünde.

Insbesondere hochrangige Vertreter einer solchen Gesellschaft, die aufgrund ihrer Bildung über genügend Wissen verfügen, um intellektuell zu verstehen, was Krieg bedeutet und vor allem auch, wie politisch verlogen Kriege sind, tragen hier Verantwortung. Wenn Münkler als reputabler Professor – scheinbar innerlich unbeteiligt – in dem hier besprochenen Zusammenhang die Formulierung „sich damit beschäftigen“ gebraucht, stößt er bereits mit Worten jene Tür auf, durch die ukrainische Männer hinunter in die Hölle des Krieges geschickt werden können.

Wer die Rahmung des Interviews und die Art und Weise, wie Münkler spricht, miteinbezieht, kann schnell zu dem Schluss kommen: Die harmlose Formulierung „sich beschäftigen“ trägt ihr Ergebnis doch längst in sich. Sprich: Geflüchtete, wehrpflichtige Ukrainer! Geld streichen und ab an die Front!

Die Positionierung Münklers kann als unmenschlich wahrgenommen werden. Wenn man bedenkt, wen die Streichung des Bürgergeldes in erster Linie treffen würde, nämlich: arme Ukrainer. Ihnen würde, wenn sie nicht bettelnd auf den Straßen in Deutschland umherziehen wollten, nichts anderes übrigbleiben, als dem Druck nachzugeben, in ihr Land zurückzugehen. Und dann? Dort würden sie eingesammelt und an die Front verschafft werden. Das Ergebnis: Arme müssen sterben, während Reiche verschont bleiben. Welch ein Regress in der Humanität! Doch damit nicht genug.

Zuvor sagte Münkler: „Solange es noch ukrainische Männer in Deutschland gibt, die sich gerne auf der Autobahn aufhalten und dort eher ihren Heimplatz sehen als an der Front in der Ukraine.“ Wie soll man diese Aussagen sonst bezeichnen, wenn nicht als hetzerisch? Die Formulierung „die sich gerne auf der Autobahn aufhalten“ hinterlässt den Eindruck, als würden Ukrainer – im Gegensatz zu Deutschen (Anständigen?) – nur aus Spaß an der Freude über die Autobahn fahren. Münkler schürt hier das Ressentiment. Niedere Instinkte werden beim Zuschauer geweckt. Neid, Wut, Zwietracht sind die Emotionen.

Für jene Realität, wonach nicht wenige Ukrainer unter großer Angst geflüchtet sind und etwa die Autobahn nutzen, weil sie von A nach B müssen, ist in Münklers Aussage kein Platz. Man stelle sich vor, ein AfD-Politiker hätte das gesagt. Während Münkler seinen Satz über Ukrainer und die Autobahn spricht, sieht es so aus, als husche dem Professor ein von Zynismus geprägtes Lächeln über das Gesicht.

Münkler, davon muss man ausgehen, muss sich der Dimension seiner Aussagen bewusst sein. Hier sitzt nicht irgendwer, der seine Gedanken nicht so recht zu ordnen vermag. Hier spricht keiner, der sich auf die Schnelle kurz vorm Weg zum Stammtisch aus halbseidenen Betrachtungen eine „Meinung“ gebildet hat. Münkler ist ein gestandener Professor. Politikwissenschaft und auch noch Geschichte sind sein Fachgebiet. Münkler muss davon wissen, was das Schüren von Ressentiments in Bezug auf eine Gruppe von Menschen bedeutet. Er muss – zumindest aus den Textbüchern – von den Schrecken des Krieges wissen. Er muss als einer, der als Experte geladen und über den Krieg in der Ukraine spricht, wissen, wie unfassbar viele ukrainische (und russische) Soldaten bisher an der Front getötet, verstümmelt oder schwer traumatisiert wurden.

Man kann niemanden dazu zwingen, Pazifist zu sein. Und es mag gewiss auch Situationen geben, wo der Kampf und die Annahme eines Krieges angebracht sein können. Wenn Münkler in einem Interview sagt, die Aussage „wer verhandelt, schießt nicht“ sei „einer der dümmsten Sätze, die es gibt, weil er falsch ist – von vorne bis hinten“, dann darf der Professor selbstverständlich dieser Auffassung sein.

Genauso sei ihm gestattet, „Europa zur atomaren Aufrüstung“ zu raten. Allgemein ist wissenschaftlicher und intellektueller Dilettantismus ein in unserer Zeit weit verbreitetes Phänomen. Münkler darf also gewiss Standpunkte vertreten, die in ihrer Optimierungswürdigkeit herausfordernd sind. Doch hier geht es nicht einfach nur um unterschiedliche Analyseergebnisse. Hier geht es darum, dass sich etwas Abscheuliches im Gewand des Biedermannes auf der Bühne zeigt und derjenige, der es aufführt, weiß, was er tut. Das macht Münklers Aussagen so schlimm.

Steingart schreibt in seinem Tweet zu dem Video auf der Plattform „X“ übrigens: „Die knappste Ressource der Ukraine ist nicht die Maschine, sondern der Mensch.“ Dass er das ironisch zugespitzt meint – dafür findet sich kein Hinweis. Der Mensch, der im Hinblick auf den Krieg als „Ressource“ angeführt wird: Das rundet das Bild ab.

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Titelbild: Screenshot Garbor Steingart/X.com