CDU-Chef Friedrich Merz hat Sahra Wagenknecht gerade als gleichzeitig „links- und rechtsextrem“ bezeichnet. Das kann als ein Beispiel dienen für das Verhalten einer sich radikalisierenden „Mitte“, die jede Abweichung von der eigenen Ideologie als extremistisch markieren und Kritik außerhalb eines „erlaubten“ Meinungsspektrums stellen möchte. Meiner Meinung nach sind viele CDU-Positionen (unter anderem zu Corona, Kriegsverlängerung, Meinungsfreiheit, Sozialkürzungen etc.) aber erheblich radikaler als die mancher ihrer nun als „extremistisch“ gescholtenen Kritiker. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Der Umgang mit „Extremisten“ ist einfach. Mit extremistischen Positionen muss man sich nicht befassen. Eben weil sie „extrem“ sind, muss man nicht mühevoll die Argumente der Gegenseite entkräften. Mit „Extremisten“ muss man nicht diskutieren, die dürfen sogar mit unfairen Mitteln bekämpft werden, schließlich geht es ja gegen „Extremismus“. Ein großer Einfluss in der gesellschaftlichen Debatte kommt also jenen Personen zu, die das Urteil „extremistisch“ mittels Medienmacht verkünden und aufrechterhalten können.
Gegenüber den Kritikern der Corona-Politik wurde die Taktik, Äußerungen als „extremistisch“ zu markieren, auf die Spitze getrieben, um die vielen, auch seriösen Argumente gegen Lockdowns, Demonstrationsverbote, Meinungsunterdrückung, geschlossene Schulen, maskierte Kinder, einsam versterbende Alte und vieles mehr gar nicht erst diskutieren zu müssen.
Es ist aber festzuhalten: Manche der Politiker und Journalisten, die ihre Kritiker momentan mithilfe von Medienmacht als extremistisch bezeichnen, verfolgen in meinen Augen eigentlich die radikaleren Positionen. Die unangemessene und in ihrer zerstörerischen Wirkung sowie in ihrer gnadenlosen Durchsetzung als extremistisch zu bezeichnende Corona-Politik wurde bereits genannt. Meiner Meinung nach kann auch die aktuelle militaristische „Zeitenwende“ als eine extremistische Politik bezeichnet werden, die Form ihrer Umsetzung gar als Schocktherapie. Einen Wirtschaftskrieg gegen den wichtigsten Energielieferanten Russland vom Zaun zu brechen, genau wissend, dass das viele Bürger hart treffen wird, empfinde ich ebenfalls als extremistisch. Als radikal empfinde ich auch die soziale Kälte, mit der im Namen von Klimaschutz vor allem die benachteiligten Bürger nochmals benachteiligt werden könnten.
„Ihr seid die Extremisten!“ – „Nein: ihr!“
Kurz: Kriegsverlängerung, das Risiko der Entstehung eines direkten Krieges Deutschlands gegen Russland, die Aufrüstung und die darauf folgenden sozialen Kürzungen, die Militarisierung der Gedanken und die dafür nötige Meinungsmache und Zensur, die neuen Tendenzen zur Überwachung, der unterlassene Schutz der Bürger unter anderem vor multinationalen Immobilienkonzernen, das unterlassene Pochen auf die gesellschaftliche Verantwortung von Superreichen, die unterlassene Corona-Aufarbeitung, die praktizierte „Hasssprache von oben“, die inakzeptablen und nicht korrigierten sozialen Ungleichheiten – all das kann in meinen Augen viel eher als radikale Politik bezeichnet werden als die Kritik daran.
Damit will ich aber nicht sagen, dass über diese Politik nicht diskutiert werden „darf“. Ich denke keineswegs, dass sich nun beide Seiten immerfort als extremistisch bezeichnen sollen, und die Argumente der jeweiligen Gegenseite dadurch entwerten sollten. Im Gegenteil: Die Einschränkung des Debattenraums durch den Zaun „extremistisch“ muss wieder zurückgedrängt werden, darum sollte man sich nicht in Form von Retourkutschen ähnlich verhalten und nun etwa Äußerungen der Ampel-Parteien pauschal als außerhalb des „erlaubten“ Debattenraums bezeichnen.
Alle Argumente müssen genannt, gehört und abgewogen werden (auch die der Bundesregierung), die Abwehr-Vokabel „extremistisch“ muss wieder eindeutig über-harten Positionen vorbehalten werden. Es müssen allerdings auch dringend die unterschiedlichen Möglichkeiten im Meinungskampf beachtet werden: Politiker und Journalisten großer Medien sind erheblich im Vorteil gegenüber kritischen Bürgern, daraus erwachsen andere Pflichten.
Hier soll auch nicht behauptet werden, dass es keinen politischen Extremismus gäbe oder dass das Phänomen zu vernachlässigen sei. Klar feststellen muss man aber, dass das BSW und Wagenknecht meiner Meinung nach keinesfalls als extremistisch zu bezeichnen sind und dass Merz und die CDU in keiner glaubwürdigen Position sind, um solche Aussagen gegenüber dem BSW zu treffen.
Das (schiefe) Bild des „Geisterfahrers“
Bei manchen Journalisten und Politikern, die die militaristische Schocktherapie sowie die Tabubrüche im Meinungskampf und die Verrohungen der Sprache in den letzten Jahren mit vorangetrieben haben, und die gleichzeitig in härtester Sprache ihre pazifistischen Kritiker als Extremisten abtun wollen, drängt sich mir das Bild eines Geisterfahrers auf: Obwohl der sich radikaler als alle anderen verhält, wähnt er sich in der richtigen Richtung – nach dem Motto: „Alles Extremisten außer mir!“ Das Bild stimmt allerdings wiederum auch nicht, weil der Geisterfahrer auf der Autobahn ein Einzelkämpfer ist, während sich die „radikale Mitte“ wohl selber in der Mehrheit sieht und starke Strukturen der Meinungsmache zur Verfügung hat und diese auch skrupellos nutzt. Dazu kommt, dass man im Gegensatz zum Geisterfahrer bei Teilen der CDU und der Bundesregierung den Eindruck gewinnt, dass die übertriebene Wahrnehmung von „Extremisten“ keiner sensorischen Störung geschuldet ist, sondern dass das mindestens teilweise auch eine bewusst eingesetzte Strategie der Abwehr unliebsamer Debatten ist.
Die Äußerungen von Friedrich Merz lenken den Blick noch auf einen anderen Punkt: „Die Ampel muss weg!“ – ja, das stimmt. Doch was kommt dann? Eine von der CDU dominierte Regierung könnte möglicherweise noch problematischer sein, wie wir hier beschrieben haben. Hier folgt zum Abschluss ein Video von den aktuellen Äußerungen von Friedrich Merz zu Sahra Wagenknecht in der ARD:
„Für Frau Wagenknecht gilt ja beides: Sie ist in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem“ – CDU-Chef @_FriedrichMerz schließt im #Brennpunkt zur Europawahl eine Zusammenarbeit mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht in den Ländern aus. pic.twitter.com/1epKxeuPRM
— Bericht aus Berlin (@ARD_BaB) June 10, 2024
Titelbild: Petair / Shutterstock