Mit Stand 5. Juni spricht UN-OCHA, das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, von weit über 36.000 von der israelischen Armee getöteten Palästinensern, davon die Mehrheit Frauen und Kinder. Über 10.000 Zivilisten gelten zudem als unter den Trümmern vermisst. 1,1 Millionen Einwohner Gazas, also über die Hälfte der Gesamtbevölkerung, sind durch das israelische Vorgehen laut UN-Angaben direkt vom Hungertod bedroht (IPC-Phase 5). Spanien schloss sich vor diesem Hintergrund als zweites EU-Land dem von Südafrika angestrengten Völkermordverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen Israel an. Auch alle großen renommierten Menschenrechtsorganisationen sprechen von belegten Völkerrechtsverbrechen Israels im Gazastreifen. Doch all dies scheint keine Auswirkungen auf die entsprechende Bewertung der Bundesregierung zu haben. Auf Nachfrage der NachDenkSeiten betonte Regierungssprecher Steffen Hebestreit erneut, dass Kanzler Olaf Scholz – wider allen Fakten – davon überzeugt sei, dass Israel weiterhin alles tue, um sich an das Völkerrecht zu halten. Von Florian Warweg.
Seit acht Monaten überzieht die israelische Armee die palästinensische Zivilbevölkerung mit rücksichtslosen Vergeltungsschlägen, die vor nichts und niemandem Halt machen. Die Granaten, Raketen, Bomben und MG-Salven der anhaltenden Luft- und Bodenoffensive töteten bis zum 5. Juni dieses Jahres allein 196 UN-Mitarbeiter von insgesamt fünf UN-Institutionen (192 UNRWA, 1 WHO, 1 UNDP, 1 UNOPS, 1UNDSS), 493 Mitarbeiter im Gesundheitswesen und 147 Journalisten. Alles Vertreter von Berufsgruppen, die als eigentlich besonders vom Völkerrecht geschützt gelten. Die Zahl der von der israelischen Armee innerhalb der ersten vier Monate getöteten Kinder übersteigt signifikant die Gesamtzahl aller in den letzten vier Jahren in allen Konflikten weltweit getöteten Kinder.
Die eklatante Doppelmoral hinter der Aussage des Regierungssprechers („Der Bundeskanzler ist davon überzeugt, dass Israel alles tut, um sich an das Völkerrecht zu halten“) angesichts der aufgeführten Zahlen wird nochmal deutlicher, wenn man sich vorstellen würde, solche Verhältnisse wie in Gaza würden in der Ukraine herrschen. Würde die Bundesregierung auch darauf beharren, dass Russland Völkerrecht einhält, wenn seit Monaten wegen der Zerstörung der gesamten zivilen Energieinfrastruktur ein kompletter Blackout in der gesamten Ukraine herrschen würde, systematisch Gesundheitseinrichtungen (155), Schulen (516 von 563 Schulen gelten als beschädigt oder zerstört, davon 55 Prozent als von der IDF gezielt beschossen), Universitäten und Wohngebäude (60 Prozent) ins Visier genommen würden und die Mehrzahl der Todesopfer Frauen und Kinder wären? Würde die Bundesregierung auch schweigen, wenn die russischen Streitkräfte eine je dreistellige Anzahl an Journalisten, humanitären Helfern und UN-Mitarbeitern getötet hätten sowie weit über die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung unter einer Hungersnot (ICP-Phase 5 „katastrophales Niveau der Ernährungsunsicherheit“) leiden würde? Die Antwort auf diese Frage ist evident. Völkerrechtliche Maßstäbe richten sich aber außerhalb Deutschlands nicht nach politischen Präferenzen oder einer vorgeblichen „Staatsräson“:
Vor diesem Hintergrund hat sich im Juni nach Irland auch Spanien als zweites EU-Land dem von Südafrika angestrengten Völkermordverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen Israel wegen des militärischen Vorgehens im Gazastreifen angeschlossen.
Es handele sich, so die Begründung des spanischen Außenministers José Manuel Albares, „um einen großangelegten Krieg, der nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheidet“. Außerdem verweist die spanische Regierung darauf, dass Israel die vom IGH angeordneten Maßnahmen völlig ignoriert. Ebenfalls ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht.
Doch die Bundesregierung unter Olaf Scholz verschließt im Namen einer vorgeblichen „Staatsräson“ vor all diesen Zahlen und Fakten – auch nach acht Monaten und Abertausenden getöteten Kindern und Frauen – die Augen, isoliert sich international immer mehr und verliert massiv an Glaubwürdigkeit und Reputation, selbst bei einst engen Partnern in Europa, Afrika, Nahost und Lateinamerika. Durch ihre uneingeschränkte politische, militärische und diplomatische Unterstützung für Israels Vorgehen in Gaza wird die Bundesregierung zudem immer mehr zum Mittäter bei einem militärischen Agieren, welches die Mehrzahl der internationalen Staatengemeinschaft mittlerweile als Genozid bewertet.
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 5. Juni 2024
Frage Warweg
Herr Hebestreit, am 15. Mai hat Ihr Stellvertreter Herr Büchner hier noch erklärt, dass der Kanzler vollumfänglich davon ausgehe, dass sich Israel bei seinem Vorgehen in Gaza an das Völkerrecht halte. Inzwischen ist fast ein Monat vergangen. Bleibt der Kanzler nach wie vor bei der Aussage, dass er vollumfänglich daran glaubt, dass sich Israel in Gaza an das Völkerrecht hält?
Regierungssprecher Hebestreit
Der Bundeskanzler ist davon überzeugt, dass Israel alles tut, um sich an das Völkerrecht zu halten. Es gibt Vorfälle, die kritisierbar sind. Sie werden auch in Israel gerade untersucht, unter anderem durch eine Untersuchung, die auch uns hier in der vergangenen Woche beschäftigt hat. Die Ergebnisse muss man abwarten.
In Ihrer Frage geht es, denke ich, um die grundsätzliche Haltung. Das sehen wir weiterhin so, ja.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 05.06.2024
Für Kanzler Scholz hält sich Israel in Gaza noch immer „vollumfänglich“ an das Völkerrecht
Weltweiter Ansehensverlust der deutschen Diplomatie und die Vogel-Strauß-Taktik des Auswärtigen Amts
Militärische und politische Unterstützung Israels ist für Bundesregierung „Einsatz für Völkerrecht“