Stimmen aus Russland: Eurasiens „ferner Westen“ muss sich entscheiden

Stimmen aus Russland: Eurasiens „ferner Westen“ muss sich entscheiden

Stimmen aus Russland: Eurasiens „ferner Westen“ muss sich entscheiden

Ein Artikel von Dmitri Trenin

Der renommierte russische Politologe Dmitri Trenin wirft in seinem aktuellen Beitrag einen Blick auf den wirtschaftlichen Aufstieg Eurasiens und die Zusammenarbeit der Länder auf dem Eurasischen Kontinent. Dabei erinnert er auch an die nicht genutzten Möglichkeiten der USA, „ein echtes multipolares System zu organisieren“. Aus seiner Sicht gewinnt der eurasische Raum zunehmend an Stabilität und Sicherheit – vorerst ohne das US-dominierte Europa. Ein Beitrag von Dmitri Trenin, übersetzt von Éva Péli.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Noch vor zwei Jahrzehnten wurde der große eurasische Kontinent zum ersten Mal von einer Macht beherrscht, die selbst nicht eurasisch war. Im Westen des Kontinents befand sich die NATO unter der Führung der Vereinigten Staaten gerade in einem Big-Bang-Expansionsprozess und nahm sieben neue Mitglieder zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria auf. Die von den USA angeregten und unterstützten farbigen Revolutionen, zunächst in Georgien und dann in der Ukraine, wiesen auf die nächsten Kandidaten für einen Beitritt zum Bündnis hin. Im Süden Eurasiens herrschten die Vereinigten Staaten nach der Invasion im Irak von Bagdad aus über die Region. Nach dem Sieg über die afghanischen Taliban hatten sich die US-Streitkräfte auch in Kabul verschanzt, unterstützt von Militärstützpunkten in den benachbarten zentralasiatischen Staaten Usbekistan und Kirgisistan.

Von den führenden Mächten Eurasiens war China dabei, sich erfolgreich in die Weltwirtschaft zu integrieren, in der der Washingtoner Konsens immer noch Gesetz war. Indien war dabei, die letzten Reste des „fabianischen Sozialismus“ abzustreifen und sich der Globalisierung zu öffnen, was logischerweise die Beziehungen zu den USA in den Vordergrund stellte. Und Russland, das sich von dem wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Zusammenbruch nach dem Untergang der Sowjetunion erholte, hoffte immer noch, strategische Partnerschaften mit den Vereinigten Staaten und der NATO aufzubauen. Die US-amerikanische Macht war auf ihrem Höhepunkt; Washington hatte buchstäblich die Welt in der Hand.

Leider haben die Vereinigten Staaten, die einzige Macht in der Weltgeschichte, der es gelungen ist, die Position eines globalen Hegemonen zu erlangen, während sie von keinem anderen wichtigen Akteur herausgefordert wurde, ihre starke Hand – und ihre gepriesene „Soft Power“ – in miserabler Weise missbraucht. Anstatt sich auf den Weg zu machen, ein echtes multipolares System zu organisieren, das auf der gegenseitigen Anerkennung der Kerninteressen jeder Nation beruht und in dem man zumindest anfangs als primus inter pares (Erster unter Gleichen – Anm. Red.) fungiert (was Franklin D. Roosevelts Methode gewesen wäre), ging man dazu über, seine exklusive und umfassende Dominanz auszubauen. Washington drängte Russland mit jedem Schritt der schleichenden NATO-Osterweiterung mehr und mehr zurück; es machte die Rüstungskontrolle mit Moskau und das Atomabkommen mit Teheran zunichte, und es provozierte China weiterhin ständig wegen Taiwan – während es gleichzeitig einen Handels- und Technologiekrieg gegen Peking anzettelte, um seinen wichtigsten wirtschaftlichen Konkurrenten zu lähmen.

In der Zwischenzeit sind Russland, Indien und China – die drei führenden nichtwestlichen Länder Eurasiens – sowie viele andere wichtige unabhängige Akteure des Kontinents wirtschaftlich weiter aufgestiegen und haben ihre Zusammenarbeit konsolidiert. Gemessen an der Kaufkraft stehen sie derzeit an vierter, dritter beziehungsweise erster Stelle der größten Volkswirtschaften der Welt. Seit etwa einem Jahrzehnt fördert China auch seine massive „Belt and Road“-Initiative. Indien begann, seine Rolle in der Welt zu erkunden und dann auszubauen, und Russland baute mit vier anderen ehemaligen Sowjetrepubliken eine Eurasische Wirtschaftsunion auf.

Moskau, Peking und Delhi wurden zusammen mit Brasilia zu den Gründungsmitgliedern der BRICS. In diesem Jahr werden auf dem BRICS-Gipfel im russischen Kasan zum ersten Mal die Staats- und Regierungschefs des Iran, Ägyptens, Äthiopiens, Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate anwesend sein. Eine weitere wichtige eurasische Institution ist die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Sie begann als Forum für China, Russland und die zentralasiatischen Staaten, inzwischen umfasst sie aber auch Indien, Pakistan und den Iran, und Belarus soll demnächst ebenfalls aufgenommen werden. Eine Reihe anderer eurasischer Länder, von der Türkei bis Thailand und von den Malediven bis zur Mongolei, haben ihre Absicht geäußert, entweder BRICS oder SOZ beizutreten.

Um diesem Trend unter den Mitgliedern dessen, was wir zunehmend als Weltmehrheit bezeichnen, entgegenzuwirken, hat Washington das Profil der NATO im indopazifischen Raum geschärft, seine bilateralen und trilateralen Bündnisse aus der Zeit des Kalten Krieges im westlichen Pazifik gestärkt und ein neues, AUKUS, im Südpazifik gegründet. Die US-Amerikaner versuchen auch, Indien als zentrale Großmacht innerhalb der „Quad“-Gruppe zu fördern. All diese vielfältigen Vereinbarungen werden von den Vereinigten Staaten dominiert und zielen darauf ab, Washingtons designierte Gegner einzudämmen und abzuschrecken: China, Russland, Iran und Nordkorea – mit dem übergeordneten Ziel, die hegemoniale Position der USA zu verteidigen.

Im Gegensatz dazu werden weder die BRICS noch die SOZ von einer einzigen Macht oder einem Tandem oder Triumvirat von Nationen dominiert. Die jüngste Expansion der BRICS deutet auch darauf hin, dass sie nicht danach streben, eine Version der G-7 des Westens zu werden, also eine elitäre Lenkungsgruppe oder ein Direktorium für die nichtwestliche Welt. Der SOZ gehören nicht weniger als vier Atommächte an, von denen jede eine eindeutig unabhängige Außenpolitik verfolgt, die sich von einer bestimmten Art des strategischen Denkens leiten lässt und einer Reihe klar definierter nationaler Interessen dient. Die diplomatische Kultur der BRICS und der SOZ zeichnet sich durch souveräne Gleichheit, Dialog, Achtung der nationalen Interessen und zivilisatorischen Werte sowie Konsens aus.

Weder die BRICS noch die SOZ sind offen anti-US-amerikanisch oder antiwestlich: Ihr Hauptaugenmerk liegt eher auf der internen als auf der externen Politik, und sie haben eine Menge Arbeit vor sich. Natürlich bestehen Russland, China, Indien, Iran und andere darauf, ihre Geschäfte ohne Einmischung von außen zu führen, ganz zu schweigen von einem fremden Diktat. Sie wollen Eurasien nicht beherrschen: Sie leben dort, es ist ihre Heimat – anders als die ewig rastlose „unentbehrliche Nation“ Tausende von Kilometern entfernt. In der Ukraine ging es Russland in erster Linie um die nationale Sicherheit und nicht um die „Wiederauferstehung eines Imperiums“. In Taiwan hat sich Peking für eine nationale Wiedervereinigung nach dem Vorbild Hongkongs eingesetzt, was ebenfalls weit entfernt ist von einem imperialen Plan.

Dennoch haben die US-Amerikaner guten Grund zu befürchten, dass Russland in der Ukraine die Oberhand gewinnt. Dies wäre ein schwerer Schlag für ihre Führungsposition innerhalb des westlichen Blocks und auch für die verbleibende hegemoniale Rolle in anderen Teilen der Welt. Washington würde dies nicht auf die leichte Schulter nehmen und alles in seiner Macht Stehende tun, um dies zu verhindern. Abgesehen von den 16.000 Sanktionen, die bisher gegen Russland verhängt wurden, und den Hunderten von Milliarden US-Dollar, die für den Krieg in der Ukraine ausgegeben wurden, werden die Vereinigten Staaten und ihre Freunde versuchen, Keile zwischen die BRICS/SOZ-Staaten zu treiben und die innenpolitischen Positionen der Führer, die ihnen nicht gefallen, zu untergraben – etwas, womit sie Erfahrung haben und wofür sie gut gerüstet sind.

Ein offensichtliches Thema, das die USA ausnutzen wollen, sind die chinesisch-indischen Beziehungen, die ihnen die Möglichkeit geben könnten, Delhi gegen Peking aufzubringen und die indisch-russischen Beziehungen zu schwächen. Bislang ist ihnen das nicht gelungen: Die Inder brauchen ausländische Investitionen und Spitzentechnologie, um das enorme Potenzial ihres Landes voll auszuschöpfen, und sie sehen ihr Land als Großmacht und nicht als Instrument in den Machenschaften anderer. Da das indische Selbstverständnis und die Selbstachtung schnell zunehmen, ist es schwer vorstellbar, dass Delhi den Wünschen Washingtons nachgeben wird.

Die Länder Eurasiens haben wenig zu befürchten, wenn Russland seine Ziele in der Ukraine erreicht. Der im Entstehen begriffene gemeinsame Sicherheitsraum innerhalb der SOZ würde den Kontinent – vorerst ohne Europa – weitaus stabiler machen, sei es im Hinblick auf die strategische Stabilität in den Beziehungen zwischen den Großmächten, auf regionale Sicherheitssysteme (wie das von Russland vorgeschlagene in der Golfregion) oder auf die Risiken des Terrorismus. Neue Finanzvereinbarungen innerhalb der BRICS-Gruppe würden die dollarfreien Transaktionen zwischen den Mitgliedern sicherer machen; eine neue eurasische Logistik würde für bessere Verbindungen innerhalb des größten und vielfältigsten Kontinents der Welt sorgen. Letztendlich müssten sich die Länder des EU-Europas – der ferne Westen Eurasiens, wenn man so will – entscheiden, ob sie in der Umlaufbahn der USA bleiben wollen, während deren Macht weiter schrumpft, oder ob sie sich nach Osten in eine riesige und pulsierende neue Welt nebenan ausstrecken wollen.

Über den Autor: Dmitri Trenin ist Forschungsprofessor an der Higher School of Economics (HSE University) in Moskau und leitender Forschungsbeauftragter am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen (IMEMO).

Titelbild: Shutterstock / Anton Balazh

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!